Sonntag, 28. September, 09.05 Uhr, Pension Seemöwe, Wenningstedt

Hinter der schmalen Theke, die als Rezeption dient, steht eine junge Frau in einem dicken

»Guten Morgen«, begrüßt Silja die junge Frau, »und danke, dass Sie uns hier unterstützen.«

»Keine Ursache«, erwidert sie fast atemlos. »Ich find’s total spannend, dass Sie hier sind.« Ihre sehr hellblauen Augen wandern bewundernd von Bastian zu Silja und wieder zurück. »Ich wollte eigentlich selbst nach dem Abi zur Kripo, wissen Sie, aber leider bin ich durch die Aufnahmeprüfung gefallen. Na ja, war halt Pech. Das hier ist aber nur ein Übergangsjob, bis ich mich noch mal bewerben kann. Vielleicht werden wir dann sogar Kollegen.«

»Da können wir Ihnen nur Glück für die zweite Bewerbung wünschen«, erwidert Silja diplomatisch, während sie die Hand ausstreckt und den Schlüssel präsentiert, den sie bei dem toten Konrad Otze gefunden haben. »Wir würden gern hochgehen und uns das Zimmer ansehen.«

»Ja klar. Sie finden das Seepferdchen außen auf der Tür. Wir haben ja nur sieben Zimmer, da brauchen wir keine Nummern, es reichen Symbole. Muschel, Strandkorb, Sonne, Surfboard, Krabbe, Kutter und eben auch Seepferdchen. Ist irgendwie persönlicher.« Sie begleitet ihre Erklärung mit einem unsicheren Lächeln. Als Bastian nur zerstreut nickt, fragt sie nach kurzem Zögern: »Ich darf nicht vielleicht zugucken, wenn Sie das Zimmer durchsuchen?«

»No way«, antwortet der Kommissar schärfer als nötig, was ihm einen tadelnden Blick von Silja einträgt.

Während beide die Treppe hinaufgehen, zischt er: »Was willst du? Wir brauchen ganz bestimmt keine Praktikantin,

»Sie ist möglicherweise eine wichtige Zeugin, es wäre vielleicht schlauer, netter zu sein.«

»Dann geh halt wieder runter und frag sie, ob sie irgendwas Wichtiges beobachtet hat. Aber soweit ich weiß, war sie gestern Nachmittag sowieso nicht hier.«

»Aber unter der Woche jeden Vormittag.«

»Ist ja gut, ich entschuldige mich nachher. Wo ist denn jetzt das Seepferdchen? Ach, da hinten.«

Silja und Bastian streifen die dünnen Handschuhe über, dann steckt die Kommissarin den Schlüssel ins Schloss, entriegelt die Tür und stößt sie mit einem Ruck auf. In dem Raum riecht es muffig, obwohl das Bett ordentlich gemacht ist und auch im Bad alles gerichtet wurde.

»Mist«, entfährt es Bastian. »Das Housekeeping war offenbar schon durch, als er zum Essen hinuntergegangen ist.«

»Otze wollte wegen des Surf Cups noch eine Woche in der Pension bleiben, deshalb haben sie wahrscheinlich ganz normal am Vormittag sauber gemacht. Bei allen anderen Zimmern hat das Housekeeping bestimmt gewartet, bis sie freigezogen waren«, erläutert Silja. Sie blickt sich in dem schmalen Raum mit den schrägen Wänden um und knipst das Licht an. »Ganz schön dunkel, so ein Mansardenzimmer. Aber schau mal, da auf dem Nachttisch liegt Otzes Handy. Wenigstens etwas. Es hängt am Ladekabel, wahrscheinlich war es leer, und er hat es deshalb nicht mit nach unten zum Abschiedsessen genommen«, fügt sie hinzu, während sie das Handy mitsamt Kabel vorsichtig in einen Beweismittelbeutel gleiten lässt.

Doch Bastian scheint nur mit halbem Ohr hinzuhören. Er

»Ich glaub’s jetzt nicht, aber der schreibt seine Verrisse immer noch mit der Hand.«

»Schrieb«, korrigiert ihn Silja, während sie Otzes Kleiderschrank öffnet und einen ersten Blick hineinwirft. »Mich wundert das, ehrlich gesagt, weniger. Wer selbst auf Sylt in maßgeschneiderten Anzügen herumläuft, benutzt wahrscheinlich auch einen Füllfederhalter und personalisiertes Briefpapier.«

