Kaum dass sich die Küchentür hinter Silja, Sven, Pernille Aurich und Nadine Eisleben geschlossen hat, fährt die Caterin die beiden Ermittler an: »Ich begreife wirklich nicht, warum Sie hier mit uns Ihre Zeit verschwenden. Soweit ich weiß, ist Konrad Otze in der Vogelkoje ermordet worden, und daher denke ich …«
»Aber wie ist er dorthin gekommen? Das ist doch eine enorm interessante Frage, finden Sie nicht?«, wird sie von Silja unterbrochen. »Vermutlich eher nicht zum Haupteingang der Pension heraus, denn dort herrschte ja reges Hin und Her, wie es bei Abreisen so üblich ist. Stiller dürfte es dagegen hier hinten gewesen sein. Also nehmen wir an, dass das Opfer entweder direkt durch die Küchentür oder durch den Hinterausgang der Pension, die ebenfalls hier auf diesen kleinen Parkplatz führt, herausgeschafft wurde.«
»Die Küchentür können Sie vergessen«, erklärt Nadine Eisleben energisch. »Wir waren die ganze Zeit entweder hier drinnen oder draußen gleich neben der Tür, um zu rauchen. Völlig ausgeschlossen, dass wir nicht bemerkt hätten, wenn jemand den Kritiker herausgeschleppt hätte.«
»Bleibt also die Hintertür der Pension«, schlussfolgert Sven, öffnet das Küchenfenster und beugt sich weit hinaus. »Da hinten links gibt es durchaus einen toten Winkel, den Sie von der Küche aus nicht einsehen können. Falls jemand seinen Wagen dort geparkt haben sollte, wäre es möglich, Otze hineinzuverfrachten, ohne dass Sie es mitbekommen.«
Schulterzuckend nickt die Eisleben, während PernilleAurich sich ebenfalls aus dem Fenster beugt, als traue sie der Aussage Svens nicht über den Weg. Trotz ihrer Größe scheint auch sie nicht bis in den letzten Winkel blicken zu können. »Stimmt«, gibt sie zu, »so könnte es gewesen sein.«
»Allerdings bleibt die Frage, ob es nicht zumindest einem von Ihnen dreien hätte auffallen müssen, wenn hier ein Wagen an- oder abgefahren wäre«, führt Silja die Überlegung fort.
»Ganz sicher nicht«, erklärt Nadine Eisleben zu Siljas Enttäuschung. »Wissen Sie, was in einer Küche los ist, wenn man den nächsten Gang vorbereitet? Das abservierte Geschirr kommt in die Spülmaschine, das scheppert schon mal nicht schlecht, die Espressomaschine ist auch ziemlich laut, und dazu kommen noch Pernilles Befehle, die das Ganze koordinieren. Nee, da hört man echt nichts anderes. Und es bleibt schon gar keine Zeit, um müßig aus dem Fenster zu starren und an- oder abfahrende Autos zu beobachten.«
»Schade«, murmelt Silja und überlegt gerade, wie sie vielleicht doch noch eine brauchbare Information aus den beiden Frauen herausholen kann, als es von außen an die Küchentür pocht. Mit wenigen Schritten ist Silja dort und öffnet die Tür.
Draußen steht ein leicht gestresst wirkender Mann in Hoodie und Jeans, der ein etwa sechsjähriges Mädchen an der Hand hält. Beide haben auffallend dicke hellblonde Haare. Der Mann macht einen Schritt ins Innere des Raumes hinein und blickt die dort Versammelten der Reihe nach an.
»Entschuldigen Sie die Störung, Jonas Kohlstedt mein Name, aber ich habe gerade gesehen, dass jemand hier in der Küche ist, und wollte mal nachfragen, ob einem von Ihnen ein weißer Lieferwagen gehört?«
»Leider nein, unserer ist himmelblau«, antwortet Pernille Aurich und blickt nach draußen, wo der auffällig lackierte Wagen mit dem großen Logo von Kutterscholle und Butterstulle steht.
»Tja, dann einen schönen Tag noch.«
Bevor der Fragende sich abwenden kann, hält Silja ihn zurück.
»Darf ich erfahren, warum Sie das wissen wollen?«
Er deutet auf das Mädchen, das leicht verängstigt zu ihm aufblickt. »Ich mache mit der Familie Urlaub in dem Haus am Ende der Straße. Meine kleine Tochter hier ist am Wochenende mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hat auch ein paar Runden auf Ihrem Parkplatz gedreht. Dabei ist sie hingefallen und hat eine Schramme in den weißen Wagen gemacht. Es war ihr total unangenehm.«
Er fährt dem Mädchen, das inzwischen aussieht, als würde es gleich losweinen, tröstend über den Kopf. »Aber ich habe ihr gesagt, dass wir für solche Fälle versichert sind, bin gleich rübergelaufen und habe einen Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt.«
»Wann war das genau?« Svens Stimme klingt hellwach.
