Bastian Kreuzer ist frustriert. Der Mord ist knapp vierundzwanzig Stunden her, und nichts geht voran. Ausgerechnet die Hauptverdächtigen haben die lückenlosesten Alibis, und der Druck der Medien wird immer stärker.
Der Kommissar ignoriert das Gedrängel und Geschiebe am Tresen des beliebten Restaurants, schnappt sich die doppelte Portion Garnelen vom Grill und das große Bier, das er gerade geordert hat, und sucht sich einen Platz an der weiten Fensterfront. Immerhin das gelingt, er ist sogar allein an dem Vierertisch und kann in Ruhe über die Strandpromenade hinweg aufs Meer blicken. Draußen ist es bewölkt und ziemlich frisch, aber hier drinnen ist es warm, nur die Lautstärke stört. Die Stimmen der Gäste schwirren durch die Halle, Stühlerücken und das Gebimmel der kleinen Sender, die man nach dem Bestellen in die Hand gedrückt bekommt, verstärken den Lärmpegel noch. Überhaupt geht es hier zu wie in einem Bienenschwarm, es ist ein ständiges Kommen und Gehen.
Aber Bastian lässt sich davon nicht stören, er konzentriert sich auf seine Garnelen, die ganz frisch sind und kräftig nach Knoblauch schmecken. Das Bier passt nicht wirklich dazu, aber schon aus Prinzip wird er nicht auf Weißwein umsteigen. Als ein Touristenpärchen sich seinem Tisch nähert und fragt, ob hier noch frei sei, greift Bastian zu einer Notlüge und behauptet, seine Freunde kämen gleich nach. Er fühlt sich noch nicht einmal schlecht dabei, schließlich ist er im Dienst und muss dringend seine Gedanken sortieren. Und hier geht das in jedem Fall ungestörter als im Kommissariat, vor dem die Journalistenmeute immer größer wird, wie ihm Sven gerade am Telefon berichtet hat.
Die Schilderung von Svens Gespräch mit den beiden Mitarbeitern Pernille Aurichs war auch nicht gerade dazu angetan, Bastians Laune zu heben. Nichts Neues allerorten, nirgends eine heiße Spur, im Gegenteil, überall bekommen sie nur Alibis präsentiert, die sich vermutlich sogar als hieb- und stichfest erweisen werden. Selbst Silja hat mit ihrer klugen Nachforschung in Morsum nicht nur Enard Gastmanns Alibi bestätigt, sondern sogar ein plausibles Motiv für seine Handylüge gefunden.
Jetzt bleibt ihnen eigentlich nur noch eine einzige Hoffnung, wenn sie mit ihren Ermittlungen nicht völlig ins Leere laufen wollen. Bastian spießt die letzten beiden Garnelen auf seine Gabel, kaut kurz und spült dann mit dem restlichen Bier nach. Beim Aufstehen fängt er die wütenden Blicke des platzsuchenden Paares ein, das immer noch zwischen den Tischen umherirrt und jetzt natürlich begreift, dass er auf niemanden gewartet hat, sondern einfach nur seine Ruhe haben wollte. Wie Geier stürzen sie sich auf den frei werdenden Tisch.
Draußen ist es stürmischer als erwartet, und der Kommissar schließt schnell den Reißverschluss seiner Windjacke. Dann öffnet er das Auto, wirft sich hinters Steuer und fährt wenige Kilometer nach Süden. Auf dem Parkplatz der Nordseeklinik steigt er wieder aus, betritt das Krankenhaus und eilt zielstrebig in den Keller, wo sich das Reich des Rechtsmediziners Dr. Bernstein befindet.
Bastian klopft, wartet allerdings gar nicht erst auf eine Einladung einzutreten. Entsprechend schmallippig ist dann auch die Begrüßung.
»Kreuzer, ich wüsste nicht, dass wir verabredet wären«, nuschelt Bernstein, ohne groß von der Leiche aufzublicken, über die er sich gerade beugt.
