Fred Hübner ist unruhig. Immer wieder geht ihm das Gespräch mit Bastian Kreuzer und Silja Blanck durch den Kopf. Sie haben ihn verdächtigt, und er kann es ihnen noch nicht einmal verdenken. Wenn er irgend jemandem wirklich alles Böse dieser Welt hätte wünschen wollen, dann wäre Otze sicher auf Platz eins der Kandidatenliste gelandet.
Doch das ist es gar nicht, was ihn wirklich irritiert. Vielmehr fragt er sich, warum die beiden Ermittler ausgerechnet ihm Informationen über den Mord haben zukommen lassen, während die Presse nach wie vor im Dunklen tappt. Das Netz ist jetzt schon voll mit den abenteuerlichsten Spekulationen, und natürlich schäumen die Kollegen vor Wut, weil außer der Tatsache, dass Otze tot ist, keine weiteren Details an die Öffentlichkeit gedrungen sind.
Er aber kennt den Tatort, die Tatzeit und sogar die Tatwaffe. Erstochen, hat die kleine Blanck gesagt, es muss sich also um einen Dolch oder ein Messer handeln. Waren die Ermittler unaufmerksam, unvorsichtig oder gar naiv, als sie ihm das verraten haben? Wohl kaum. Vielleicht hat er sie ja überrumpelt mit seinem unverhohlenen Hass auf den Kritiker, und sie wollten ihm eine Falle stellen. Schon eher möglich. Es könnte aber auch ein anderes Kalkül dahinterstecken.
Es wäre wahrlich nicht das erste Mal, dass er sich in eine Ermittlung einmischt und entscheidend zur Lösung des Falls beiträgt. Sollten die Kommissare diesmal vielleicht direkt darauf spekuliert haben? Fred würde das nicht ganz ausschließen. Wer weiß besser als er selbst, was der Druck der Öffentlichkeit mit einem anstellen kann? Und ein Promimord auf Sylt ist allersaftigstes Zeilenfutter für die Kollegen. Da wird den Ermittlern jede Hilfe recht sein, auch wenn sie das niemals zugeben würden.
Die Frage ist nur, ob Fred sich darauf einlassen soll. Früher oder später wird auch Elsbeth von Bispingen die Szene betreten, das ist völlig klar. Spätestens bei der ersten Pressekonferenz muss sie sich an der Seite der Ermittler präsentieren. Und je mehr er sich einmischt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, ihr wieder zu begegnen.
Will ich das?, fragt sich Fred. Meine mühsam erworbene Ruhe aufs Spiel setzen? Das Gefühlschaos zurückholen? Gefahr laufen, dass es wieder weh tut? Mich womöglich gar auf eine Aussprache einlassen, die ich im letzten Winter konsequent verweigert habe?
Dies sind Fragen, die er im Augenblick weder beantworten kann noch will, denen er irgendwann aber nicht mehr wird ausweichen können. Lieber denkt er stattdessen darüber nach, wie er die exklusiven Informationen anderweitig nutzen kann. Ich bin immer noch Journalist, und wenn die Herrschaften vom Kommissariat das gelegentlich ausblenden wollen, ist es nicht mein Problem.
Kurz entschlossen prüft Fred die Öffnungszeiten der Vogelkoje. Passt. Dann geht er in seine Diele, greift nach der dicken Jacke und der Mütze. Er zieht absichtlich keine Fahrradklamotten an, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Lieber will er wirken wie ein ganz normaler Tourist. Deshalb legt er, nachdem er sein Rad bestiegen hat, auch ein recht gemächliches Tempo an den Tag. Der Wind kommt von Norden und bläst ziemlich heftig, er muss also ohnehin kräftig in die Pedale treten, um überhaupt vorwärtszukommen. Die Jacke erweist sich als viel zu warm, der Schweiß rinnt ihm aus allen Poren, noch bevor er überhaupt in Kampen angekommen ist. Fred wechselt die Straßenseite, um auf der etwas geschützteren Radspur weiterzufahren. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur Vogelkoje. Nach der nächsten Kurve kann er schon den Wald sehen, der den größten Teil des Naturschutzgebietes ausmacht.
