Silja Blanck stellt ihren Wagen auf dem Vogelkoje-Parkplatz ab und steigt aus. Sie ignoriert den Zugang zum Naturschutzgebiet und wendet sich gleich nach rechts, wo der Asphalt nach wenigen Schritten aufhört und in einen grasbewachsenen breiten Pfad übergeht, der in einer weiten Linkskurve zum Wasser führt. Ein Schild informiert darüber, dass es sich hier um einen Deichpflegeweg handelt. Unbefugten ist der Zugang durch eine stabile Metallschranke verwehrt, die mit Stacheldraht umwickelt und überdies mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Alles wirkt unbeschädigt, und weder vor noch hinter der Schranke sind Reifenspuren im Gras zu erkennen.
Trotzdem klettert Silja vorsichtig über die Schranke. Kurz bleibt sie am Stacheldraht hängen, kann sich aber befreien, ohne ein Loch in ihre Hose zu reißen. Auf ihrem Weg hinunter zum Watt hält die Kommissarin den Blick fest auf den Boden gerichtet. Das zottige Gras ist durchsetzt mit kleinen Steinen. Obwohl es ihr inzwischen unwahrscheinlich scheint, dass der hilflose Kritiker über diesen Zugang ans Watt transportiert worden ist, sucht Silja gewissenhaft nach Fuß- oder Reifenspuren, nach Blut oder irgendwelchen anderen verdächtigen Hinweisen. Aber da ist nichts außer ein paar Zigarettenkippen, zwei leeren Pappbechern und einem Kinderhandschuh, der so schmutzig ist, dass er vermutlich schon seit Monaten hier liegt. Silja sammelt trotzdem alles ein.
Am Watt angekommen wendet sich die Kommissarin nach links und erreicht nach wenigen hundert Metern die Stelle, wo sich jenseits des Zauns die erhöht gelegene Bank befindet. Das ganze Areal ist immer noch weiträumig mit Flatterband abgesperrt. Sicherheitshalber untersucht Silja den hüfthohen Stacheldrahtzaun, der das Naturschutzgebiet einfasst, noch einmal gründlich. Aber es bleibt dabei, auch er ist unbeschädigt, und es hängen keine Stofffetzen oder Ähnliches an dem Metall. Und man müsste schon ein wahrer Hüne mit ellenlangen Beinen sein, um einfach so über diesen Zaun zu steigen. Auf die entscheidende Frage, wie der Mörder mit seinem Opfer zu der Bank gelangt ist, gibt es also immer noch keine Antwort.
Die Kommissarin dreht sich um und lässt ihre Augen über das Watt wandern. Der heftige Wind kraust das Wasser und fährt den Seevögeln ins Gefieder. Nichts deutet darauf hin, dass gestern Nachmittag oben auf der Bank ein Mord geschehen ist. Und es deutet auch nichts darauf hin, dass hier ein Boot überhaupt hätte anlegen können, so seicht und flach ist das Wasser. Einzig vorstellbar wäre ein Ruderboot oder ein Kanu, das Mörder und Opfer hierhergebracht haben könnte. Dann hätten sie aber noch ein paar Meter durchs Wasser gehen müssen, was immerhin die Wasserspuren an Konrad Otzes Hosenbeinen erklären würde. Aber war das überhaupt Salzwasser?
Silja holt ihr Handy aus der Tasche, um Klarheit über dieses Detail bei Dr. Bernstein zu erfragen. Wie oft auf der Insel ist der Empfang ziemlich schwach, und es dauert, bis überhaupt eine Verbindung aufgebaut wird. Während sie wartet, hört Silja von oben hinterm Deich Geräusche. Es raschelt, dann hallen Tritte zu ihr hinüber.
Eigentlich darf sich niemand dort aufhalten, die Flatterbandabsperrung ist eindeutig, und Ludger Voigt vorn am Eingang hat strikte Anweisung, alle Besucher der Vogelkoje auf das Verbot hinzuweisen. Wer könnte ein Interesse haben, sich dem zu widersetzen? Doch wohl nur der Mörder, um Spuren zu verwischen. Oder sind die Touristen mittlerweile so dreist, dass sie noch nicht einmal vor einer polizeilichen Anweisung haltmachen?
Silja cancelt ihren Anruf, der vermutlich ohnehin nicht durchgestellt worden wäre, und zieht sich weit genug zurück, um möglichst unerkannt beobachten zu können, was oben auf dem Deich geschieht.
Zunächst bleibt alles ruhig, auch die Schritte sind nicht mehr zu hören. Doch dann kommt jemand die Treppe vom Wald her herauf. Ein Kopf mit dichten, aber sehr kurz geschnittenen grauen Haaren erscheint, das Gesicht ist gesenkt, als suche die Person etwas am Boden. Es ist ein schlanker Mann, der eine gefütterte dunkle Jacke trägt und Silja fast sofort den Rücken zuwendet, weil er sichtbar konzentriert die Bank mustert, auf der der Mord geschehen ist.