Bastian bemüht sich, den üppigen Frauenkörper zu ignorieren, der nackt auf dem Seziertisch liegt und eindeutig vor der Zeit aus dem Leben gerissen worden ist.
»Ich störe Sie nur ungern, aber hey, ich brauche wirklich Ihre Hilfe.«
»Unser Freund liegt da hinten, falls Sie noch mal einen Blick auf ihn werfen wollen«, antwortet Bernstein mürrisch, während er bei der Frauenleiche zum großen Y-Schnitt ansetzt.
»Ich glaube kaum, dass mir Konrad Otzes toter Körper noch irgendwelche Geheimnisse verraten wird«, sagt der Kommissar mit abgewandtem Gesicht. »Was mich aber brennend interessiert, sind die Ergebnisse seiner Blutuntersuchungen. Aber wahrscheinlich müssen wir darauf noch warten.«
»Warum?«
»Äh, wie meinen Sie das?«
»Die Befunde sind vor einer Stunde gekommen.« Ohne aufzusehen, weist Bernstein auf einen schmalen Beistelltisch, der an einer Längswand steht und mit mehreren Papierstapeln bestückt ist. »Ich hatte allerdings noch keine Gelegenheit, reinzuschauen.«
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«
Es ist Bastian plötzlich völlig egal, dass Silja, Sven und auch er selbst sich längst angewöhnt haben, den Rechtsmediziner mit Glacéhandschuhen anzufassen, um ihn nur ja nicht zu reizen.
»Ich habe einen Mord aufzuklären, die Presse sitzt mir im Nacken, von der Flensburger Staatsanwältin gar nicht zu reden, und Sie trödeln hier mit den Untersuchungsergebnissen herum.«
Jetzt schaut Bernstein doch auf, und wenn Bastian sich nicht ganz täuscht, steht sogar so etwas wie die Bitte um Vergebung in seinem Blick. »Ich komme ja schon«, murmelt er jedenfalls, legt das Skalpell aus der Hand, wendet sich von der üppigen Dame auf seinem Seziertisch ab und dem obersten Blatt auf dem Beistelltisch zu.
Bastian kann seine Ungeduld kaum zügeln, und bei dem Gedanken daran, dass Bernstein vermutlich gleich einen seiner umständlichen Vorträge halten wird, bekommt er jetzt schon üble Laune. Endlos lange Sekunden studiert Bernstein schweigend den Befund. Und als er sich schließlich zu einer Erklärung herablässt, übertreffen die Worte des Rechtsmediziners sogar Bastians schlimmste Befürchtungen.
»Was haben wir denn da Feines? GHB, schau mal einer an«, verkündet Bernstein mit Triumph in der Stimme.
»Und was soll das sein?«
»Gammahydroxybutyrat. Das ist eine Substanz, die der Gamma-Aminobuttersäure recht ähnlich ist.«
»Und bitte was ist Aminobuttersäure?«
»Ein Botenstoff, der auch im menschlichen Gehirn vorkommt.«
»Ja, aber wir suchen doch nach einer Substanz, die von außen zugeführt worden ist«, mahnt Bastian ungeduldig. »Wir wollen wissen, ob Konrad Otze irgendwie betäubt oder vergiftet oder sonstwie unter Strom gesetzt worden ist.«
»Sie hören mir nicht zu, wie leider so oft, Kreuzer. Ich habe gesagt ähnlich, nicht gleich. GHB wurde früher in der Medizin als Narkosemittel eingesetzt, aber es gibt längst bessere, die weniger Nebenwirkungen haben. Trotzdem ist die Nachfrage immer noch riesig – allerdings außerhalb der Medizin.«
»Bitte werden Sie endlich konkret, Bernstein. Ich habe nicht ewig Zeit, um mir Ihre ausufernden Vorträge anzuhören.«
Bastian weiß genau, dass Silja und Sven, wenn sie anwesend wären, ihn spätestens jetzt insgeheim verwarnt und ihn gebeten hätten, Bernstein bloß nicht weiter zu reizen. Aber Bastian hält es vor Ungeduld einfach nicht mehr.