»Jaja, schon möglich«, antwortet Bastian unkonzentriert. Er hebt eines der Blätter hoch und beginnt vorzulesen. »Die markerschütternde Banalität des Gesagten korreliert auf fast schon beängstigende Weise mit der Simplizität von Syntax und Semantik. Rückschlüsse auf die Komplexität des Gehirns der Autorin drängen sich auf.« Stirnrunzelnd blickt er sich zu Silja um. »Das ist schon ziemlich beleidigend, oder?«

»Beleidigend? Machst du Witze? Das ist absolut vernichtend. Steht da auch, wer gemeint ist?«

Bastian schüttelt den Kopf, doch dann kommt er auf die Idee, das Blatt umzudrehen. »Saskia Grothe. Kein Wunder, dass die stinkig ist«, murmelt er und greift schon nach dem nächsten Blatt. »Und hör mal dieses hier. Es geht um Fred Hübner. In den letzten Jahren ist es ihm gelungen, sich in jede, aber auch wirklich jede unappetitliche Geschichte hineinzudrängen, die sich auf der beliebten Ferieninsel ereignet hat. Skrupellos hat er noch die tragischsten Verbrechen für seine ureigenste Gewinnmacherei ausgeschlachtet. Das ist nicht nur gegen jede journalistische Berufsehre, sondern vor allem moralisch allerunterste Schublade

»Sehe ich auch so.« Bastian lässt das Blatt sinken. »Glaubst du, es könnte sein, dass irgendjemand das hier zu Gesicht bekommen hat?«

Silja überlegt kurz, dann antwortet sie: »Shirin Yildirim vermutlich. Schließlich hat sie eine Nacht mit Otze verbracht, und zwar auf seinem Zimmer, wenn ich mich nicht irre.«

»Das heißt natürlich noch nicht, dass sie hier herumgestöbert hat.«

»Nein.« Silja zuckt mit den Schultern. »Aber ausgeschlossen ist es nicht. Und sie könnte durchaus über ihre Entdeckung geredet haben, jedenfalls nachdem Otze sie so plötzlich fallengelassen hat.«

»Enttäuschte Liebe und Rachegelüste, da haben wir sie wieder, die Spitzenreiter unter den Mordmotiven«, sagt Bastian, während er die Papiere weiter durchsieht.

»Gibt’s noch mehr Verrisse, oder war das alles?«

»Hier ist noch ein Entwurf, aber so ganz schlau werde ich daraus nicht.«

»Zeig mal.« Silja schließt den Kleiderschrank, tritt zu Bastian ans Fenster und nimmt ihm das Blatt aus der Hand. Einzelne Sätze stehen quer über das Blatt verteilt, nur verbunden durch wenige hingekritzelte Pfeile. »Erotische Phantasien, die auf ein nur noch peinlich bedürftiges Begehren schließen lassen«, liest Silja. »Leere Floskeln ersetzen die prallen Metaphern früherer Werke. Ein Ausnahmetalent, das sich selbst überlebt hat. Oje, das klingt ganz nach einer weiteren Abrechnung.«

»Und was glaubst du, wem die gilt? Ein Name steht hier nämlich nicht.«

Silja muss nicht lange nachdenken. »Damit kann

»Was fast schon ein Wunder ist, denn eigentlich fühlt sich heutzutage doch jeder halbwegs Prominente automatisch zum Autor berufen«, fügt Bastian hinzu.

Das kommt bei der bestimmt auch noch, will Silja gerade sagen, als etwas unten auf der Straße ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie beugt sich über den schmalen Schreibtisch und blickt durch das Erkerfenster nach unten. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Riegel von niedrigen Reihenhäusern, die hinter üppig bewachsenen Vorgärten fast verschwinden. Ein schlaksiger Typ in klobigen Sneakers und einer dunklen Jacke steht vor einem der Häuser. Er trägt eine dicke Strickmütze, hat den Kopf in den Nacken gelegt und schaut konzentriert zu dem Fenster von Konrad Otzes Zimmer hinauf.

Silja wendet dem Mann auf der Straße demonstrativ den Rücken zu und sagt leise: »Guck jetzt bitte nicht aus dem Fenster, denn wir sind von unten gut zu erkennen.« Dann zieht sie Bastian ins Innere des Raums und macht das Deckenlicht aus. »So, jetzt kannst du nachsehen, aber vorsichtig. Steht da unten immer noch dieser Kerl? Der beobachtet uns doch.«

»Allerdings.« Mit wenigen Schritten ist Bastian an der Tür. »Komm mit, den schnappen wir uns.«

Als die beiden Ermittler die Treppe hinunterpoltern, blickt Zoe Blücher ihnen aus großen Augen hinterher.

»Dieser Idiot hätte dich fast erwischt«, schimpft Bastian und schickt dem Wagen einen bösen Blick hinterher.

