Sonntag, 28. September, 19.01 Uhr, Westerheide, List

Feuerrot hängt der Sonnenball hinter der Lister Wanderdüne. Die Luft ist fett und feucht, es hat bis vor kurzem gestürmt und geregnet, doch in der letzten Stunde hat sich der Wind gelegt, nachdem er fast alle Wolken vom Himmel gefegt hat. Jetzt stehen Sand und Gräser in Flammen, das unwirkliche Rot verzaubert die Landschaft und lässt Pfützen und Tropfen funkeln und glühen wie kostbare Edelsteine.

Während Bastian das Auto über die gerade Straße steuert, die quer durch die Heide hinauf nach List, Deutschlands nördlichstem Hafen, führt, kann Silja den Blick nicht von dem Spektakel abwenden. Man kann noch so lange auf der Insel leben, denkt sie hingerissen, aber am Sonnenuntergang wird man sich nie sattsehen.

Silja ist so konzentriert auf den Feuerball und seine

»Du hast recht, plötzlich passt vieles zusammen«, murmelt sie, während der Sonnenball die Dünenkante anknabbert und einzelne Halme sich wie Speerspitzen in das glühende Rund bohren. »Melinda Jakobsen hat ein fettes Motiv, und sie hatte die Gelegenheit, die K.O.-Tropfen in Otzes Getränk zu versenken, denn sie saß beim Abschiedsessen direkt neben dem Kritiker.«

»Dazu kommt Folgendes«, ergänzt Bastian, während er von der Hauptstraße abbiegt und den Wagen auf einem gewundenen Pfad die Anhöhe hinauflenkt, wo das Ferienhaus der Fernsehmoderatorin steht. »Weil Otze mit seiner Meinung über die anderen Colloquiumsteilnehmer nicht hinterm Berg gehalten hat, konnte die Jakobsen davon ausgehen, dass durchaus auch auf einige der anderen Teilnehmer ein Verdacht fallen würde.«

»Und als sie sich nach Otzes Verschwinden die Tür zu seinem Zimmer hat öffnen lassen, lagen auf dem Fensterbrett wie bestellt die Entwürfe der Verrisse. Eine bessere Bestätigung hätte sie sich nicht wünschen können.«

Während sie redet, beobachtet Silja, wie der Sonnenball in Sekundenschnelle tiefer sinkt. Schon ist er nur noch ein Halbrund, immer mehr Schatten füllen die Dünentäler, das tiefe Rot hebt sich und wird opak, dann plötzlich ist die Sonne weg, der Himmel glüht noch etwas nach, bis auch er sich

Inzwischen hat Bastian direkt vor dem Ferienhaus Melinda Jakobsens geparkt und den Motor abgestellt. Das reetgedeckte Haus hat seinen Eingang und die Zufahrt auf der Nordseite. Hier präsentiert es sich abweisend, mit tiefgezogenem Dach und kleinen Fenstern, in denen zum Teil Butzenscheiben sitzen. Keines der Fenster ist erleuchtet.

»Ich hoffe, wir treffen die Jakobsen überhaupt an«, sagt Bastian, während er aussteigt.

»Du hast sie nicht vorher angerufen?«

»Ich wollte sie nicht vorwarnen. Vermutlich geht sie davon aus, dass wir nicht mehr an ihr interessiert sind.«

Bastian geht zur Haustür, drückt auf den blankpolierten Messingklingelknopf und wartet ab. Nichts geschieht.

»Soll ich mal außen rumgehen und gucken, ob jemand auf der Terrasse ist?«, schlägt Silja vor.

»Bleib noch einen Moment, ich glaube, ich habe Schritte gehört.«

Sekunden später wird die Haustür geöffnet. Melinda Jakobsen trägt einen Strickzweiteiler in hellem Beige, der außer seiner Form nichts mit herkömmlichen Jogginganzügen gemein hat. Er wirkt ebenso schlicht wie teuer und ist vermutlich aus reinem Kaschmir, schießt es Silja durch den Kopf.

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigt sich Melinda Jakobsen mit abweisender Stimme. Es ist offensichtlich, dass sie die beiden Kommissare nicht erkennt. Wortlos hält ihr Bastian seinen Dienstausweis unter die Nase.

»Ach, Sie sind es …«, beginnt die Moderatorin, wobei sie ebenso hilf- wie ratlos wirkt. Allerdings macht sie keine Anstalten, Silja und Bastian hereinzubitten.

Silja und Bastian wechseln einen Blick, und Silja glaubt zu wissen, dass Bastian das Gleiche denkt wie sie selbst. Die Jakobsen hat einen Liebhaber zu Besuch.