Und erstaunlicherweise reagiert der Rechtsmediziner völlig anders als erwartet. »Schade«, ist alles, was er sagt. Und dabei sieht er eher enttäuscht als beleidigt aus. »Aber wenn Sie es so eilig haben, will ich mal nicht so sein. Der Begriff Liquid Ecstasy sagt Ihnen aber schon was, oder?«
»Das ist dieses K.O.-Mittel, das Frauen in Diskotheken oder Clubs verabreicht wird, um sie gefügig zu machen. Kommt auch hier immer mal wieder vor. Ein Teufelszeug und schlecht nachzuweisen obendrein.«
»Ganz recht. Meist wird es in Tropfenform in Getränke geträufelt. Die Flüssigkeit ist farb- und geruchsneutral. Manchmal schmeckt sie etwas salzig, daher auch der Beiname Salty Water.«
»Und das hatte Konrad Otze im Blut?«
»Vermutlich, allerdings konnte ich das bei der Obduktion heute früh nicht mehr nachweisen. Wie Sie schon bemerkt haben, ist die Halbwertzeit von GHB äußerst gering. Im Blut beträgt sie maximal sechs Stunden, danach ist nur noch der natürliche GHB-Spiegel nachweisbar.«
»Aber Sie haben es doch nachgewiesen?«, setzt Bastian ungeduldig nach.
»Ganz recht, allerdings im Urin, wo es sich bei entsprechender Dosis maximal zwölf Stunden hält.«
»Die waren heute früh aber auch schon vergangen.«
»Was Sie nicht sagen.«
Der Rechtsmediziner macht eine Kunstpause und blickt den Kommissar auffordernd an. Bastian weiß nicht genau, was jetzt von ihm erwartet wird. Ein Lob? Eine Demutsgeste? Oder einfach die eindringliche Bitte, doch endlich weiterzureden?
»Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen«, erklärt Bernstein zum Glück. »Weil mir sowohl die Todesumstände als auch der Zustand unserer Leiche spanisch vorkamen, habe ich gleich gestern Abend Urin entnommen und den auf minus zwanzig Grad runtergekühlt. Auf diese Weise kann man dem Zerfall des GHB ein Schnippchen schlagen. Und tatsächlich konnte heute die Intoxikation im Labor nachgewiesen werden.«
»Intoxikation ist Vergiftung, sehe ich das richtig?«
»Goldrichtig. Irgendjemand hat Ihrem Opfer Liquid Ecstasy ins Essen oder in ein Getränk gemischt. Und das vermutlich in einer ziemlich heftigen Dosierung. Da muss man dann nur noch eine Viertelstunde warten, und schon hat man die erwünschte Wirkung.«
»Und das ist was genau? Herrgott, Bernstein, jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Detail einzeln aus der Nase ziehen.«
»Niedriger dosiert ist GHB angstlösend und stimulierend, was durchaus auch sexuell gemeint ist. Bei einer höheren Dosis wirkt die Substanz allerdings ganz anders. Dann kann sie Übelkeit bis zum Brechreiz auslösen, gefolgt von Halluzinationen und plötzlichem narkotischen Schlaf. GHB hemmt nämlich den Herzrhythmus und schlimmstenfalls auch das Atemzentrum, so dass es durchaus auch zu einem kompletten Kreislaufversagen mit tödlichem Ausgang kommen kann.«
»Es könnte also sein, dass Konrad Otze bereits tot war, als man ihn mit den Messern attackiert hat?«
»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Na, Sie haben doch eben selbst gesagt …«
»Sie sollten mir besser zuhören, Kreuzer«, seufzt der Mediziner. »Als wir kurz nach dem Exitus bei der Leiche standen, draußen in der Vogelkoje am Watt, daran erinnern Sie sich doch hoffentlich?« Bernsteins Tonfall ist zugleich fragend und vorwurfsvoll.
»Ja klar, das weiß ich noch genau«, beeilt sich Bastian zu sagen.
