Staatsanwältin Elsbeth von Bispingen lehnt entspannt in einer Ecke des Speisesaals der Pension Seemöwe und beobachtet neugierig das Geschehen um sie herum. Dass sie sich endlich mit Fred Hübner aussprechen und versöhnen konnte, hat ihrer Laune einen Booster verpasst, den auch eine möglicherweise scheiternde Nachstellung des Abschiedsessens nicht wird plattmachen können. Aber vielleicht ist heute in mehrfacher Hinsicht ihr Glückstag, und die Konfrontation der Colloquiumsteilnehmer bringt den Durchbruch im Mordfall Konrad Otze.

Nach einigem Hin und Her haben endlich alle Autorinnen und Autoren an dem langen Tisch Platz genommen. Die Sitzordnung entspricht selbstverständlich derjenigen während des Colloquiums und der Mahlzeiten. Schon vor Beginn der Veranstaltung hat Kommissar Kreuzer der Staatsanwältin einen Sitzplan überreicht, auf dem alle Anwesenden mit Namen und Funktion bezeichnet sind. Neugierig gleicht sie die Namen mit den realen Personen ab.

Direkt vor Elsbeth sitzt Fred, mit dem sie bisher weder einen Blick noch ein einziges Wort gewechselt hat, ein Versteckspiel, das ihnen beiden eine diebische Freude macht. Links neben Fred sitzt Shirin Yildirim, die junge und außerordentlich attraktive türkischstämmige Skandalautorin, die sich zur kaum verhohlenen Überraschung der Kommissare in letzter Minute eingefunden hat. Fred gegenüber kauert Enard Gastmann, ein sehr unglücklich wirkendes Jüngelchen, das ganz in Schwarz gekleidet ist, angeblich völlig

Am Tischende thront Melinda Jakobsen, auch sie ist für die Bispingen keine Unbekannte, denn die Staatsanwältin hat eine Schwäche für gut moderierte Talkshows. In der Tür zur Küche lehnen zwei Frauen. Pernille Aurich, eine giraffenartig wirkende Person mit gelben Fingernägeln und mürrischem Gesichtsausdruck, und daneben die erheblich jüngere Nadine Eisleben, die einen scharf geschnittenen Pony trägt und jede längere Ausführung mit einem trockenen Husten unterbricht, der sich irgendwie unecht anhört. Beide sind von Kutterscholle und Butterstulle und haben als Caterinnen die ganze letzte Woche begleitet. Aaron Goppel, der dritte Mitarbeiter der Firma, hat sich offenbar geweigert zu erscheinen, was Elsbeth insgeheim erbost.

Bis eben sind alle drei Kommissare herumgeeilt, um letzte Anweisungen zu geben. Jetzt beziehen Sven Winterberg und Silja Blanck ihre Posten in den beiden Zimmerecken auf der Elsbeth gegenüberliegenden Seite, während sich Bastian Kreuzer zum Erstaunen aller Anwesenden auf Konrad Otzes Stuhl fallen lässt.

Unwillkürlich rücken sowohl die Jakobsen als auch die

»Wie ich gehört habe, gab es vor dem Essen einen Aperitif. Haben Sie den glasweise serviert?«

Nadine Eisleben blickt hilfesuchend zu ihrer Chefin. Die wiederum scheint einen Moment zu brauchen, um sich zu fangen. Interessiert beobachtet Elsbeth, wie sich Pernille Aurich nervös die Hände reibt, während ihre Augenlider flattern. Als sie dem Kommissar endlich antwortet, klingt ihre Stimme allerdings fest und fast schon aggressiv.

»Wir sind zunächst mit einem Tablett herumgegangen. Das Nachschenken erfolgte dann direkt aus der Flasche in die Gläser.«

»Und es war Zufall, wer welches Glas vom Tablett genommen hat?«

»Ja, sicher. Wir drücken den Gästen doch nicht ein ganz bestimmtes Glas in die Hand.«

»Standen die Gäste noch, oder saßen sie bereits?«

»Wir standen noch«, mischt sich jetzt Melinda Jakobsen ein.

