Stöhnend lässt sich Bastian auf die Eckbank fallen. Silja rutscht neben ihn, und Sven zieht sich einen Stuhl heran. Die Ermittler sind heute besonders froh darüber, dass der Inhaber der Pizzeria diesen versteckten Platz im hinteren Teil des Restaurants in der Regel für sie frei hält. Hier kann niemand so schnell ihre Gespräche belauschen, hier fühlen sie sich sicher. Und der Eigentümer der Pizzeria, Toni Albarella, weiß außerdem ziemlich genau, was sie so mögen.
»Eine Apfelschorle für die Dame, eine Cola für Signore Winterberg und ein Bier für den Commissario Kreuzer?«, erkundigt er sich lächelnd.
»Die Cola groß und mit viel Eis«, bittet Sven.
»Das Bier noch größer, dafür ohne Eis«, witzelt Bastian.
Silja verdreht die Augen. »Und für mich bitte ein paar Geistesblitze anstelle von Strohhalmen in die Apfelschorle.«
»So schlimm?«, fragt Toni besorgt. »Ich habe vorhin von dem Mord im Radio gehört.«
»Alle Kanäle sind inzwischen voll davon«, schimpft Bastian.
»Und vor dem Kommissariat klumpen sich die Journalisten«, fügt Sven hinzu. »Ich habe mich zum Hinterausgang rausschleichen müssen und bin dann an den Mülltonnen vorbei durch das Loch im Zaun gekrochen, damit wir uns hier überhaupt ungestört treffen konnten.«
»Und das Ärgerlichste ist, dass wir ganz sicher nie erfahren werden, wer da letztendlich geplaudert hat.« Bastian nimmt die gefaltete Serviette zur Hand und schlägt damit heftig auf den Tisch. »Wenn wir wenigstens eine vernünftige Spur hätten, aber so …«
Er verzichtet darauf, weiterzureden, und Toni versteht.
»Ich gehe dann mal und lasse Sie in Ruhe. Aber vorher noch die Bestellung. Ein großer Salat, eine Pizza Calzone und ein Steak?«
»Perfekt«, lobt Bastian, ohne die Reaktion der anderen beiden abzuwarten. Und als kein Protest von ihnen kommt, fügt er schelmisch hinzu: »Vielleicht sollten wir einfach das Büro hierherverlegen. Ihr habt doch einen Hintereingang, aus dem wir unbemerkt hinausschlüpfen können?«
»Si, Commissario. Von der Küche aus ganz leicht zu erreichen.«
»Dann passt bloß auf, dass euch die Messer nicht abhandenkommen.« Als Bastian Signore Albarellas verständnislosen Blick sieht, muss er trotz aller Anspannung schmunzeln. »Kleiner Insiderscherz, nichts für ungut.«
Toni lacht pflichtschuldig, dann lässt er die Kommissare allein und wendet sich anderen Gästen zu. Schließlich ist Sonntag und die Pizzeria gut gefüllt.
»Also, Kollegen«, beginnt Bastian, »lasst uns mal zusammenfassen, was wir haben, damit wir anschließend besser überblicken können, was wir nicht haben.«
»Zunächst vielleicht die Motive und die Alibis«, schlägt Sven vor. Und als Bastian nickt, redet er weiter. »Punkt eins wäre ganz sicher die gekränkte Berufsehre beziehungsweise die Furcht vor dem tödlichen Kritikerwort. Das betrifft Fred Hübner, Enard Gastmann und Saskia Grothe, also alle, über deren Werke wir vernichtende Urteile in Otzes Zimmer gefunden haben. Punkt zwei der Motive wäre dann ein abgewiesenes Liebeswerben oder wie immer ihr das nennen wollt.«
»Shirin Yildirim«, souffliert Silja.