Erst als der Mann sich dem Watt zuwendet und den Kopf hebt, erkennt die Kommissarin ihn. Gespannt wartet sie ab. Der Mann steigt den Hügel hinunter und untersucht gründlich den Stacheldrahtzaun, tut also exakt das Gleiche, was Silja eben getan hat.
Verdammt, der Kerl kommt uns schon wieder in die Quere, durchfährt es Silja. Energisch tritt sie näher, wobei sie nicht darauf achtet, besonders leise zu sein.
»Herr Hübner, Sie haben aber schon gesehen, dass hier alles abgesperrt ist?«
Der Journalist fährt zusammen, offenbar ist ihm ihre Anwesenheit bisher tatsächlich entgangen. Er streicht sich kurz durchs Haar, vermutlich um Zeit zu gewinnen, dann antwortet er mit einem eher verschmitzten als schuldbewussten Grinsen.
»Frau Blanck, welche Überraschung und Freude zugleich, Sie hier zu treffen. Und sorry, ja, ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage. Aber Sie müssen verstehen. Wenn man sieben Tage am Stück mit jemandem verbracht hat, dann trifft es einen irgendwie schon, wenn er plötzlich nicht mehr unter uns weilt.«
»Das klang heute Vormittag aber noch ganz anders. Da hätten Sie am liebsten applaudiert, als Sie vom Tod Konrad Otzes erfahren haben.«
»Ich habe überreagiert, und es tut mir inständig leid«, versichert Hübner. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, dann sehr gern.«
»Indem Sie hier Spuren verwischen und einen abgesperrten Tatort betreten? Machen Sie Witze?«
Der Journalist zuckt kurz mit den Schultern und sieht insgesamt nicht sonderlich schuldbewusst aus.
»Ihnen ist schon klar, dass es in der Regel der Mörder selbst ist, den es an den Ort des Verbrechens zieht?«, setzt Silja nach.
»Frau Blanck, das hatten wir doch schon«, versucht er die Situation ins Komödiantische zu ziehen. »Ich bin nun mal kein Mörder, so gern Sie das vielleicht auch hätten.«
»Was machen Sie dann hier?«
»Neugier? Schon mal davon gehört? Das ist ein ziemlich menschlicher Trieb.«
»Der sich in Ihrem Fall ganz gut zu Geld machen lässt und uns anschließend die Arbeit erschwert.«
»Die freie Presse ist die vierte Gewalt im Staat, vergessen Sie das nicht. Und Ihre Informationspolitik war bisher nicht besonders offen.«
»Wir hatten unsere Gründe, das können Sie mir glauben.«
»Sehen Sie, und ich habe meine. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, dann würde ich mich jetzt gern zurückziehen. Oder soll ich Ihnen über den Stacheldraht helfen, damit Sie sich davon überzeugen können, dass ich auch wirklich verschwinde?«
Silja überhört den sarkastischen Unterton und überlegt kurz. Dann kommt ihr eine Idee.
»Würden Sie versuchen, mich hinüberzuheben? Ich bin zwar vermutlich um einiges leichter als unser Opfer, aber ein echtes Schwergewicht war Konrad Otze auch nicht.«
»Und Sie würden gern wissen, auf welche Weise er hierhergekommen ist?«, fragt der Journalist lauernd.
»Haben Sie eine Idee?«
»Ich dachte, ich soll mich nicht in Ihre Ermittlungen einmischen.«
»Seien Sie nicht so pingelig und lassen Sie es uns kurz versuchen.«
Beide treten dicht an den Stacheldrahtzaun heran, dann breitet Silja die Arme aus, damit Fred Hübner sie unter den Achseln greifen kann. Er ächzt kurz und hebt sie mit ausgestreckten Armen hoch. Silja zieht sogar die Beine an, doch wenn Hübner sie jetzt zu sich herüberziehen würde, würden mit ziemlicher Sicherheit ihre Hosen am Stacheldraht hängen bleiben.
»Das können wir vergessen«, entscheidet er und lässt die Kommissarin vorsichtig wieder zu Boden gleiten.
Silja nickt und blickt sich suchend zu den kabbeligen Wellen des Watts um, als schwimme dort die Lösung des Problems.
»Wenn mir noch etwas einfällt, melde ich mich, okay?«, hört sie Fred Hübners Stimme hinter sich. »Viel Erfolg noch bei der Spurensuche.«
Täuscht sie sich, oder ist da wieder eine gewisse Ironie im Spiel? Silja verkneift sich erst mal jede Reaktion. Als die Kommissarin sich schließlich doch umdreht, sieht sie nur noch den Rücken des Journalisten. Er ist bereits oben auf dem Deich angekommen und hebt kurz grüßend die Hand, dann entfernen sich seine Schritte.