Beim beliebten Fischimbiss Gosch in der Westerländer Fußgängerzone ist die Hölle los. Alle Tische und Stehtische sind besetzt, dicht an dicht drängen sich Einheimische und Touristen. Darunter jede Menge coole Typen, deren gebräunte Gesichter und betont relaxte Kleidung sie eindeutig als Surfer ausweisen. Die Sonne strahlt von einem knallblauen Himmel, ohne wirklich zu wärmen. Dafür ist der eisige Wind, der in heftigen Böen durch die Straße fegt, viel zu stark. Ideales Surferwetter, wie man sich allenthalben versichert.
Auch die drei Ermittler sind unter den Gästen. Sie sitzen an dem prominenten Hochtisch, der direkt vor der Essensausgabe auf der Ecke zwischen Friedrichstraße und Boysenstraße steht. Während sich Sven nervös und angespannt fühlt und auch Silja ungewohnt still ist, strahlt Bastian eine provokante Fröhlichkeit aus. Das große Bier hat er schon halb geleert, und sein Sahneheringstopf ist ebenfalls fast aufgegessen. Vor Silja und Sven steht jeweils eine Terrine mit Fischsuppe, von der sie beide noch nicht einmal gekostet haben.
»Sagt mal, Leute, was ist denn mit euch los? Ich erledige hier die Arbeit, stehe gemeinsam mit der Bispingen die Pressekonferenz durch, und ihr macht euch einen faulen Lenz und habt obendrein schlechte Laune.«
»Fauler Lenz, du bist gut«, seufzt Sven. »Mir macht die Nachstellung des Abschiedsessens heute Nachmittag jetzt schon Sorgen. Dass dieser Goppel nicht kommt, halte ich für ärgerlich, aber zur Not für verzichtbar. Doch Shirin Yildirim brauchen wir in jedem Fall. Und irgendwie ist die für mich immer noch eine Wackelkandidatin. An ihre Teilnahme glaube ich erst, wenn sie vor mir steht.«
»Goppel?« Bastian runzelt die Stirn. »Hilf mir. Wer war das noch mal?«
»Pernille Aurichs Souschef.«
»Außer dir kennt den noch niemand von uns, das ist wirklich blöd. Hast du ihm denn ordentlich Druck gemacht?«
Sven spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Er ärgert sich selbst am meisten darüber, dass er gestern Abend am Telefon nicht energischer war. Aber andererseits …
»Was soll ich denn machen? Ich kann ihn ja nicht zwingen«, verteidigt er sich lahm.
»Ist ja auch wurscht«, befindet Bastian jetzt ungewohnt großzügig. »Iss erst mal deine Fischsuppe, die ist bestimmt schon eiskalt. Und du auch, Silja.«
»Ja, Boss«, kontert sie, ohne aufzublicken.
»Hey, das war doch nicht böse gemeint. Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Ich versuche auch, mich auf die bevorstehende Nachstellung zu konzentrieren, das ist alles. Wenn die uns nämlich keinen Durchbruch bringt, stehen wir ganz schön dumm da.«
»Macht euch mal nicht so viele Sorgen. Immerhin sind die Aufrufe an die Sylter Bevölkerung in allen Medien. Vielleicht erfahren wir bald Näheres über den Samstagnachmittag in der Vogelkoje oder über irgendwelche mysteriösen Besucher an der Pension Seemöwe, die geholfen haben könnten, den wehrlosen Otze abzutransportieren.«
»Und wenn nicht?«, murmelt Sven. Er hört selbst, wie mutlos seine Stimme klingt. Insgeheim lässt er immer wieder die Blicke schweifen, weil er hofft, Aaron Goppel doch noch zu entdecken und ihn mit Hilfe seiner Kollegen zur Teilnahme an ihrem Nachmittagstermin bewegen zu können. Doch bisher ist von dem fülligen jungen Mann nichts zu sehen.
Gerade verspeist Bastian den letzten Rest seines Heringstopfs, stippt die verbleibende Sauce mit einem Stück Weißbrot auf und leert dann sein Bierglas. Als der Hauptkommissar es mit einem Knall zurück auf den Tisch stellt, weiß Sven, dass eine Ansage bevorsteht. Und richtig.
