Kriminaloberkommissarin Silja Blanck beendet ihren Bericht über einen Raubüberfall im örtlichen Altersheim, der zum Glück für die Überfallene mit ein paar blauen Flecken glimpflich ausgegangen ist, fährt anschließend den Rechner herunter und steht auf. Die Kommissarin geht zum Fenster, wo sich ihre schlanke Gestalt mit den langen dunklen Haaren, die sie am Hinterkopf zusammengebunden hat, in den Scheiben spiegelt. Silja öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus. Es ist ein wunderschöner Spätsommertag mit ungewöhnlich wenig Wind. Die Sonne vergoldet den Westerländer Bahnhof, der sich genau dem Kommissariat gegenüber befindet, ebenso wie die dahinterliegenden Wohnsiedlungen. Sogar die hässlichen Hochhäuser des in den sechziger Jahren gebauten Kurzentrums sehen in diesem Licht weniger schrecklich aus. Ein perfektes Wetter für einen langen Strandspaziergang, beschließt Silja und ist froh, dass sie bei der Vernehmung, die die Kollegen Bastian Kreuzer und Sven Winterberg gerade durchführen, nicht gebraucht wird.

Am Mittag ist ein Dealer im Südwäldchen mit einem erheblichen Drogenvorrat aufgegriffen und vorsorglich festgenommen worden. Der Tipp kam von einem Gastronomen, der den Kommissaren zunächst nicht ganz koscher vorkam. Doch die Menge der sichergestellten Drogen, vor allem Kokain, aber auch diverse Pillen hatte der Dealer vorrätig, rechtfertigten die Festnahme in jedem Fall. Seit drei Stunden versuchen Bastian und Sven jetzt schon vergeblich, die Kontaktleute des bisher wenig gesprächsbereiten

Abgesehen von dem Raubüberfall und der Festnahme war heute ein ruhiger Tag, so dass Silja schon mal in den Feierabend starten kann. Auf dem Heimweg zu ihrer Wohnung im Norden von Westerland wird sie einen Schwenk über die Strandpromenade machen, um ein bisschen Stimmung beim Windsurf World Cup zu schnuppern. Selbst bei starkem Regen und bei Sturm sowieso stehen jedes Jahr Hunderte von Zuschauern am Strand und auf der Promenade, um die waghalsigen Loops und Manöver der Sportler zu verfolgen. Heute finden allerdings keine Wettkämpfe statt, weil der Wind einfach zu schwach ist. Aber für morgen sind wieder deutlich kräftigere Böen angesagt, so dass Bastian und Silja nach dem Frühstück den Surfern und Surferinnen bei ihren ersten Gigs zusehen können, wie sie es jedes Jahr machen.

Bastian ist nicht nur Siljas und Svens Chef, sondern seit einigen Jahren auch Siljas Lebenspartner. Im letzten November haben die beiden sich bei einer freien Trauung hoch oben auf dem Hörnumer Leuchtturm das Eheversprechen gegeben, und Silja hat es seitdem nicht eine Stunde bereut.

Silja legt ihrem Liebsten eine kurze Nachricht auf den Schreibtisch, der ebenso wie der des Kollegen Sven Winterberg im großen Büroraum des Kommissariats steht. Dann greift sie sich ihre knallrote Lederjacke vom Kleiderständer und verlässt das Büro. Auf dem Weg die Treppe hinunter hört sie eine aufgeregte Stimme, die ihr entfernt bekannt vorkommt.

