Als Silja aus dem Auto steigt, empfängt sie fast völlige Stille. Hier, am östlichen Ende der Insel, ist nichts vom Trubel der Touristenregionen zu spüren. Felder und Wiesen scheinen sich endlos auszudehnen, und die paar Häuser am Ende der Straße wirken wie Tupfen in einer ansonsten unberührten Landschaft. Zum Watt hin begrenzt der Deich die Sicht, gerade steigt ein Vogelschwarm dahinter auf und füllt die Luft mit seinem Gekrächze.
Silja wendet sich dem Klinkerhaus zu, vor dem sie den Wagen geparkt hat. Familie Burghardt steht unter dem Klingelschild am Friesentor, und noch bevor Silja auf die Klingel gedrückt hat, öffnet sich die Haustür.
Es erscheint eine junge Frau, die über ihrer Jeans und der bunten Bluse eine getupfte Schürze trägt und die Haare im Nacken zu einem lockeren Knoten gewunden hat.
»Hallo«, begrüßt sie die unerwartete Besucherin. »Unser Fremdenzimmer ist leider belegt. Ich fürchte, ich habe vergessen, das Schild umzudrehen.« Sie tritt ein paar Schritte in den Garten, dreht sich dann um und blickt hinauf zur Hauswand, wo unter dem Vermietungsschild tatsächlich noch das Frei-Zeichen hängt.
»Ich komme nicht, um mich einzumieten«, korrigiert Silja, »sondern, um mich nach Ihrem Mieter zu erkundigen. Sie sind doch Frau Burghardt?«
»Cornelia Burghardt, ganz recht. Und wer sind Sie?«
Die Kommissarin stößt das Gartentor auf, stellt sich vor und reicht der anderen ihren Dienstausweis.
»Hat Herr Gastmann irgendetwas angestellt?«, erkundigt die sich erschrocken, nur um gleich anzufügen: »Er wirkt doch so nett und bescheiden.«
»Nein, gar nicht«, beruhigt Silja sie. »Ich würde nur gern eine Kleinigkeit klären. Wir ermitteln in der Mordsache Konrad Otze, vielleicht haben Sie schon im Radio davon gehört.«
»Eben gerade, das ist noch keine zehn Minuten her. Unglaubliche Geschichte.« Cornelia Burghardts Wangen röten sich deutlich. »Aber wollen Sie nicht reinkommen? Unser Mieter ist doch nicht etwa verdächtig?«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, antwortet Silja ausweichend. »Was ich aber gern wüsste, ist Folgendes: Gestern Nachmittag, als er bei Ihnen eingezogen ist, haben Sie ihn da in Empfang genommen?«
Ein Nicken ist die Antwort.
»Wirkte er irgendwie gehetzt?«
Cornelia Burghardt überlegt einen Moment. »Nein, gehetzt gar nicht, aber erschöpft war er und völlig verschwitzt. Ist ja auch ein Wahnsinn, mit dem Rollkoffer vom Bahnhof bis hierher zu laufen. So teuer sind die Taxis nun auch wieder nicht.«
»Und Sie sind sicher, dass er aus keinem Taxi oder irgendeinem anderen Wagen gestiegen ist?«
»Das hätte ich gehört. Sie merken ja selbst, wie still es hier ist. Jedes Auto, das kommt, wird sofort bemerkt. Ihres habe ich auch gleich registriert und mich gefragt, wer das ist.«
»Wissen Sie, ob sich Herr Gastmann hier auskennt? Also ich meine, hat er sich schon einmal bei Ihnen eingemietet?«
»Nein, warum fragen Sie?«
Silja zögert, sie weiß genau, dass Erinnerungen sehr leicht manipulierbar sind. Und sie will alles vermeiden, um durch voreilige Hinweise eine verfälschte Antwort zu bekommen.
»Könnten Sie mir einmal genau beschreiben, wie sich die Ankunft von Herrn Gastmann abgespielt hat?«, bittet sie daher vorsichtig.
Cornelia Burghardt überlegt kurz. Dann weist sie die Straße hinauf in die Richtung, in der sich der Morsumer Bahnhof befindet. »Er kam von dort, ich war gerade in der Küche und habe durchs Fenster schon den Rollkoffer gehört und ihn dann auch gesehen. Kurz vor unserem Haus ist er noch einmal stehen geblieben, um irgendetwas auf dem Handy zu checken. Vielleicht, ob er hier richtig ist oder so. Und weitergegangen ist er erst, nachdem er das Handy weggesteckt hatte.«
»Super«, freut sich Silja. »Da haben Sie mir schon sehr geholfen!«
»Echt jetzt? Wieso?«
Silja muss lachen. »Ich verstehe gut, dass Sie sich wundern. Aber es ging mir tatsächlich um das Handy. Es ist für uns nicht ganz unwichtig, ob Herr Gastmann sein Handy bei sich trug, als er zu Ihnen kam, oder nicht.«
Cornelia Burghardt nickt, schaut dabei aber immer noch ziemlich verwirrt aus. »Und wir müssen ganz sicher keine Angst vor ihm haben? Mein Mann ist viel unterwegs, und dann bin ich mit den beiden Kindern allein.«
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Herr Gastmann stellt bestimmt keine Gefahr für Sie dar«, beruhigt sie Silja. »Ist er übrigens gerade hier oder noch unterwegs?«
»Ich weiß gar nicht. Das Zimmer hat ja einen eigenen Eingang.« Cornelia Burghardt weist auf eine helle Wendeltreppe, die seitlich am Haus zu einem winzigen Podest hinaufführt.
