Hauptkommissar Sven Winterberg flucht leise vor sich hin. Er sitzt in seinem Dienstwagen und hat die undankbare Aufgabe, alle Halter eines weißen Iveco-Kastenwagens aufzusuchen, ihr Alibi für den Samstagnachmittag zu überprüfen und, wenn möglich, eine Schramme am vorderen linken Kotflügel zu identifizieren.
Die Abfrage beim Kfz-Amt hat insgesamt neun Anmeldungen solcher Autos auf der Insel ergeben, davon sind drei Firmenwagen. Auf den Homepages der jeweiligen Betriebe konnte Sven zum Glück erkennen, dass diese drei auch das Firmenlogo spazieren fahren. Darunter war auch der Lieferwagen von Bistro to go, was Bastians Bericht bestätigt hat.
Gerade hat Sven das Kommissariat verlassen, der Abendhimmel ist klar, der Sturm hat sich gelegt, ein sehr sylttypischer herrlicher Spätsommertag geht zu Ende. Sven wird zunächst den Weg über Archsum nach Morsum nehmen, wo jeweils zwei Wagen registriert sind. Die Eigentümer der restlichen beiden Wagen wohnen in List an der Nordspitze der Insel. Selbst wenn Sven alle Fahrzeughalter antreffen sollte, wird ihn sein Auftrag locker bis nach neun beschäftigen. Und das ist auch der Grund für seine leisen Flüche. Nichts liebt Sven so sehr, wie seinem kleinen Sohn Max abends eine Gutenachtgeschichte vorzulesen und ihn anschließend ins Bett zu bringen. Auch Mette, die dreizehnjährige Tochter der Winterbergs, wartet insgeheim immer noch auf den Gutenachtkuss ihres Vaters, auch wenn sie es mit frühreifer Dringlichkeit jederzeit abstreiten würde.
Aber Dienst ist Dienst, und aus dem abendlichen Vater-Kinder-Ritual der Winterbergs wird heute wohl nichts werden. Also fügt sich Sven ins Unvermeidliche und stellt den Klassiksender im Autoradio ein. Zu den beschwingten Klängen einer Mozart-Sonate fährt er durch Tinnum, passiert dann den Kreisverkehr vor Keitum und biegt auf die Landstraße nach Archsum ein.
Die beiden dortigen Iveco-Besitzer wohnen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt, und als Sven vor dem ersten Haus anhält, sieht er verwundert, dass gleich beide Archsumer Ivecos davorstehen. Wie sich herausstellt, gehören sie zwei verschwägerten älteren Herren, die beim Autohändler einen Mengenrabatt herausgehandelt haben. Da die beiden die siebzig längst überschritten haben und außerdem gemeinsam mit ihren Frauen zur Tatzeit beim Kaffeekränzchen gesessen haben, ist die erste Recherche schneller erledigt, als Sven zu hoffen gewagt hat.
Seine Laune bessert sich deutlich, und als er am Morsumer Ortseingang an der Barke mit den Matrosen vorbeikommt, überlegt er, wann denn eigentlich die Besatzung der Jolle die winterlichen Friesennerze angezogen bekommt. Noch sind die vier lebensgroßen Puppen zünftig in blau gestreifte Hemden gekleidet und haben die typischen roten Halstücher umgeknotet. Jeder Sylter weiß genau, was es mit der Besatzung des Eisbootes auf sich hat. Vor dem Bau des Hindenburgdamms wäre Sylt in eisigen Wintern völlig vom Festland abgeschnitten gewesen, wenn nicht eben dieses Eisboot regelmäßig übergesetzt hätte, um nicht nur die Post, sondern vor allem lebenswichtige Medikamente und überhaupt Lebensmittel heranzuschaffen.
Sven ist so in Gedanken an das harte Leben der Inselbewohner in der Vergangenheit vertieft, dass er fast an der nächsten Adresse vorbeigerauscht wäre. Denn Ole Renner, der dritte Fahrzeughalter, wohnt nur wenige Meter hinter dem Eisboot in einer kleinen und ziemlich verwahrlost wirkenden Kate. Auf Svens Klingeln hin tut sich nichts, doch wie sich herausstellt, werkelt der Eigentümer im Garten hinter dem Haus an einem Brunnenschacht herum. Er ist ein kräftiger Kerl mit jeder Menge Tattoos auf Nacken und Armen, dessen glühende Gesichtsfarbe ihn eindeutig als Hypertoniker ausweist.
Als Sven ihm zur Begrüßung das übliche Moin zuruft, fährt der Mann erschrocken auf. Mit hochrotem Kopf fährt Ole Renner den Besucher an: »Was machen Sie hier? Das ist ein Privatgrundstück.«
Sven lässt sich gar nicht erst auf lange Diskussionen ein, sondern präsentiert gleich seine Dienstmarke und fragt nach dem Wagen, den er vor dem Haus nicht hat entdecken können.