»Leute, ich habe gegoogelt«, verkündet Bastian in triumphierendem Tonfall.
»Soll vorkommen«, sagt Silja leise und ohne zu lächeln.
Bastian ignoriert ihren Kommentar. »Außerdem habe ich noch einmal mit Bernstein gesprochen.«
Silja schaut auf. Ihre Neugier scheint ebenso geweckt zu sein wie Svens. Doch Bastian schweigt vielsagend.
»Machst du uns jetzt auch den Bernstein und lässt uns zappeln?«, will Silja wissen. Wenn Sven sich nicht ganz täuscht, wird sie langsam, aber sicher richtig wütend.
»Hey, jetzt seid mal nicht gleich beleidigt, nur weil ich eure schöne Theorie gleich in alle Einzelteile zerpflücken werde.«
»Welche Theorie?«, fragen Silja und Sven wie aus einem Mund.
»Die Mord-im-Orient-Express-Parallele. Schon vergessen?«
Tatsächlich ertappt sich Sven dabei, dass er längst nicht mehr daran gedacht hat. Lustlos fordert er den Kollegen auf: »Also spuck’s schon aus. Was hast du herausgefunden?«
»Euer Vergleich hinkt, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht«, erklärt Bastian mit tiefer Befriedigung in der Stimme. »Niemand hat sich offenbar die Mühe gemacht, genau hinzuschauen, auch unser Oberschlaumeier Fred Hübner nicht.«
»Wieso?«, will Silja wissen. »Sechs Täter stechen mit sechs Messern auf jemanden ein, der jedem Einzelnen von ihnen Schlimmes zugefügt hat. Ist doch einleuchtend.«
»Im Orient-Express waren es zwölf Täter und nicht sechs. Damit fängt es schon mal an. Außerdem haben sie alle mit dem gleichen Messer zugestochen und nicht mit sechs verschiedenen wie in unserem Fall. Und drittens, und das hat mir Bernstein vorhin auf Nachfrage mit ziemlicher Sicherheit sagen können, sind die Messerstiche in Konrad Otzes Körper zwar mit unterschiedlichen Messern ausgeführt worden, aber alle von der gleichen Person.«
»Warum ist er sich da so sicher?« Silja wirkt nicht überzeugt.
»Hab ich ihn auch gefragt.« Bastian stützt die Ellenbogen auf den Tisch und mustert seine beiden Kollegen mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Jeder Mensch hat wohl ganz eigene Bewegungsabläufe, und obwohl die einzelnen Messer in unserem Fall sogar extrem unterschiedlich lang und stark waren, sind der Einstichwinkel und die Wucht, mit der zugestochen wurde, einander in allen sechs Fällen so ähnlich, dass es sehr wahrscheinlich ist, von einem einzigen Täter auszugehen.«
»Okay«, wirft Sven ein, »aber das hat ja auch nie jemand wirklich in Frage gestellt, oder?«
»Aber damit hinkt der Vergleich, und zwar ganz erheblich.«
»Bastian, entschuldige, dass ich dir widerspreche«, energisch schiebt Silja ihre halb geleerte Suppentasse zur Seite, »aber das Besondere ist vielleicht nicht so sehr die Anzahl der Stiche oder wer genau zugestochen hat, sondern eher, dass vermutlich nur deshalb mehrere Leute an dem Mord beteiligt sind, weil sie alle ein Motiv haben.«
»Du gönnst mir meinen Triumph nicht«, mault Bastian.
Jetzt muss Silja sogar lächeln. Diplomatisch schlägt sie vor: »Lasst uns einfach alle drei nachher genau hinschauen. Wer kommuniziert mit wem? Verbal oder nicht verbal? Wer reagiert auf wessen Irritation? Wer ist nervös, wer bleibt cool? So hat es Hercule Poirot im Orient-Express auch gemacht. Und glaubt mir, wir werden die Pension Seemöwe nicht ohne neue Erkenntnisse verlassen.«
»Dein Wort in Agatha Christies Ohr«, flötet Bastian und hebt ironisch flehend den Blick gen Himmel.