Doch Silja geht gar nicht darauf ein. »Er ist weg«, schimpft sie.

»Klar, so schnell, wie der war.«

»Ich meine den Mann, der uns beobachtet hat.«

»Das kann doch gar nicht sein.« Bastian mustert die Straße in beide Richtungen. »Da hinten in dem Vorgarten, siehst du?«, ruft er hastig und rennt los. Sekunden später entdeckt auch Silja den dunklen Schatten hinter einem hüfthohen Friesenwall, der mit Kartoffelrosen bewachsen ist. Da Bastian dem Fremden den Weg von vorn abschneidet, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zur Haustür zu flüchten und panisch auf den Klingelknopf zu drücken. Doch als niemand öffnet, steckt er fest. Es gibt ein kleines Gerangel, dann zieht Bastian den dunkel Gekleideten von der Tür weg und aus dem Vorgarten heraus.

Mit festem Griff führt er ihn zurück zur Pension Seemöwe. Dort ist inzwischen die Pforte aufgegangen, weil Zoe

Als Silja und Bastian mit ihrem Fang vor der jungen Frau stehen, reagiert sie allerdings ganz anders, als die beiden Kommissare erwartet hätten. »Herr Gastmann?«, fragt sie verblüfft. »Haben Sie was vergessen?«

Silja tritt einen Schritt zurück. »Sie sind Enard Gastmann?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, erwidert der dunkel Gekleidete mürrisch und versucht, sich aus Bastians Griff zu lösen.

»Ich habe gestern Abend und heute früh x-mal versucht, Sie anzurufen, aber Sie sind nie rangegangen«, erklärt Silja vorwurfsvoll.

»Kein Wunder. Ich habe offenbar mein Handy hier liegenlassen, jedenfalls hoffe ich das. Ist es gefunden worden?«, wendet sich Gastmann an Zoe Blücher, ohne die Kommissare eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Keine Ahnung«, sagt die junge Frau entschuldigend. »Wir können aber gleich mal in Ihrem Zimmer nachsehen. Ich glaube, das haben wir noch nicht wieder hergerichtet. Es ist erst ab morgen oder übermorgen vermietet.«

»Ach super, dann liegt es sicher noch auf dem Nachttisch.« Die Erleichterung hält sich nur kurz in Gastmanns Stimme. Als er sich Bastian zuwendet und weiterredet, ist sein Ton umso aggressiver. »Und was bitte sollte dieser Überfall eben?«

»Wir sind von der Kriminalpolizei Westerland. Sie haben sich außerordentlich verdächtig benommen.«

»Weil ich in ein beleuchtetes Fenster geschaut habe?«

»Wussten Sie, wer hinter diesem Fenster wohnt oder gewohnt hat?«

»Lassen Sie uns erst mal reingehen«, schlägt Bastian in etwas versöhnlicherem Tonfall vor. »Und Frau Blücher kann dann auch gleich nachschauen, ob Ihr Handy noch oben ist.«

Nachdem die vier im Foyer der Pension angekommen sind, macht sich die Pensionsangestellte sichtlich widerstrebend auf den Weg nach oben. Ihr ist deutlich anzusehen, dass sie nur allzu gern den Fortgang der Unterhaltung verfolgt hätte.

»Ich komme mit«, erklärt Silja und zwinkert Bastian zu. »Dann kann ich gleich noch einen Blick in Herrn Gastmanns Zimmer werfen.«

»Was soll das denn nun wieder?«, fragt Enard Gastmann aufgebracht. Er lehnt am Rezeptionstresen, schüttelt die Regentropfen von seiner Jacke, zieht sich die Mütze vom Kopf und funkelt den Kommissar wütend an.

»Gegenfrage. Warum sind Sie eben weggelaufen, wenn Sie nichts zu verbergen haben?«

»Ich weiß es nicht«, ist die verblüffende Antwort. »Ein Reflex vermutlich. Jemand scheint dich verfolgen zu wollen, also läufst du weg.«

»Interessant, die Ausrede kannte ich noch gar nicht«, kommentiert Bastian nicht ohne Ironie.

»Also bitte, was wollen Sie überhaupt von mir?«

»Was? Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach. Sie beobachten eine Frau hinter Otzes Zimmerfenster und reagieren höchst ungewöhnlich. Da fragen wir uns natürlich nach dem Grund. Könnte Eifersucht im Spiel sein?«

»Nein. Quatsch.« Nervös dreht Gastmann seine Mütze zwischen den Händen. »Wie kommen Sie denn darauf? Konrad Otze und ich hatten ein rein berufliches Verhältnis. Er schätzte meine Werke und hat mich sehr gefördert. Seine Weibergeschichten interessieren mich nicht die Bohne.«

Nach kurzem Nachdenken erwidert Bastian: »Hatten Sie dann vielleicht ganz andere Erwartungen an diese ersteBegegnung geknüpft? Erwartungen, die womöglich bitter enttäuscht worden sind?«

»Unser Kontakt war nur beruflich, wie gesagt«, beharrt Gastmann mit einer Verve, die verdächtig wirkt.

