Silja Blanck ist irritiert. Sie sitzt nur wenige Meter von Bastian entfernt an ihrem Schreibtisch und hat sich eigentlich vorgenommen, die Protokolle der Zeugenvernehmungen noch einmal durchzugehen. Doch sie kann nicht umhin, dem Telefonat zu lauschen. Nicht alles kann sie aus Bastians Antworten erschließen, aber dass nun schon zum zweiten Mal ein deutlicher Verdacht auf Fred Hübner fällt, bekommt sie mit.
Und klar, sie hat ihn selbst am Tatort überrascht, sein Motiv, dort herumzustromern, war mehr als dürftig. Aber trotzdem kann sie sich nicht vorstellen, dass der Journalist ausgerechnet jetzt tatsächlich zum Mörder wird, nachdem sie ihn vor nicht mal einem Jahr schon ziemlich in der Zange hatten. Silja weiß natürlich, dass Fred Hübner sich für den Erwerb seiner Maisonette am Wenningstedter Dorfteich hoch verschuldet hat. Er ist darauf angewiesen, dass seine journalistische Arbeit, seine Buch- und Filmprojekte ordentlich Schotter abwerfen, damit er die Raten bedienen kann. Und Silja weiß auch genau, dass Fred nach seinen früheren Jahren an der Kante zur Obdachlosigkeit eines ganz sicher nicht will: dorthin zurück, wo er hergekommen ist.
Aber reicht das, um zum Mörder an dem Mann zu werden, der vielleicht das Zeug gehabt hätte, um Fred in der Öffentlichkeit zu ruinieren? Und wäre das Konrad Otze überhaupt möglich gewesen? Silja hat da so ihre Zweifel. Klar, seriöse Medien könnten sich von Hübner abwenden, doch andererseits wäre gerade eine Negativpropaganda eben auch Propaganda, zumal für einen Sensationsjournalisten.
Sobald Bastian sein Telefonat beendet hat, werden sie das besprechen müssen, und zwar dringend. Morgen früh sollten sie der Staatsanwältin gegenüber eine fundierte Meinung haben, denn Elsbeth von Bispingen ist in jedem Fall voreingenommen, sosehr sie sich auch um Neutralität bemühen mag.
Das Klingeln des Apparats auf ihrem Schreibtisch schreckt Silja aus ihren Gedanken. Eine Kollegin von unten ist am Telefon, die einen Anruf zum aktuellen Fall durchstellen möchte.
»Und wen genau habt ihr da in der Leitung?«
»Sein Name ist Beat Tiedjens.«
»Der Name sagt mir irgendwas. Aber ich komme nicht drauf, was genau.«
»Er klingt seriös und wirkt ziemlich energisch.«
»Okay, ich rede mit ihm.«
Sekunden später dringt eine sonore Männerstimme an Siljas Ohr. »Tiedjens, Hamburg. Sie sind die ermittelnde Kommissarin, ja? Ich habe gerade mit dem Verantwortlichen für M-J-Monthly geredet.« Der Anrufer macht eine Pause, als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion. Doch Silja schweigt. Entweder steht sie total auf der Leitung, oder der Typ ist doch einer von den Besserwissern, die sich früher oder später in jedem Fall zu Wort melden.
»M-J-Monthly, die Talkshow von Melinda Jakobsen. Die werden Sie ja wohl kennen«, fügt er ungeduldig hinzu.
Jetzt fällt bei Silja der Groschen. Am Telefon ist der Typ, mit dem Melinda Jakobsen am Abend des Mordes eine dienstliche Verabredung hatte. Bastian und sie haben die Moderatorin selbst zur Sansibar gefahren.
»Ah ja, natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mir gar nicht, vermutlich. Aber ich Ihnen vielleicht.« Jetzt wird seine Stimme etwas zögerlich. »Es geht um den Mord an Konrad Otze. Die sozialen Medien sind seit einigen Stunden voll davon. Eine offizielle Bestätigung habe ich bisher noch nicht gefunden, aber ich nehme an, es handelt sich hier nicht um eine Ente.«
»Nein, die Information ist zutreffend, auch wenn wir uns vorbehalten, Einzelheiten erst später bekanntzugeben.«
»Das ist Ihre Sache, allerdings kann ich als Medienmensch das kaum gutheißen.«
»Herr Tiedjens, Sie haben mich sicher nicht angerufen, um sich über unser Vorgehen zu beschweren, also kommen Sie bitte zur Sache.«
»Gern. Ich möchte vorausschicken, dass ich Melinda um Gottes willen nicht belasten will, sie war immer eine sehr zuverlässige und korrekte Mitarbeiterin.«
»Aha. Aber?«
Beat Tiedjens räuspert sich mehrmals, es ist ihm hörbar unangenehm, sich zu erklären. »Ich hatte gestern Abend eine Besprechung mit Melinda. Es war ein Treffen, zu dem ich sie gebeten hatte, um ihr etwas extrem Unangenehmes mitzuteilen. Melindas Talkshow, deren Namen Sie, Frau Kommissarin, eben noch nicht einmal zuordnen konnten, auch das ein Hinweis für mich, dass meine Entscheidung längst überfällig war, also diese Talkshow hat seit Monaten immer miserablere Quoten, und daher habe ich mich entschlossen …«
»Die Talkshow abzusetzen?«, beendet Silja den Satz des Intendanten, bevor der sich in noch längeren Wortkaskaden ergehen kann.