»Der ist in der Werkstatt«, wird ihm unfreundlich beschieden.
»Warum? Und in welcher Werkstatt?«
»Geht Sie gar nichts an.«
Es bedarf einiger deutlicher Worte, bis Ole Renner einknickt und von dem kürzlich diagnostizierten Motorschaden erzählt, der ihn sicher zweitausend Euro kosten wird.
»Und seit wann ist der Wagen in der Reparatur?«
»Zwei Wochen sind es mindestens schon. Die blöde Firma muss die Teile erst versenden, das dauert und dauert.«
Ein kurzer Anruf bei der Werkstatt, die zum Glück noch geöffnet hat, bestätigt Ole Renners Aussage. Bevor dieser sich allerdings länger über die Probleme mit den weltweiten Handelsketten auslassen kann, verabschiedet sich Sven, um den vierten Kandidaten zu überprüfen.
Sein Weg führt den Kommissar nach Osterende an den Südzipfel von Morsum. Als Sven vor dem Klinkerhaus am Rand der Ortschaft anhält, stutzt er plötzlich. Die Adresse kennt er doch irgendwoher. Aber er kommt nicht drauf, bis eine junge Frau in Jeans und T-Shirt hinter dem Friesentor erscheint und beim Anblick seines Dienstausweises stöhnt: »Schon wieder die Polizei? Das wird mir aber langsam unheimlich.«
Fragend runzelt Sven die Augenbrauen.
»Sie kommen doch sicher wieder wegen unseres Untermieters.« Sie deutet auf das Schild Fremdenzimmer zu vermieten, unter dem ein rotes Belegt-Zeichen hängt.
»Stimmt«, erinnert sich Sven plötzlich wieder. »Herr Gastmann ist bei Ihnen abgestiegen.«
»Genau, und wenn mich nicht alles täuscht, wurde er heute Nachmittag doch schon von Ihnen einbestellt. Ganz schön aufregend, das Ganze, nicht nur für Herrn Gastmann«, fügt sie ein wenig sensationslüstern hinzu.
Sven hütet sich, ihrer Neugier Nahrung zu geben. In neutralem Ton fragt er: »Sie sind Frau Burghardt, das ist doch richtig, oder?«
»Cornelia Burghardt, genau. Wollen Sie reinkommen?«
»Nicht unbedingt, aber ich würde ganz gern Ihren Mann sprechen. Das da drüben ist doch sein Wagen?«
Sven deutet auf einen blitzblanken weißen Iveco-Lieferwagen, der neben dem Haus in der Garageneinfahrt steht.
»Hans, kommst du mal?«, ruft Cornelia Burghardt jetzt zu der Garage hinüber, worauf ein schlanker, hochgewachsener Mann in einem Monteursoverall erscheint.
»Was gibt’s?«, fragt er unwirsch, dann entdeckt er den Kommissar und verzieht das Gesicht zu einem halbherzigen Lächeln.
»Habe ich Sie bei der Autowäsche gestört?«, erkundigt sich Sven in harmlosem Tonfall.
»Nö. Hab nur ein bisschen da drinnen herumgebosselt.« Der Blick Hans Burghardts geht zu seinem Auto und nicht zur Garage.
»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
»IT-Spezialist mit eigener Firma. Wer will das wissen?«
Wieder präsentiert Sven seinen Dienstausweis und erklärt sich kurz. Dann fragt er direkt nach Hans Burghardts Alibi für den Samstagnachmittag.
»Freiwillige Feuerwehr, Notfallübung. Machen wir jeden Monat. Sie können gern die Kollegen fragen.«
»Und Ihr Auto?«
»Wie? Und mein Auto? Das war hier. Unsere Wache ist doch gleich da vorn im Serkwai, und noch bin ich nicht fußkrank.«
»Darf ich den Wagen mal ansehen?«
»Wenn’s sein muss.«
Langsam geht Sven um den Lieferwagen herum. Er kann zwar keinen Kratzer erkennen, aber möglicherweise könnte eine gründliche Ausbesserung mit einem Lackstift die Schramme komplett verbergen. Auf jeden Fall beschäftigt den Kommissar die Tatsache, dass hier nicht nur Enard Gastmann abgestiegen ist, sondern sich auch eines der verdächtigen Autos befindet.
Unschlüssig kehrt Sven an das Gartentor zurück, wo die beiden Burghardts miteinander flüstern. »Sie haben das Auto in der fraglichen Zeit nicht durch Zufall Ihrem Feriengast geborgt?«
»Geht’s noch? Sie haben sich doch gerade selbst davon überzeugt, dass ich den Wagen hüte wie meinen Augapfel. War ja auch teuer genug. Da werde ich das Auto ja wohl kaum so zwielichtigen Gestalten wie diesem Gastmann überlassen.«
»Hans!«, weist ihn seine Frau in tadelndem Tonfall zurecht.