Die Diele des Hauses ist geräumiger, als Silja von außen vermutet hätte, und der Wohnraum, den die drei durch eine verglaste Flügeltür betreten, wird durch ein großes Panoramafenster nach Westen belichtet. Doch anstelle eines Kerls sitzt auf dem Sofa eine Frau, die die Kommissare kennen. Die Sachbuchautorin Saskia Grothe lümmelt sich entspannt in die Kissen und staunt nicht schlecht, als sie die Ermittler erblickt. Sie trägt auch jetzt einen ihrer weiten Kaftane, diesmal ist er hellgrün und mit blau schimmernden Pfauen bestickt. Auf dem niedrigen Couchtisch stehen einige Knabbereien und zwei gut gefüllte Rotweingläser.

»Entschuldige, Saskia«, beginnt die Jakobsen mit einer ratlosen Geste, »ich habe nicht ahnen können, dass wir heute Abend noch Besuch bekommen.«

»Sie schon wieder«, seufzt die Grothe, ohne dass sie sonderlich besorgt wirken würde.

»Uns war nicht klar, dass Sie beide eine Freundschaft verbindet«, erklärt Bastian, während er sich auf das zweite Sofa fallen lässt.

Über Saskia Grothes Gesicht huscht ein kleines Lächeln, dann sagt sie ernst: »Wir sind uns tatsächlich erst heute Abend

Silja ist nicht sicher, aber sie kann das Gefühl nicht abschütteln, dass die Grothe ihre Aussage bewusst zweideutig formuliert. Sind die beiden jetzt ein Paar, oder redet sie von einer beruflich bedingten Annäherung? Doch die Kommissarin muss nicht lange warten, bis Melinda Jakobsen die Situation klärt.

»Ich habe Saskia zu einem vertraulichen Gespräch hergebeten, weil ich ihr einen Vorschlag machen wollte, der unser beider berufliche Zukunft betrifft.«

»Interessant«, wirft Bastian ein, und Silja wundert sich ein bisschen, warum er nicht gleich zur Sache kommt.

»Mein Sender will mich aus der Talkshow raushaben. Obwohl die Quoten gar nicht so schlecht sind, wie sie dort behaupten, hatten sie den Plan, mich durch einen populäreren Moderator zu ersetzen.« Die Jakobsen wirft die Worte achtlos in den Raum, als handle es sich um eine Lappalie. Während sie redet, holt sie zwei weitere Gläser aus einer antiken Anrichte und wendet sich fragend an die Ermittler. »Rotwein oder Wasser?«

»Danke, nichts«, antwortet Bastian und setzt sofort nach: »Seit wann wissen Sie von den Absichten des Senders?«

»Seit gestern Abend. Sie beide haben mich selbst zu dem Termin mit Beat Tiedjens gefahren.« Melinda Jakobsen stellt die Gläser zurück in die Anrichte und setzt sich auf einen niedrigen Schemel an der Schmalseite des Couchtischs. Sie greift nach dem dort stehenden Rotweinglas und trinkt bedächtig. Dann stellt sie das Glas vorsichtig wieder ab und redet achselzuckend weiter. »Bedauerlicherweise hat sich der

»Moment mal. Nur damit ich das recht verstehe«, unterbricht Bastian. »Sie führen die Talkshow nicht weiter, obwohl Otze ja nun aus dem Rennen ist?«

»Wie komme ich dazu?« Melinda Jakobsen stößt ein kurzes Lachen aus, das leicht hysterisch klingt. »Die wollten mich loswerden, das können sie haben. Ich habe schon vor längerer Zeit eine nicht uninteressante Anfrage eines Privatsenders erhalten. Eine Talkshow für Frauen im besten Alter, moderiert von einem prominenten Duo. Bei der Wahl der Co-Moderatorin hätte ich ein Mitspracherecht. Und die Gage wäre doppelt so hoch wie bei den Öffentlich-Rechtlichen.«

»Verstehe«, sagt Bastian lahm. »Und bei der Co-Moderatorin haben Sie an Frau Grothe gedacht?«

»Ganz recht. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, hatten aber immerhin während des Colloquiums eine Woche Zeit, uns ein wenig zu beschnüffeln. Und heute Abend haben wir erstaunlich viele Gemeinsamkeiten entdeckt.«

»Klingt nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen«, murmelt Bastian und schaut dabei ein wenig unsicher drein. Silja ahnt, dass ihm das Gleiche durch den Kopf geht wie ihr selbst. Wenn die Jakobsen das enorme Risiko auf sich genommen hätte, Konrad Otze aus dem Weg zu schaffen, dann doch vermutlich nur, um ihren Job zu behalten. Wenn sie sich ohnehin beruflich umorientieren wollte, und sei es auch nur aus gekränkter Eitelkeit, dann würde sie sich wohl kaum mit einem Mord belasten.

