Fred Hübner sitzt auf seinem Sofa und starrt ins Leere. Mechanisch hat er gleich nach seiner Rückkehr in die Wohnung die Espressomaschine angeworfen, eine Kapsel eingelegt und den Startknopf gedrückt. Doch als der Espresso fertig war, hat er vergessen, sich die Tasse zu holen, so intensiv hing er in Gedanken dem gerade erfolgten Gespräch nach. Immer noch sieht er Elsbeths wütende Miene vor sich, hört ihre ätzenden Bemerkungen und erinnert sich nur zu gut an seine kläglichen Bemühungen, sein Vorgehen zu rechtfertigen.
Wenigstens haben weder Elsbeth noch Kommissar Kreuzer versucht, ihm den Mord anzuhängen. Aber natürlich hat es massig Ärger gegeben wegen des Artikels für den Sylter Anzeiger. Nachdem sie ihm ordentlich die Meinung gegeigt hatten, durfte Fred immerhin seine Überlegungen zur Motivation des Täters erläutern. Während er sprach, war aus den Pokerfaces von Staatsanwältin und Hauptkommissar allerdings nicht ersichtlich, ob er sie auch überzeugen konnte.
Und jetzt sitzt er hier und weiß nicht mehr weiter.
So viele Erinnerungen sind hochgekommen, als er Elsbeth gegenüberstand. Elsbeth verschlafen morgens im Bett, Elsbeth nackt unter der Dusche. Elsbeth fröhlich, Elsbeth traurig, Elsbeth wütend. Vor allem das. Die Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen wütend im Streit mit ihm. Immer wieder haben sie sich gezofft, immer wieder hat sich Elsbeth über seine Einmischungen beschwert. Wie konnte er nur jemals annehmen, dass das gutgehen würde? Ein Wunder, dass ihre Beziehung überhaupt knapp zwei Jahre gehalten hat, bevor es im letzten Winter zum endgültigen Bruch kam.
Fred war damals unendlich gekränkt, verletzt und sauer gewesen. Er hatte seine Partnerin als zutiefst illoyal erlebt und war fest davon überzeugt gewesen, dass sie damit ihrer Beziehung den Todesstoß versetzt hatte. Jeden Versuch Elsbeths, sich zu entschuldigen, hatte er abgewehrt und den Kontakt abrupt abgebrochen.
Und jetzt?
Er sieht sie nach neun Monaten zum ersten Mal wieder, sie zickt rum wie üblich, und wie reagiert er?
Er findet sie sexy.
Wenn das nicht vollkommen irre ist!
Aber was soll er machen?
Während Kommissar Kreuzer und Elsbeth ihm in der vergangenen Stunde zugesetzt haben und er alle verfügbaren intellektuellen Kapazitäten mobilisiert hat, um die beiden von seiner Theorie zu überzeugen, musste er immer wieder den Drang unterdrücken, diese wutschnaubende Furie mit den feuerroten Locken einfach in den Arm zu nehmen. Jeder ihrer Killerblicke erinnerte ihn an hitzige Diskussionen und geistreiche Schlagabtausche, die nicht selten in temperamentvolle Nächte mündeten.
Wie kann es sein, dass ich das nicht längst viel schmerzlicher vermisst habe?
Wie sehr habe ich mich vor mir selbst verstellt, um eine vermeintliche Schmach zu rächen?
Und, dies ist die wichtigste aller Fragen, die Fred Hübner durch den Kopf schießen: Geht es Elsbeth vielleicht genauso? Oder sieht sie in mir immer noch nur den lästigen Kerl, der sich damals an sie herangewanzt hat, um an Insiderinfos über diverse Verbrechen zu kommen?
Denn genau das hatte sie ihm in ihrem letzten Streit vorgeworfen, der dann auch den absoluten Endpunkt ihrer Beziehung markiert hat.
Jetzt steht Fred auf, holt die Espressotasse von der Maschine und kippt die Flüssigkeit mit einer einzigen Bewegung hinunter. Der Kaffee ist kalt und schmeckt nicht mehr. Er beschließt, sich noch eine Tasse zu brühen. Schließlich warten sie beim Sylter Anzeiger ungeduldig auf weitere saftige Enthüllungen. Oder zumindest auf einen angemessen reißerischen Bericht von der Pressekonferenz. Als jetzt auch noch Freds Handy klingelt, ist er sich sicher, dass der Anrufer nur ein ungeduldiger Stefan Molsheim sein kann, der ihn zur Eile mahnen will. Doch bevor Fred nach seinem Handy greifen kann, schellt es auch an der Tür.