»Da habe ich Ihnen und Ihrem Kollegen etwas zur Reihenfolge der Stiche erklärt.«
Bernstein verstummt und wartet deutlich sichtbar auf eine Antwort. Bastian kommt sich vor wie ein Schüler in der Chemieprüfung, aber es hilft ja nichts. Er überlegt kurz, dann fällt ihm sogar die richtige Antwort auf die Frage ein.
»Bei den ersten Stichen hat das Opfer sehr viel stärker geblutet.«
»Ganz genau«, antwortet Bernstein zufrieden. »Wenn die Stiche aber postmortal ausgeführt worden wären, hätte es da wohl kaum Unterschiede gegeben.«
»Okay, das leuchtet ein. Also war Konrad Otze lediglich betäubt, als er getötet wurde. Damit erklärt sich auch das Fehlen von Abwehrverletzungen. Wie lange wirkt denn so eine Betäubung mit Liquid Ecstasy?«
»Bis zu drei Stunden, schätze ich.«
Bastian rechnet kurz nach und stellt dann zufrieden fest: »Na, das passt ja super. Um drei Uhr nachmittags ist Konrad Otze plötzlich vom Tisch aufgestanden und verschwunden, vermutlich wollte er aufs Klo, weil ihm übel wurde. Dort muss ihn jemand abgefangen und gewartet haben, bis er völlig wehrlos war. Gestorben ist er dann zwei Stunden später. Wir können also hoffen, dass er von dem brutalen Mord nicht mehr allzu viel mitbekommen hat.«
»Bleibt allerdings die Frage, wie jemand den schlaffen Körper unseres Klienten am Portal der Vogelkoje vorbeitragen konnte, ohne dass der Mann an der Kasse misstrauisch geworden ist«, murmelt Bernstein. Dann zuckt er die Schultern und wendet sich wieder dem Frauenkörper auf dem Seziertisch zu.
»Es gibt noch einen zweiten Weg zum Watt …«, beginnt Bastian.
Bernstein blickt irritiert auf. »Ach, plötzlich? Spielen Sie ein Spielchen mit mir?«
»Vielleicht.« Es freut den Kommissar diebisch, dass er endlich mal den Spieß umdrehen und Bernstein auf die Folter spannen kann.
»Also dann. Rücken Sie schon raus mit Ihrer Erklärung. Oder soll ich erst auf die Knie fallen?«
»So weit wollen wir es dann doch nicht kommen lassen«, antwortet Bastian amüsiert. »Meine Kollegin ist heute Mittag noch einmal vor Ort gewesen. Es gibt, wie gesagt, einen Weg außen am Gelände der Vogelkoje entlang, der ebenfalls zum Watt führt. Er dient zur Deichpflege und ist mit einer fetten Schranke, Stacheldraht und einem Vorhängeschloss gesichert. Mit dem Wagen kommt da niemand durch, aber zwei sehr kräftige Männer würden es möglicherweise schaffen, einen schlaffen Körper über den Stacheldraht zu hieven, ohne Spuren zu hinterlassen. Meine Kollegin war da zwar sehr skeptisch, aber ganz ausschließen wollte sie es auch nicht.«
»Interessante These«, sagt der Rechtsmediziner, greift nach seinem Skalpell und schneidet mit einer energischen Geste den Körper der Frauenleiche auf.
Bastian wendet sich schnell ab, bedankt sich kurz und schickt sich an, zu gehen. Doch als er bereits an der Tür ist, hält ihn die Stimme Bernsteins zurück.
»Und wie erklären Sie sich dann das Wasser an den Hosenbeinen des Opfers? Es ist übrigens eindeutig Salzwasser durchsetzt mit Schlickspuren, wie sie vorwiegend im Watt zu finden sind.«
»Ach Bernstein, dass Sie auch immer den Spielverderber geben müssen«, seufzt Bastian und muss sich widerwillig eingestehen, dass noch längst nicht alle Rätsel gelöst sind.