Im Erdgeschoss des Polizeigebäudes befinden sich die Wache und die drei Zellen, in denen nur selten Schwerverbrecher, dafür häufiger hilflose Personen, in der Regel stark

»Was soll das heißen, Sie können da nichts tun?«

»Wie ich schon sagte«, kontert die uniformierte Kollegin cool, »haben wir feste Regeln bei vermissten Personen.«

»Aber er ist einfach so beim Abschiedsessen verschwunden und hat alle seine Sachen in der Pension gelassen.«

»Sagten Sie nicht gerade, er habe das Zimmer noch für eine ganze Woche gemietet?«

»Ja, schon. Aber er hat sich auch nicht verabschiedet, was extrem unhöflich wäre.«

»Das mag alles sein, ist aber nicht unser Problem.«

Silja bleibt stehen und mustert die schlanke, etwas zu stark geliftete Dame am Counter nachdenklich. Plötzlich fällt ihr ein, woher sie sie kennt. Aus dem Fernsehen. Melinda Jakobsen moderiert eine der angesagtesten Talkshows des Landes, die seit Jahren zur Primetime ausgestrahlt wird. Silja meint, irgendwo gelesen zu haben, dass die Jakobsen – wie so viele Journalisten – ein Haus auf Sylt hat. Wenn sie sich recht erinnert, steht es irgendwo im Norden, vielleicht in der Lister Westerheide.

»Kann ich helfen?«, wendet sich die Kommissarin jetzt an die beiden Frauen vor und hinter dem Tresen.

»Die Dame möchte einen erwachsenen Mann als vermisst melden, der sich vor etwa zwei Stunden von einem gemeinsamen Essen entfernt hat, ohne sich zu verabschieden«, antwortet die Kollegin achselzuckend.

»Er ist ohne ersichtlichen Grund aufgesprungen,

»Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass er sich nicht einfach die Beine vertreten wollte? Vielleicht hat er einen Bekannten getroffen oder sonst etwas Spannendes erlebt, das ihn von einer Rückkehr abgehalten hat. Wo ist er überhaupt verschwunden?«

»In Wenningstedt. Aus der Pension Seemöwe. Wir hatten dort ein Colloquium zur Stellung der Literatur in heutiger Zeit.«

»Hatten, sagen Sie. Dann war das Colloquium also vorbei, als er verschwunden ist?«

»Ja, gerade erst. Aber trotzdem ist das so überhaupt nicht seine Art und deshalb …«

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Frau Jakobsen«, unterbricht Silja die Dame. »Sie sind doch Frau Jakobsen, oder?«

»Ja, das bin ich.« Die Moderatorin atmet tief durch. Es scheint ihr gutzutun, dass jemand sie endlich erkannt hat. »Und, hören Sie, es ist beileibe nicht so, dass ich es mir leisten kann, hier ewig rumzustehen und mich mit Ihrer Kollegin zu streiten. Ich komme gerade von einer Vorbesprechung für eine Talkrunde, die demnächst im Kamphüs stattfinden soll, und fürs Dinner bin ich auch schon verplant. Aber ich wollte doch meinen staatsbürgerlichen Pflichten Genüge tun und die Polizei kurz von einer äußerst merkwürdigen Begebenheit unterrichten. Der Vermisste ist niemand anderes als Konrad Otze.« Als Silja auf den Namen nicht reagiert, fügt die Jakobsen leicht verschnupft hinzu: »Ein äußerst renommierter Literaturkritiker. Und bei Prominenten weiß man letztendlich nie, ob sich nicht irgendein Irrer findet, der ihnen etwas antun will.«

»Er ist ledig, und Kinder hat er auch nicht, soweit ich weiß.«

»Eine Freundin oder einen Lebenspartner?«

»Ich bin über Konrad Otzes Privatleben nun wirklich nicht umfassend informiert«, schnappt die Jakobsen, und Silja kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie das beiläufig ärgert.

»Okay, Frau Jakobsen, dann regeln wir das so, wie eben vorgeschlagen. Wenn ich nur noch um die beiden Handynummern bitten dürfte.«

Melinda Jakobsen ziert sich kurz, es ist ihr deutlich anzusehen, dass sie die Herausgabe ihrer Handynummer für einen äußerst delikaten Akt hält, der nur wenigen Eingeweihten vorbehalten ist. Doch dann siegt die Vernunft, und sie zückt

»Selbstverständlich. Sie können also ganz beruhigt sein.«