»Danke, aber ich frage Frau Aurich«, wird sie sofort von Kreuzer abgebügelt. »Wer trug das Tablett?«

Die beiden Caterinnen wechseln einen irritierten Blick.

»Aaron?«, fragt die Aurich stirnrunzelnd ihre Kollegin.

»Nein, ich war das.« Ein weiterer Hustenanfall schüttelt die junge Frau und lässt ihren Pony beben.

»Und es hatte wirklich jeder freie Wahl, was das Glas

»Okay, belassen wir es dabei. Was war mit Ihnen, Frau Aurich? Und mit Herrn Goppel, der uns ja leider für heute einen Korb gegeben hat? Waren Sie beide derweil auch hier im Raum?«

»Natürlich nicht. Aaron und ich haben in der Küche das Menü vorbereitet, jetzt fällt es mir wieder ein«, erklärt die Chefin.

»Zunächst gab es Suppe, oder? Wer hat die serviert?«

»Ich.« Jetzt klingt Pernille Aurich eindeutig schnippisch.

»Sie kamen mit einem oder zwei Tellern aus der Küche und haben die dann vor die Gäste hingestellt?«

»So macht man das für gewöhnlich.«

»Wer bekam als Erstes?«

Pernille Aurich deutet auf Saskia Grothe. »Da es keine Rangordnung gab, habe ich bei dem Gast angefangen, der direkt an der Küchentür saß. Danach ging es im Uhrzeigersinn weiter, also Frau Larsen, Herr Gastmann, Herr Hübner et cetera.«

Der Kommissar blickt die um den Tisch versammelten Personen der Reihe nach an. »Können Sie das bestätigen?«

Allgemeines Achselzucken ist die Antwort. Als Shirin Yildirim die Augen verdreht und murmelt: »So was merkt sich doch kein Mensch«, huscht ein Lächeln über Kreuzers Gesicht. Noch einmal wendet sich der Kommissar an Nadine Eisleben.

»Wer hat die Suppe in der Küche aufgetan?«

»Das war ich. Aber Aaron hat das Finish übernommen.«

Ein paar Herzschläge lang wartet Elsbeth auf das

Natürlich ahnt die Staatsanwältin längst, worauf der Kommissar hinauswill. Es geht ihm um die K.O.-Tropfen und um die Frage, wer von den Anwesenden zum Komplizen des Mörders geworden sein könnte und den Kritiker vielleicht betäubt hat. Und bisher deutet alles auf die drei vom Cateringunternehmen hin. Ein paar Tropfen ins Flusskrebssüppchen oder in den Avocadoschaum und dann schnell den Teller vor den richtigen Gast gestellt. Das wäre durchaus vorstellbar und deutlich wahrscheinlicher, als wenn die Yildirim oder die Jakobsen ihrem Tischnachbarn vor versammelter Mannschaft etwas ins Glass gekippt hätten. Wie sich zusätzlich herausstellt, hat Nadine Eisleben dem Kritiker offenbar zur Suppe einen besonderen Weißwein kredenzt, und das im Glas. Damit hätte sie eine besonders gute Gelegenheit gehabt, ihm etwas in das Getränk zu träufeln.

Ansonsten gibt der Verlauf des Nachmittags weniger Aufschluss über das Verhältnis der Gäste zu Konrad Otze als vielmehr darüber, wie sie zueinander stehen. Der trübsinnige Lyriker schweigt hartnäckig und beschränkt sich darauf, seine saugenden Blicke immer wieder auf Konrad Otzes Platz zu richten, als säße dort immer noch der Kritiker und nicht der peinliche Fragen stellende Kommissar. Es ist überdeutlich, dass er in der vergangenen Woche zu niemandem aus der Gruppe ein Verhältnis aufgebaut hat. Auch Fred hält sich extrem zurück, antwortet nur, wenn er gefragt wird, und hebt kaum einmal den Blick. Die vier Frauen wiederum haben sich zu festen Zweiergrüppchen zusammengeschlossen. Melinda Jakobsen und Saskia Grothe nutzen jede Gelegenheit, um vertraulich miteinander zu wispern, während

Es ist insgesamt eine ausgesprochen schräge Veranstaltung, und Elsbeth ertappt sich bei dem Gedanken, dass der verstorbene Konrad Otze diese Art von vorzeitigem Leichenschmaus vielleicht genossen hätte. Für die anderen Teilnehmer gilt das nicht unbedingt. Schon bald kann Elsbeth spüren, wie sich Ungeduld breitmacht. Seit einer Stunde sind diese acht Personen den bohrenden Fragen Bastians ausgesetzt, deren Sinn sich ihnen wahrscheinlich nicht immer erschließt.