»Darf ich?« Mit wenigen Schritten ist Silja an der Treppe und steigt behände hinauf. Oben klopft sie energisch an die Tür. Obwohl sie ziemlich lange wartet, öffnet niemand. Fast will sie schon aufgeben, entschließt sich dann aber doch, noch einen zweiten Versuch zu starten. »Herr Gastmann«, ruft sie mit lauter Stimme. »Herr Gastmann, wenn Sie da sind, dann machen Sie doch bitte auf.« Wieder rührt sich nichts.
Silja blickt nach unten, wo Cornelia Burghardt in komischer Verzweiflung die Schultern hebt, dann greift sie kurz entschlossen nach der Klinke und drückt sie herunter. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und auf einem ungemachten Bett kauert Enard Gastmann und starrt der Kommissarin aus großen Augen entgegen.
Silja atmet einmal tief durch. »Verstecken Sie sich vor uns?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur, also ich dachte …«, stammelt Gastmann nervös.
»Was dachten Sie?«
»Ich wollte allein sein«, antwortet der Dichter mit einer Stimme, die fast ein wenig patzig klingt.
»Sie haben uns angelogen.«
»Nein! Also warum? Wie kommen Sie darauf?«
»Das Handy, nach dem Sie angeblich heute Vormittag in der Pension Seemöwe gesucht haben, hatten Sie keineswegs dort vergessen. Sie haben es benutzt, um den Weg vom Bahnhof hierher zu finden.«
Enard Gastmann schlägt die Augen nieder. »Das stimmt«, murmelt er entschuldigend.
»Und warum haben Sie dann das Gegenteil behauptet?«
»Ihr Kollege hat mich gefragt, was ich an der Pension zu suchen habe, und um ehrlich zu sein, wollte ich ihm den wahren Grund nicht so gern nennen.«
»Jetzt werden Sie wohl kaum darum herumkommen.«
Während eine tiefe Röte Enard Gastmanns Gesicht überzieht, antwortet er leise: »Ich wollte noch einmal mit Konrad Otze reden. Jedenfalls wollte ich das versuchen. Ich wusste ja, dass er noch eine Woche in der Pension bleibt. Und als ich Licht hinter seinem Fenster gesehen habe, war ich gerade dabei, mir ein Herz zu fassen. Doch dann kam Ihr Kollege wie wild aus dem Haus gestürmt. Da habe ich gar nicht weiter nachgedacht, sondern bin einfach losgerannt.«
»Und das soll ich Ihnen jetzt glauben?«, fragt Silja in scharfem Tonfall.
Gastmann nickt und schiebt ein betretenes »Tut mir leid« hinterher.
Silja mustert den Dichter mit einem skeptischen Blick. »Ihnen ist schon klar, dass Sie sich mit Ihrer Lüge ziemlich verdächtig gemacht haben, oder?«
Enard Gastmann springt auf und geht quer durch den Raum auf die Kommissarin zu. Als er direkt vor ihr steht, sagt er eindringlich: »Nie hätte ich Konrad Otze irgendetwas zuleide tun können, das müssen Sie mir einfach glauben. Ich habe ihn bewundert, nein mehr noch: Ich habe ihn verehrt. Und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mich sein Tod schmerzt.«
»Das mag ja alles zutreffen. Jedenfalls für die Zeit vor dem Colloquium und vielleicht auch noch für die ersten Tage hier auf der Insel. Doch dann könnte sich Ihre Einstellung durchaus geändert haben. Denn Konrad Otze hat sich in seinen letzten Notizen nicht sehr schmeichelhaft über Sie geäußert. Vielleicht haben Sie die gesehen, oder es hat Ihnen jemand davon berichtet.«
»Nein, so war das nicht.« Jetzt schluchzt Gastmann und reibt sich verschämt über die Augen. »Konrad Otze war kalt und abweisend zu mir, das habe ich sehr wohl wahrgenommen, und das hat mich tief getroffen. Das Wissen darum, dass er auch meine neuesten Arbeiten nicht mehr geschätzt hat, trifft mich ebenso sehr. Aber nie, niemals hätte ich ihm etwas angetan. Ich habe … ich habe …«
Silja ahnt genau, was gleich kommen wird, und würde es dem gequälten Mann gern ersparen, es auszusprechen. Doch er ist schneller.
»Ich habe Konrad Otze geliebt«, presst Enard Gastmann heraus und lässt seinen Tränen freien Lauf.