»Am Samstag so gegen Mittag.«
»Nein, später, Papa«, korrigiert ihn die Kleine. »Wir hatten doch schon Mittag gegessen, und ihr wolltet euch ausruhen, deswegen bin ich ja allein mit dem Fahrrad raus.«
»Stimmt, meine Tochter hat recht.« Er fährt sich mit einer fahrigen Geste durchs blonde Wuschelhaar.
»Es ist ganz normal, dass man sich solche Details nicht merkt. Für Sie war das schließlich nicht wichtig, für uns ist es das allerdings schon. Deshalb noch einmal zu Sicherheit: Am frühen Samstagnachmittag hat hier ein weißer Lieferwagen geparkt, dem Ihre Tochter mit dem Fahrrad eine Schramme zugefügt hat?«
»Ja genau. Und ich würde gern für den Schaden aufkommen. Daher habe ich einen Zettel mit meiner Handynummer hinterlassen. Leider hat sich bisher niemand gemeldet. Aber wenn Sie gar nicht wissen, wem der Wagen gehört, dann bringt mich das auch nicht weiter.«
»Wie gesagt: Sie vielleicht nicht, uns aber umso mehr.« Silja wechselt einen triumphierenden Blick mit Sven. »Wir haben uns übrigens noch gar nicht vorgestellt. Oberkommissarin Blanck und Oberkommissar Winterberg von der Kripo Westerland.«
»Hat mich schon jemand angezeigt, oder wie?«
»Keineswegs. Haben Sie zufällig in den letzten Stunden Radio gehört?«
»Äh, nein«, antwortet Jonas Kohlstedt verwirrt. »Warum sollte ich? Wird der Verursacher der Schramme jetzt schon im Rundfunk gesucht?«
Silja lacht. »Absolut nicht, keine Sorge. Aber wir suchen sehr wohl nach jemandem, dessen Wagen in der fraglichen Zeit hier geparkt hat. Und den haben Sie uns gerade geliefert. Haben Sie sich eventuell das Kennzeichen notiert?«
»Nein, ich dachte ja, der Fahrer meldet sich gleich.«
»Genau das würde man ja auch erwarten«, sagt Silja. »Die spannende Frage ist daher, warum jemand sich nicht meldet, obwohl er die Chance hätte, eine Schramme an seinem Wagen kostenfrei reparieren zu lassen.«
»Tja, das verstehe ich auch nicht«, antwortet Jonas Kohlstedt hilflos.
»Wir dafür umso besser.« Siljas Stimme klingt ausgesprochen fröhlich, was außer Sven alle Anwesenden zu irritieren scheint. »Haben Sie vielleicht noch zusätzliche Informationen für uns? Hatte der Lieferwagen beispielsweise eine Aufschrift? Oder wissen Sie möglicherweise das Fabrikat?«
»Eine Aufschrift habe ich nicht gesehen. Aber es war ein Iveco, das weiß ich, weil ich die Firma so ungewöhnlich fand.«
»Super«, schaltet sich Sven ein. »Ich klemme mich gleich dahinter und starte eine Abfrage. Aber vorher wüsste ich gern noch, ob der Wagen mit dem Heck zum Haus oder zur Straße geparkt war.«
Jonas Kohlstedt überlegt kurz, dann antwortet er entschieden: »Zum Haus. Ich habe als Erstes die großen Buchstaben der Automarke gesehen. Und die Schramme war auch vorn.«
»Links oder rechts?«
»Links, da bin ich sicher. Sie war nicht sehr tief, unter Umständen kann man sie sogar leicht anschleifen und dann mit einem Lackstift abdecken. Aber der Wagen war ansonsten makellos gepflegt und ohne jeden Kratzer. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass der Geschädigte sich auf jeden Fall melden wird. Darf ich Ihnen also sicherheitshalber meine Versicherungsnummer hierlassen? Sie dürfen sie dann gern weitergeben«, bietet Kohlstedt an. Ihm ist anzusehen, dass er immer noch nicht so ganz versteht, was gerade vor sich geht.
»Ihre Handynummer reicht uns völlig«, sagt Silja lächelnd. »Denn ich glaube nicht, dass der Halter des Wagens sich noch um eine Schramme Sorgen machen wird, wenn wir ihn erst einmal aufgespürt haben.«