Während sie nachdenkt, spürt Silja den Blick Saskia Grothes auf sich. Er ist deutlich amüsiert und kein wenig ängstlich. Auch die Moderatorin scheint sich in der entstandenen Stille wieder auf ihre Souveränität besonnen zu haben.

Aber Bastian lässt sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen. »Wie haben bei der Durchsuchung von Konrad Otzes Zimmer eine interessante Entdeckung gemacht. Dazu würden wir Ihnen gern einige Fragen stellen. Und auch für Sie«, er wendet sich mit einem verbindlichen Lächeln Saskia Grothe zu, »dürften unsere Informationen nicht uninteressant sein.«

Sofort hat Bastian die volle Aufmerksamkeit der beiden Damen. Er berichtet kurz von den beleidigenden Verrissen, die sich auf dem Fensterbrett Otzes gefunden haben, und schließt mit den Worten: »Da Sie, Frau Jakobsen, mit Herrn Hübner ja vor uns in Herrn Otzes Zimmer waren, wüssten wir gern, ob einer von Ihnen beiden Notiz von den Papieren auf der Fensterbank genommen hat.«

Melinda Jakobsen denkt kurz nach, dann schüttelt sie entschieden den Kopf. »Ganz sicher nicht. Ich selbst kann mich noch nicht einmal an irgendwelche Papiere erinnern, und auch Fred Hübner hat nirgendwo herumgestöbert. Wir waren beide viel zu beklommen und auch besorgt, was den Verbleib Konrad Otzes anging. Wir haben das unbenutzte Bett gesehen, dann kurz ins Bad geschaut, anschließend noch geprüft, ob er seine Koffer vielleicht für eine vorgezogene Abreise gepackt hatte, was nicht der Fall war, und dann sind wir wieder abgezogen. Im übrigen frage ich mich, wozu uns die Entdeckung von irgendwelchen beleidigenden Schriften

»Nein, nein, das ist schon richtig«, beginnt Bastian, wird aber von Saskia Grothe unterbrochen.

»Um wen ging es denn in diesen abfälligen Kritiken?«

»Um Enard Gastmann und Fred Hübner. Und nicht zuletzt um Sie, Frau Grothe.«

»Dachte ich’s mir doch. Das kleine Arschloch hat sich auch an Sachen aufgegeilt, die es überhaupt nicht beurteilen konnte. Wundert mich nicht, dass da jemand durchgedreht ist.«

»Denken Sie dabei an jemand Bestimmten?«, hakt Silja nach, der bewusst ist, dass sowohl Enard Gastmann als auch die Grothe selbst ein lückenloses Alibi für die Tatzeit haben.

»Das tue ich tatsächlich«, flötet Saskia Grothe mit harmloser Stimme. »Aber ich werde einen Teufel tun, hier irgendwelche Verdächtigungen auszusprechen. Schließlich ist es Ihr Job, denjenigen aufzustöbern, der am meisten von Otzes Tod profitiert.«

»Danke, darauf wären wir jetzt von selbst nicht gekommen«, entgegnet Bastian verärgert und setzt gleich darauf hinzu: »Und da Sie offenbar nicht von selbst kooperationsbereit sind, sehen wir uns gezwungen, ein wenig nachzuhelfen.«

»Ach was. Und wie soll das aussehen?« Die Grothe fläzt sich betont entspannt in ihren Sessel. Die Botschaft ist sonnenklar. Ihr könnt mir gar nichts.

»Wir müssen Ihrer beider kostbare Zeit leider morgen Nachmittag für zwei Stunden beanspruchen. Zwischen drei und fünf werden wir den Ablauf des Abschiedsessens mit allen Beteiligten nachstellen.«

»Ich muss mich auf eine Lesung vorbereiten«, assistiert die Grothe.

»Beides wird warten müssen. Sie möchten sicher nicht riskieren, von uniformierten Kollegen zu unserem kleinen Treffen begleitet zu werden. Ich erwarte Sie also morgen pünktlich um drei in der Pension Seemöwe«, kontert Bastian kühl. Dann steht er auf. »Wir wünschen Ihnen noch einen vergnüglichen Abend.«

Silja bleibt noch einen Augenblick sitzen, um die Reaktion der beiden Frauen zu studieren. Doch zu ihrer Enttäuschung zeigen deren Gesichter weder Wut noch Angst. Melinda Jakobsen und Saskia Grothe sehen im Gegenteil tatsächlich ziemlich vergnügt aus.