»Nein, wo denken Sie hin? Die Show an sich ist gut. Nur Melinda ist eben, wie soll ich sagen? Etwas out of date vielleicht?«
»Das kann ich kaum beurteilen, Herr Tiedjens. Aber ich sehe immer noch nicht, was das Ganze mit unserem Fall zu tun haben sollte.«
»Ich sag’s Ihnen. Als Ersatz für Melinda war niemand anderes als Konrad Otze geplant, der Mann, der offenbar wenige Stunden vor unserem Treffen ermordet worden ist.«
»Vor Ihrem Treffen, genau. Wenn Sie also Frau Jakobsen erst gestern Abend über Ihren Entschluss informiert haben, wo soll dann der Zusammenhang sein?«
»Seien Sie doch nicht so naiv, Frau Kommissarin. Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass gerade die Medienlandschaft ein Tratschverein allererster Güte ist. Es könnte also durchaus sein, dass intern längst etwas zu Melinda durchgedrungen ist. Außerdem haben, wenn ich das richtig recherchiert habe, Melinda und Konrad die vergangene Woche bei einem gemeinsam abgehaltenen Colloquium auf Sylt verbracht. Aus unserer Sicht natürlich eine nicht wirklich ideale Kombi. Daher bin ich auch, so schnell es mein Terminkalender erlaubte, rübergekommen, um Melinda zu informieren. Geplant war das ursprünglich erst für den nächsten Monat.«
»Herr Otze wusste also Bescheid?«
»Selbstverständlich. Wir hätten ihn ja wohl kaum ohne sein Einverständnis zu Melindas Nachfolger machen können.«
»Sie wollen also unterstellen, dass Frau Jakobsen bereits während des Colloquiums von ihrer drohenden Absetzung gewusst oder es in der vergangenen Woche vielleicht sogar von Herrn Otze selbst erfahren hat, und deshalb …«
»Ich unterstelle gar nichts«, fällt der Intendant ihr ärgerlich ins Wort. »Ich informiere Sie lediglich über Hintergründe, die für Ihre Ermittlungen von Interesse sein könnten. Und selbstverständlich möchte ich Sie bitten, diese Infos vertraulich zu behandeln.«
»Selbstverständlich. Darf ich fragen, wie Frau Jakobsen auf die Information, dass sie ersetzt werden soll, reagiert hat? Zu dem Zeitpunkt, als das Gespräch zwischen Ihnen beiden stattfand, wusste sie nämlich schon von Konrad Otzes Tod. Sie hat es unmittelbar vor Ihrem Treffen von uns erfahren.«
»Also das überrascht mich jetzt wirklich. Gesagt hat sie nämlich nichts davon. Und das wäre doch vielleicht eine naheliegende Reaktion gewesen, oder?«
»Nicht unbedingt. Wir hatten Frau Jakobsen eindringlich um Stillschweigen gebeten. Natürlich ohne zu wissen, dass es in dem bevorstehenden Gespräch ausgerechnet um das Mordopfer gehen würde. Trotzdem noch einmal meine Frage: Wie hat sie auf die Ankündigung ihres Rauswurfes reagiert?«
»Rauswurf ist vielleicht ein wenig hart …«
»Die Wortwahl ist jetzt völlig gleichgültig. Bitte beantworten Sie einfach meine Frage.«
»Sehr gern. Melindas Reaktion war nämlich extrem ungewöhnlich für ihr Naturell. Und ich kenne sie wirklich schon lange und sehr gut. Sie hat absolut cool reagiert, fast schon spöttisch. Na, dann habe ich in Zukunft ja endlich mehr Zeit für meine anderen Projekte. Das war fast alles, was sie zu meiner Ankündigung zu sagen hatte.«
»Und welche Reaktion hätten Sie erwartet?«
»Ganz klar einen Wutanfall. Und Attacken gegen ihren designierten Nachfolger. Melinda ist eine Wölfin. Sie beißt jeden weg, der ihr in die Quere kommt. Sie wirkt zwar immer so beherrscht und kontrolliert, aber das ist alles Show. Wenn du ihr Probleme machst, dann tut sie alles, um dir noch größere zu machen. Das ist schon immer ihre Devise gewesen, und damit ist sie auch weit gekommen. Bisher jedenfalls.«
»Okay, danke für Ihre Offenheit. Wir kümmern uns darum. Falls wir noch Fragen haben …«
»Jederzeit. Gern. Abschließend hätte ich selbst allerdings noch eine Frage.«
»Bitte.«
»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, mit uns zusammenzuarbeiten?«
»Soll heißen?«
»Wie auch immer dieser Fall ausgeht, eine Verfilmung würde mit Sicherheit ein Knaller in der Primetime werden. Vor allem, wenn wir ein paar Insiderinfos von Ihnen bekommen könnten.«
»Vergessen Sie’s«, faucht Silja und legt grußlos auf.