Bastian nickt. »Okay, sehen wir uns die Alibis an.«
»Ich fahre heute Nachmittag bei Gastmanns Morsumer Vermieterin vorbei, um seine Aussage zu überprüfen«, antwortet Silja. »Er behauptet ja, um kurz vor fünf Uhr nachmittags dort eingetroffen zu sein. Völlig erschöpft und verschwitzt, weil er angeblich den ganzen Weg vom Bahnhof mit Gepäck zu Fuß zurückgelegt habe.«
»Um kurz nach fünf ist das Opfer sterbend von Ludger Voigt gefunden worden«, überlegt Bastian. »Falls die Vermieterin das Alibi bestätigt und wir keinen Taxifahrer finden, der Gastmann in einem Höllentempo von der Vogelkoje bis nach Morsum chauffiert und ihn kurz vor seiner Unterkunft abgesetzt hat, können wir ihn als Täter vergessen.«
»Selbst das Taxi braucht fünfundzwanzig Minuten. Das käme also nie und nimmer hin«, wirft Silja ein. »Und die Grothe können wir auch vergessen. Sie hat ein ziemlich lückenloses Alibi, das von unterschiedlichen Leuten bestätigt worden ist.«
»Na bravo, in diesem Fall blieben uns nur noch zwei«, sagt Sven resigniert. »Mit Shirin Yildirim habe ich vorhin sprechen können. Die Berliner Kollegen müssen ihr ganz schön Feuer unterm Arsch gemacht haben, jedenfalls hat sie sich im Kommissariat gemeldet.«
»Und?«, fragen Silja und Bastian wie aus einem Mund.
»Sie ist angeblich gleich mit dem Zug nach Berlin aufgebrochen. Das deckt sich auch mit der Aussage von Lorena Larsen, die sie ja im Taxi bis zum Bahnhof mitgenommen hat. Das Zugticket habe ich als Mail vorliegen, nur ist sie blöderweise nicht kontrolliert worden.«
»Kein Stempel also«, stellt Bastian zufrieden fest. »Dann kann sie theoretisch sonst wann gefahren sein.«
»Allerdings ist ihr Motiv das schwächste«, gibt Silja zu bedenken. »Habt ihr mal in Latex reingelesen? Die hat noch ganz andere Sachen erlebt als nur einen unbefriedigenden One-Night-Stand mit einem Promi. Warum sollte sie zu so drastischen Rachemethoden greifen, zumal der Kritiker offenbar nichts gegen ihren Roman einzuwenden hatte? Das ergibt wenig Sinn.«
»Kommt drauf an«, widerspricht Sven. »Vielleicht hat Otze sehr wohl eine negative Kritik ihres Bestsellers verfasst, und sie hat es nur irgendwie geschafft, sie an sich zu bringen.«
»Und wann sollte das gewesen sein?«, hakt Silja nach. »Das wäre Konrad Otze doch vermutlich im Verlauf der nächsten Tage aufgefallen.«
»Kann sein, muss aber nicht«, überlegt Bastian. »Vielleicht war die Kritik schon fertig geschrieben, und er ist immer davon ausgegangen, dass sie sich noch in dem Stapel zwischen den anderen befindet.«
»Klar, unmöglich ist das nicht.« Silja zuckt mit den Schultern.
»Andere Frage. Woher hattest du überhaupt das Buch? Also Latex meine ich. Heute ist Sonntag«, will Bastian jetzt wissen.
»Runtergeladen.« Silja lacht. »Kindle? Schon mal gehört?«
»Ich hab’s nicht so mit Büchern, weißt du doch«, grummelt der Kommissar und ist sichtbar froh, dass die Getränkelieferung vom Thema ablenkt. Er nimmt einen großen Schluck von seinem Pils, wischt sich den Schaum von der Oberlippe und fordert mit strenger Stimme: »Weiter im Text. Ich will Ergebnisse, und das möglichst bevor unser Essen kommt. Ihr kennt ja meine Maxime.«
»Erst denken, dann essen«, antworten Silja und Sven wie aus einem Mund.
»Okay, ich fasse zusammen: Von den sechs Anwesenden beim Abschiedsessen haben vier ein Motiv, bei einer wackelt das Alibi, aber das Motiv reicht nicht, um einen Mord zu begehen. Von den restlichen dreien haben zwei ein Alibi. Bleibt Fred Hübner mit Motiv, ohne Alibi.«
»Nicht schon wieder«, stöhnt Sven.
»Kann ich mir auch nicht vorstellen.« Silja schaut ihre Kollegen skeptisch an.
»Wir behalten das natürlich im Hinterkopf, müssen aber zusätzlich woanders suchen, jedenfalls solange wir weder bei Lorena Larsen noch bei der Moderatorin Melinda Jakobsen ein Tatmotiv erkennen können«, erklärt Bastian.