Aber jetzt ändert sich das. Alle wissen, was nun bevorsteht.

Bastian erhebt sich und geht langsam auf die Tür zur Diele zu. Dann bleibt er stehen und dreht sich um. »Wer von Ihnen kann sich deutlich an den Moment erinnern, in dem Konrad Otze den Raum verlassen hat?«, fragt er mit strenger Miene.

Niemand meldet sich.

Bastian wartet schweigend. Schließlich hebt Nadine Eisleben zögernd die Hand. »Ich glaube, ich habe gerade mit Pernille die letzten Teller des Hauptgangs abserviert, da ist er an mir vorbeigegangen.«

»Sicher?«

Nach kurzem Nachdenken nickt sie.

»Haben Sie in sein Gesicht geblickt? Wie sah er aus?«

»Verkniffen irgendwie. Also ich meine, er hat das Gesicht nicht verzogen oder so, aber es wirkte, als ob er sich Mühe geben musste, um genau das nicht zu tun.«

»Warum erinnern Sie sich so genau daran, wenn es doch niemand sonst tut?«

»Sorry, so meinte ich das nicht. Vielmehr würde mich interessieren, was die anderen in diesem Moment gemacht haben, denn niemand sonst hat offenbar sein Verschwinden registriert.«

»Ja, also ich weiß nicht«, beginnt die Eisleben, doch dann schlägt sie sich mit der flachen Hand vor den Kopf und blickt hinüber zu ihrer Chefin. »Dir ist doch das ganze Besteck vom Tellerstapel gerutscht, erinnerst du dich? Alle haben geguckt. Ich glaube, das war, als Herr Otze gerade aufgestanden ist.«

»Bist du sicher?« Pernille Aurich scheint es ziemlich peinlich zu sein, in aller Öffentlichkeit an ihre Servierpanne erinnert zu werden. Elsbeth kann deutlich sehen, wie eine leichte Röte ihren Hals hinaufkriecht. Als Nadine Eisleben energisch nickt, vertieft sich die Farbe noch.

»Dann wäre das also geklärt«, sagt Bastian höchst zufrieden. »Ich wüsste jetzt gern noch Folgendes von Ihnen: Ist irgendjemand in der Zeit von jetzt an bis zu Ihrer Abreise auf der Toilette hier hinten im Gang gewesen?«

Achselzucken und Köpfeschütteln ist die Antwort.

»Wirklich niemand?«

»Nein«, versichert Melinda Jakobsen entschieden. »Wenn noch jemand verschwunden wäre, wäre das uns allen mit Sicherheit aufgefallen.«

»Und außerdem hatten wir ja bis zur Abreise Zugang zu unseren Zimmern, wo doch für derlei Dinge entschieden mehr Privatsphäre herrschte«, fügt Saskia Grothe hinzu.

»Das überzeugt mich«, antwortet Bastian und wendet sich anschließend direkt an Elsbeth. »Wollen wir jetzt zum zweiten Teil unserer kleinen Übung wechseln?«

Elsbeth nickt, verlässt ihre Ecke und tritt näher an den

Elsbeth ignoriert die genervten Blicke ebenso wie die gemurmelten Kommentare, in denen sie ganz bestimmt nicht besonders gut wegkommt, und schickt sich an, den Speisesaal zu verlassen. Im Vorbeigehen streift sie wie versehentlich Freds Arm.

»Oh pardon, Frau Staatsanwältin«, ruft er ihr lauter als nötig hinterher, und gibt damit Elsbeth die Gelegenheit, sich insgeheim über Kommissar Kreuzers erstaunte Miene zu amüsieren.