Montag, 29. September, 07.40 Uhr, Sylt-Shuttle, Niebüll

Die Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen stellt den Motor ihres BMW-Cabriolets aus und lässt sich im Sitz zurücksinken. Sie hat sich ganz bewusst dafür entschieden, mit dem Wagen auf die Insel zu kommen, obwohl es mit der Bahn vermutlich schneller gegangen wäre. Aber in früher Morgenstunde fröstelnd auf einem Bahnhof stehen und dann vielleicht auch noch auf einen verspäteten Zug warten zu müssen, danach stand ihr nun wirklich nicht der Sinn. Dann schon lieber etwas länger fahren und die eigene Musik hören anstelle von irgendwelchen überlaut geführten Telefonaten.

Die Strecke von Flensburg nach Niebüll war für einen Montagmorgen erstaunlich frei, und auch am Autozug war nicht richtig viel Betrieb. Elsbeth steht mit ihrem Wagen ganz vorn direkt hinter der Lok, sie wird also auf der Insel als Erste vom Shuttle fahren, das hat sie noch nie erlebt und hält es für ein gutes Omen.

Während der Shuttle ruckelnd anfährt, schließt die

Nebel liegt über den Feldern und Wiesen, einzelne Krähen fliegen auf, Schafe heben sich verschlafen aus dem nassen Gras und trotten zwischen ihren noch ruhenden Artgenossen herum. Eine matte Sonne steht tief am Horizont, seit einer Viertelstunde kämpft sie eine schier aussichtslose Schlacht gegen Wolkenbänder und Dunst. Als eine Reihe von Heuhaufen ins Bild tritt, muss Elsbeth an die impressionistischen Bilder Monets denken, die sie vor einigen Jahren in Paris bewundert hat. Diffuses Licht, müde Farben und eine Landschaft, die gerade durch ihre Eintönigkeit bezaubert. Claude Monet hätte auch in Nordfriesland seine Motive gefunden, denkt Elsbeth verträumt, doch dann reißt sie sich zusammen, schließlich geht es hier und jetzt nicht um Malerei, sondern um Mord.

Entschlossen greift sie nach dem Packen Zeitungen, um zu sehen, was die Journaille aus den wenigen Informationen gemacht hat, die schon vorab an die Öffentlichkeit gedrungen sind. In der Süddeutschen gibt es einen trockenen Vierzeiler zu dem Mord, die FAZ liefert einen provisorisch klingenden Nachruf auf den Kritiker, ohne groß auf seine Todesumstände einzugehen. Die SHZ widmet dem Vorfall immerhin eine

Als Letztes nimmt sich Elsbeth den Sylter Anzeiger vor. Schon auf der Titelseite prangt ein überscharfes Foto der Bank am Watt, im Hintergrund ist deutlich die rot-weiße Polizeiabsperrung zu sehen. Auch die Headline ist reißerisch: Promi-Kritiker erstochen. Was Elsbeth allerdings besonders ins Auge springt, ist der Untertitel. Mord nach Vorlage.

Vorlage? Welche Vorlage?

Neugierig beginnt Elsbeth zu lesen. Und dann gehen ihr die Augen auf. Natürlich: der Agatha-Christie-Bestseller Mord im Orient-Express. Warum ist sie nicht längst selbst darauf gekommen? Und was für Schnarchnasen sind die drei Kommissare eigentlich, dass sie diese Spur nicht von Anfang an verfolgt haben?

Es ist gar nicht so lange her, da hat Elsbeth im Fernsehen die Neuverfilmung des Krimiklassikers gesehen. Eine Gruppe von Reisenden besteigt in Istanbul den legendärenOrient-Express, und schon in der ersten Nacht stirbt einer der Gäste durch etliche Messerstiche. Nur durch einen Zufall ist der berühmte Detektiv Hercule Poirot an Bord und klärt den Mord auf, bevor der Zug sein Ziel erreicht. Poirots Fazit: Alle Mitreisenden hatten ein Motiv und haben nacheinander auf das Opfer eingestochen.

Genüsslich werden diese Fakten in dem Leitartikel ausgebreitet und die Parallelen zum aktuellen Mordfall deutlich markiert. Sechs Messer, sieben Teilnehmer des Colloquiums,

Elsbeth muss sich sehr zusammenreißen, um den Artikel zu Ende zu lesen, ohne auf den Verfassernamen zu schielen. Denn schon nach den ersten Zeilen hat sie einen dringenden Verdacht. Die Freude, mit der hier Bildungswissen ausgebreitet und klug kombiniert wird, die Eleganz der Argumentation und die subtil eingefügten Seitenhiebe auf die Sylter Ermittler lassen eigentlich nur einen einzigen Schluss zu: Niemand anderes als Fred Hübner dürfte hinter dem Text stecken, zumal Fred beste Beziehungen zu der Zeitung hat.

Doch als Verfasser fungiert ein gewisser Theobald Tiger, ein Name, der nicht nur ungewöhnlich klingt, sondern Elsbeth auch entfernt bekannt vorkommt. Sie muss nicht lange nachdenken, dann fällt es ihr ein. Theobald Tiger war eines der vielen Pseudonyme, derer sich Kurt Tucholsky bei seinen journalistischen Arbeiten in den zwanziger Jahren bedient hat. Klar, denkt Elsbeth sofort, wenn Fred sich schon für ein Pseudonym entscheidet, dann macht er es nicht unter einem berühmten Namen.

Die viel spannenderen Fragen sind allerdings andere. Warum wählt er ein Pseudonym? Warum schreibt er überhaupt über einen Fall, in dem er zum engsten Kreis der Verdächtigen gehört? Und schließlich: Woher, zum Teufel, hat er die Insiderinformationen über die Todesumstände?

Niemand außer den Ermittlern und Elsbeth selbst weiß davon. Mit einer Ausnahme. Der oder die Mörder wissen ebenfalls Bescheid.

Der Autozug hat inzwischen die Insel erreicht, Elsbeth

Wie wahrscheinlich ist es, dass Fred durch eine Recherche an die brisanten Informationen gekommen ist? Oder andererseits: Wie dumm müsste er sein, diese Dinge preiszugeben, sollte er tatsächlich involviert sein?

Während Elsbeth unkonzentriert das Vorbeirauschen des Morsumer und des Keitumer Bahnhofs, den kurzen Blick auf die Severinskirche im Morgennebel und dann auch schon die schier endlos erscheinende Reihe der Tinnumer Werbetafeln längs der Strecke registriert, wird ihr eines immer klarer: Fred Hübner wird um ein Gespräch mit ihr nicht herumkommen, egal ob es ihm passt oder nicht.

Die spannende Frage ist jetzt nur noch, ob es bei dieser Unterredung ausschließlich um ermittlungstechnische Dinge gehen soll oder ob sie auch versuchen wird, die Kränkungen des letzten Winters und die darauffolgende Funkstille zwischen ihnen beiden anzusprechen.