Als Fred an dem schmalen Parkplatz angekommen ist, von dem aus ein Pfad zum Eingang des Naturschutzgebietes und auch zu dem angeschlossenen Restaurant führt, stellt er das Rad am Rand außerhalb des Blickwinkels des Wärterhäuschens ab und wartet ein paar Minuten, bis er weniger außer Atem ist. Dann geht er zum Eingang hinüber. In der unscheinbaren Hütte sitzt eine Aufsicht, bei der man auch das Ticket lösen muss. Fred tritt dicht an das Häuschen heran. Der Mann wirkt übernächtigt, unter seinen Augen liegen tiefe Schatten, das Gesicht ist blass.
»Moin. Nicht viel los heute, was?«, bemüht sich Fred, ein Gespräch zu beginnen.
»Sind alle beim Surf Cup.«
»Ab morgen wird das anders. Wenn erst mal der Mord in aller Munde ist.«
»Woher wissen Sie davon?« Der Mann sieht irgendwie erschrocken aus.
»Das Opfer war ein Kollege von mir. Deshalb hat die Kripo mit mir geredet. Die sind ziemlich hilflos, wie’s scheint.«
»Ist ja auch kein Wunder.«
»Muss ganz schön heftig für Sie gewesen sein«, mutmaßt Fred ins Blaue hinein. Schließlich hat er keine Ahnung, was sein Gegenüber mitbekommen hat.
»Es war entsetzlich!« Der Mann in dem Eingangshäuschen blickt sich um. Es wirkt, als lauere hinter ihm eine grässliche Erscheinung. Dann mustert er Fred mit zusammengezogenen Augenbrauen. Offenbar hält er ihn für harmlos, denn nun beugt er sich vor und raunt in fast schon verschwörerischem Tonfall: »Ich habe das Opfer gefunden, da lebte der Mann aber noch.«
»Nein!«
»Doch. Der Mann war blutüberströmt. Sechs Messer steckten überall in seinem Körper. Er atmete kaum noch, und bis dann die Rettungskräfte hier waren, war es längst zu spät.«
Fred muss sich kurz sortieren. Mit so viel Offenheit hat er nun wirklich nicht gerechnet. Vermutlich ist die ganze Sache dem armen Kerl gehörig an die Nieren gegangen, so dass er froh ist, sich einmal aussprechen zu können. Nur zu, denkt Fred und blickt sein Gegenüber mitleidig an.
»Wie kam es denn, dass Sie ihn überhaupt gefunden haben? Ich meine, das ist ja eine ganz schöne Wildnis hier.«
»Ich hab ihn auf meiner abendlichen Kontrollrunde entdeckt. Er lag hinten am Watt auf der Bank. Wirkte wie ausgestellt.«
»Erkannt haben Sie ihn aber nicht?«
Kopfschütteln.
»Er war recht prominent. Kein beliebiger Zeitungsfuzzi«, antwortet Fred vorsichtig.
»Promi passt. Bei den vornehmen Plünnen, die der anhatte.«
»Anzug und so, ich weiß. Und diese teuren Schuhe. Ist Ihnen denn sonst noch irgendetwas aufgefallen?«
»Nein, gar nicht. Und ich stand ja auch unter Schock. Oder haben Sie schon mal einen Sterbenden gefunden?« Wieder schleicht sich der vorsichtige Tonfall in die Stimme des anderen.
Vermutlich haben ihm die Ermittler eingeschärft, unter allen Umständen den Mund zu halten. Und ich tue gut daran, ihn nicht übermäßig zu drängen.
»Natürlich nicht. Unvorstellbar, so etwas«, lügt Fred, während sich ihm eine Erinnerung aufdrängt, die er lieber vergessen hätte. Seine große Liebe Susanne, blutüberströmt und tödlich verwundet in seinem eigenen Bett. Es ist Jahre her, aber das Trauma sitzt tief. Fred muss sich mühsam zusammenreißen, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden. »Kann ich denn trotzdem aufs Gelände?«, fragt er mit brüchiger Stimme.
»Sicher. Die Kriminaltechnik ist fertig, auch wenn hinten am Watt noch alles abgesperrt ist. Die haben da wirklich in jeden Busch geguckt. Aber gefunden haben sie, glaube ich, nicht besonders viel.«
»Die Polizei ist wirklich nicht zu beneiden«, murmelt Fred, während er die Münzen für den Eintritt aus dem Portemonnaie schüttelt. »Nehmen Sie sich das Ganze nicht so zu Herzen, und alles Gute weiterhin.« Fred hebt die Hand zum Abschied und schlüpft schnell durch das Tor.