Fred beschließt, das Telefon zu ignorieren, auch wenn er mit ausgesprochen zwiespältigen Gefühlen die Diele durchquert. Er glaubt, genau zu wissen, wer da draußen so ungeduldig klingelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Kommissar Kreuzer sich mit einem Durchsuchungsbeschluss oder zumindest in der Absicht einfindet, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Aber heute wird der Ermittler auf entschiedene Gegenwehr stoßen, das nimmt sich Fred fest vor. Er öffnet die Tür mit einem energischen Ruck und entsprechend finsterem Gesichtsausdruck.
»Oh, das ist ja mal ein liebevoller Empfang«, flötet Elsbeth von Bispingen, während sie sich zaghaft lächelnd an den Türrahmen lehnt.
»Was machst du denn hier?«, stammelt Fred verwirrt. Der Anblick seiner alten Liebe in vertrauter Umgebung ist eindeutig zu viel für ihn.
»Ich wollte noch einmal mit dir reden. Privat und ohne Zeugen. Darf ich reinkommen?«
»Du traust dich was!«
»Dafür bin ich bekannt. Also, was ist?« Als Fred unschlüssig schweigt, fügt sie leiser hinzu: »Glaub ja nicht, dass es mir leichtgefallen ist, hierherzukommen. Und wenn du mich nicht augenblicklich reinbittest, dann verlässt selbst mich der Mut.«
Wortlos tritt Fred zur Seite und wirft gleichzeitig einen forschenden Blick ins Treppenhaus. Er rechnet immer noch damit, dass Kreuzer plötzlich hinter der Staatsanwältin auftaucht und das Ganze nur eine gut getarnte Ermittlungsfinte ist.
Doch das Treppenhaus bleibt leer, und Elsbeth marschiert allein an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Als sie vor dem Sofa stehen bleibt, konstatiert sie befriedigt: »Soweit ich sehen kann, hat sich hier nichts verändert.«
»Bist du gekommen, um das zu überprüfen?« Freds Stimme klingt aggressiver, als er beabsichtigt hat. Aber er ist sich immer noch nicht sicher, was dieser Besuch zu bedeuten hat.
»Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, stellt Elsbeth jetzt klar. Dann lässt sie sich mit einem tiefen Seufzer auf die Couch fallen. »So, jetzt ist es endlich raus.« Sie blickt Fred, der immer noch wie vom Donner gerührt neben dem Sofa steht, von unten herauf an. »Es tut mir unendlich leid, dass ich dich letzten Winter verdächtigt habe, und ich bitte dich hiermit in aller Form um Verzeihung.«
»Das ist …«, beginnt Fred und muss erst einmal nach Worten suchen. Schließlich reißt er sich zusammen und sagt mit fester Stimme: »Das ist wirklich groß von dir. Vor allem in dieser Situation.«
Ein Lächeln schleicht sich auf Elsbeths Gesicht. »Ja, nicht wahr? Der böse Journalist pfuscht den Ermittlern schon wieder ins Handwerk, und die verliebte Staatsanwältin hindert ihn noch nicht einmal daran.«
»Hast du eben verliebt gesagt?« Fred lässt sich neben sie aufs Sofa fallen.
»Habe ich das? Muss mir einfach so rausgerutscht sein.«
Fred starrt die Staatsanwältin an.
Träumt er, oder geschieht das hier wirklich?
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Vorsichtig greift Fred nach Elsbeths Hand. »Ich habe dich vermisst. Sehr sogar.«
»Freut mich zu hören. Auch wenn es nicht nötig gewesen wäre, dafür jemanden umzubringen.«
»Du machst Witze!« Der Schreck fährt ihm trotzdem in alle Glieder.
»Ja, klar. Oder warst du es wirklich?«
Ihr verschmitztes Lachen erlöst ihn endlich aus seiner Starre. Er greift in ihre üppigen Locken, schließt die Augen und flüstert ihr ins Ohr: »Allein für deinen Auftritt eben hätte es sich gelohnt, diesen verdammten Otze ins Jenseits zu schicken.«
»Das habe ich jetzt aber nicht gehört«, murmelt sie und küsst ihn endlich.