»Vielleicht sollten wir der Spur der Messer folgen«, schlägt Sven vor. »Sie sind während oder nach dem Essen aus der Küche verschwunden, ebenso wie Konrad Otze aus der Pension verschwunden ist. Da muss es doch einen Zusammenhang geben, verdammt.«
»Was ist mit der Chefin des Cateringunternehmens? Könnte die ein Motiv haben?«
»Pernille Aurich? Eher im Gegenteil. Ich habe ja ziemlich lange mit ihr geredet, und sie war echt verzweifelt, weil sie sehr auf Konrad Otzes Weiterempfehlung gehofft hatte. Offenbar hat sie sich für diesen Auftrag sogar verschuldet und sah sich nach dem Verlust der Messer schon am Rand des Ruins.«
»Die Messer bekommt sie ja wieder. Aber trotzdem müssen wir sie wohl als Verdächtige vergessen. Hat sie Mitarbeiter?«
»Zwei.«
»Dann sollten wir die auch befragen. Übernimmst du das, Sven?«
»Klar, mache ich.«
»Was ist mit den Besuchern, die gestern Nachmittag in der Vogelkoje waren?«, mischt sich Silja ein. Bisher hat sie dem Wortwechsel schweigend gelauscht und zwischendurch nachdenklich in ihren Notizen geblättert. »Jetzt, wo die Presse ohnehin Bescheid weiß, können wir doch einen Aufruf im Radio starten. Je eher, desto besser, denn wenn die Gäste erst mal wieder auf dem Festland sind, kommen wir gar nicht mehr an sie heran.«
»Das waren eine Schulklasse, ein Ehepaar und eine Familie. Oder erinnere ich mich da falsch?«, murmelt Bastian stirnrunzelnd.
»Ein Pärchen hat er gesagt, und das klang so, als seien die eher jünger gewesen. Und es waren zwei Familien mit kleinen Kindern«, korrigiert ihn Silja.
»Ob für die Lütten diese gruseligen Entenmordgeschichten, die in der Vogelkoje dokumentiert werden, das Richtige waren, sei mal dahingestellt. Aber das ist nicht unser Problem. Gleich nach dem Essen lässt du dir die Besucher von gestern Nachmittag von diesem Ludger Voigt noch einmal beschreiben, und dann geben wir das an die Medien.«
»Muss das nicht von der Staatsanwältin genehmigt werden?«, wirft Sven ein.
»Hast du auch wieder recht. Dann warten wir noch damit.«
»Auf jeden Fall rede ich mit Ludger Voigt. Sonntags hat die Vogelkoje bis siebzehn Uhr geöffnet, ich hab’s vorsorglich gecheckt«, erklärt Silja. »Und wenn das okay ist, würde ich noch eine zweite Sache überprüfen, wenn ich schon mal dort bin. Ich habe nämlich eine Idee, wie man Konrad Otze zu der Bank am Watt geschafft haben könnte.«
Die Kommissarin legt ihr Handy auf den Tisch und ruft eine Umgebungskarte der Vogelkoje auf. Südlich des eingezäunten Landschaftsschutzgebiets gibt es einen Pfad, der zum Watt hinunterführt.
»Den schaue ich mir sicherheitshalber mal genauer an. Vielleicht kann man dort mit dem Auto bis zum Wasser fahren und dann das kleine Stück zu der Bank auf dem Deich laufen.«
»Der Zaun unterhalb des Deiches ist unbeschädigt. Er ist zwar nur halbhoch, aber immerhin mit Stacheldraht versehen. Ich glaube nicht, dass man jemanden, der sich wehrt, da so einfach rüberhieven kann«, gibt Sven zu bedenken.
»Otze hat sich nicht gewehrt, keine entsprechenden Verletzungen«, wirft Bastian ein. »Vermutlich hat er seinen Mörder gekannt, vielleicht sind beide einvernehmlich über den Stacheldraht gestiegen.«
»Nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand mit einem extrem teuren Anzug so etwas mitmacht. Außerdem würde das Otzes nasse Hosenbeine nicht erklären«, seufzt Silja. »Also ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe das Gefühl, je länger wir darüber sprechen, desto mysteriöser wird das Ganze.«
»Das hast du klug zusammengefasst, meine Süße«, sagt Bastian mit leichter Verzweiflung in der Stimme. »Und wenn ich an die Journalistenmeute denke, der wir uns nach dem Essen stellen müssen, dann kann ich nur sagen: Sie werden uns in der Luft zerreißen, und das vermutlich zu Recht.«