»Okay, wenn Sie das sagen«, antwortet Bastian maliziös. »Uns liegen allerdings schlagkräftige Indizien vor, die darauf hindeuten, dass es mit Herrn Otzes Wohlwollen, was Ihre Werke betrifft, vorbei war.«

Enard Gastmann schnappt nach Luft. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Hat er Ihnen das gesagt?«

»Leider ist er dazu nicht mehr in der Lage. Konrad Otze ist gestern Nachmittag ermordet worden. Unsere Anrufe, die Sie bedauerlicherweise nicht annehmen konnten, dienten dazu, Ihnen dies mitzuteilen und Sie als Zeugen zu befragen.«

»Er ist tot?«

»Das sagte ich gerade.«

»Haben Sie bei dem Abschiedsessen irgendetwas Verdächtiges beobachtet?«

Bastian formuliert seine Frage bewusst unpräzise. Er will die Erschütterung seines Zeugen ausnutzen, um möglichst an noch unbekannte Details heranzukommen. Doch Enard Gastmann verhält sich komplett abweisend.

»Nein, überhaupt nicht. Es lief alles ganz normal. Bis Konrad Otze verschwand, jedenfalls.«

»Man hat uns gesagt, dass Sie es waren, der darauf gedrungen hat, in seinem Zimmer nach dem Rechten zu sehen.«

»Das war doch eine ganz normale Reaktion«, versichert Gastmann mit zittriger Stimme.

»Aber Sie haben sich geweigert, selbst nach oben zu gehen, so dass Fred Hübner das an Ihrer Stelle übernommen hat.«

»Das stimmt. Es geschah aus reiner Diskretion. Mir war irgendwie nicht wohl bei dem Gedanken, in Herrn Otzes Intimbereich einzudringen.«

»Intimbereich. Interessante Wortwahl.«

»Was wollen Sie mir jetzt wieder unterstellen?«

»Nichts«, antwortet Bastian betont harmlos, um allerdings gleich noch eins draufzusetzen. »Was ich aber weiß, ist, dass oben in Herrn Otzes Zimmer eine vernichtende Kritik Ihrer neuesten Texte liegt. Hätte man Ihnen also nachweisen können, dass Sie die kennen, wäre das unter Umständen als Mordmotiv zu werten gewesen.«

»Das wäre zumindest ein denkbares Motiv. Soweit ich weiß, leben Sie hauptsächlich von Preisgeldern, die ausbleiben würden, sollte Otze sich von Ihnen abwenden.«

Gastmann springt auf. »Das muss ich mir nicht bieten lassen.«

Bevor er weiterreden kann, kommen Silja und Zoe Blücher die Treppe hinunter. Ihre Hände sind leer, Silja macht eine bedauernde Geste in Gastmanns Richtung.

»Leider konnten wir Ihr Handy nicht finden. Und wir haben wirklich gründlich gesucht.«

»Dann muss es wohl woanders sein«, sagt Gastmann mit plötzlich sehr defensiver Stimme.

»Herr Gastmann, wo haben Sie sich gestern Nachmittag zwischen drei und fünf Uhr aufgehalten?«, unterbricht Bastian die Konversation.

»Ich, äh, ich war auf dem Weg nach Morsum, wo ich für die nächsten zwei Wochen ein Zimmer gemietet habe, um in Ruhe arbeiten zu können.«

»Mit dem Taxi?«, fragt Bastian, obwohl er die Antwort bereits kennt.

»Nein. Ich bin mit dem Bus nach Westerland, dann in den Bus nach Morsum und anschließend weiter zu Fuß bis zum Serkwai.«

»Ein ziemlich langer und umständlicher Weg. Zumal mit Gepäck, und da hatten Sie für insgesamt drei Wochen doch

»Woher soll ich das wissen? Gegen fünf bin ich bei meiner Vermieterin angekommen. Das wird sie Ihnen sicher bestätigen können.«

»Dann bräuchten wir die Adresse. Und eines noch: Ich muss Sie dringend bitten, sich für weitere Vernehmungen zur Verfügung zu halten.«

»Im Klartext heißt das, ich darf die Insel nicht verlassen?«

»Sie haben es erfasst.«