Doch Hans Burghardt lässt sich nicht unterbrechen. »Na, ist doch wahr. Irgendwie ist mir der Kerl unheimlich. So maulfaul und mucksch, wie der immer tut.«
»Mein Mann hat prinzipiell etwas dagegen, dass ich das Gästezimmer an Fremde vermiete«, erklärt Cornelia Burghardt schnell. »Er macht sie alle schlecht. Ausnahmslos.«
Bevor das Scharmützel in einen echten Ehekrach ausarten kann, verabschiedet sich Sven. Während der langen Fahrt über Keitum und Kampen hoch nach List hat er genügend Gelegenheit, über die beiden nachzudenken. Sollte es wirklich einer dieser fiesen Zufälle sein, dass sich einer der verdächtigen Wagen ausgerechnet in unmittelbarer Nähe eines Colloquiumteilnehmers befand? Oder gibt es irgendeinen Zusammenhang, den er einfach nur nicht erkennen kann?
Während hinter dem Weststrand die Sonne untergeht, erreicht Sven schließlich Deutschlands nördlichste Ortschaft. Das Riesenrad am Lister Hafen glänzt im letzten Tageslicht wie eine überdimensionale von Möwen umflatterte Orangenscheibe. Und der fünfte Iveco-Transporter steht direkt daneben, denn er gehört dem Betreiber des Riesenrades. Das Auto ist allerdings so ramponiert, dass ein zusätzlicher Kratzer auf dem Kotflügel vermutlich noch nicht einmal dem Eigentümer auffallen würde. Trotzdem steigt Sven aus und überzeugt sich davon, dass die Blessuren schon älter sind. Etliche weisen dicke Rostränder auf, andere sind unter tiefen Schmutzkrusten verborgen. Dieser Wagen hat ganz sicher nicht vor zwei Tagen makellos und frisch glänzend auf dem Parkplatz der Pension Seemöwe gestanden. Ohne sich dem Eigentümer auch nur vorzustellen, macht sich Sven zur letzten Adresse auf seiner Liste auf.
Das Haus steht weit abseits und ziemlich allein auf einem der Hügel an der Blidselbucht. Es wirkt unbewohnt und auf eine kostspielige Weise schlicht. Die Fenster sind alt, aber in einem einwandfreien Zustand, das Reetdach ist makellos gedeckt und der Vorgarten sylttypisch bepflanzt. Heckenrosen, Buchs und dicke Hortensienbüsche, die in einem fast schon unwirklichen Blau blühen, verraten die Handschrift eines kundigen Gärtners. Weit und breit ist kein Wagen zu sehen und schon gar kein weißer Transporter. Ein Mercedes oder ein Jaguar würde auch viel besser vor dieses Haus passen, überlegt Sven, während er nach der Klingel sucht. Niemand öffnet, was den Kommissar nicht wundert. Wahrscheinlich kommen die gut betuchten Eigentümer jedes Jahr nur für ein paar Wochen auf die Insel. Unschlüssig sieht Sven sich um. Keine Menschenseele ist in Sicht, und seine beiden Kinder schlafen wahrscheinlich längst, also kann er genauso gut ein bisschen hier herumschnüffeln. Die Terrasse hinter dem Haus bietet einen phantastischen Blick über die Dünen und das Watt bis hinüber zum Festland, wo im Dunst die Rotoren der Windkraftanlagen flattern wie verwirrte Vögel im Nebel. Die hintere Haustür ist ebenso abgeschlossen wie die vordere, alles andere hätte Sven auch sehr gewundert. Neugierig späht er durch das Terrassenfenster ins Innere des Hauses, graue Sofas, ein merkwürdig geformter Steintisch und mehrere Skulpturen füllen den Raum. Und jetzt erinnert sich Sven auch, warum der Name des Fahrzeughalters ihm entfernt bekannt vorgekommen ist. Bernd Stüber ist ein recht renommierter Bildhauer, der auf Sylt, aber auch in Südfrankreich arbeitet und ausstellt. Damit erklärt sich auch der Besitz eines Transporters, denn die lebensgroßen Skulpturen aus Speckstein sind sicher nicht leicht.
Sven holt sein Handy heraus und ruft die Website des Künstlers auf. Dort findet sich nicht nur eine Mail-Adresse, sondern erstaunlicherweise auch eine Handynummer. Während Sven, der mit dem Rücken zur sinkenden Sonne steht, beobachten kann, wie sein Schatten ins Unendliche wächst, um dann ganz plötzlich zu verschwinden, lässt er es bei Bernd Stüber klingeln. Als der Kommissar gerade aufgeben will, nimmt Stüber den Anruf doch noch an.
Der Künstler hat eine unerwartet hohe Stimme und klingt leicht erkältet. Nachdem Sven sich vorgestellt und sein Anliegen vorgetragen hat, lacht Stüber heiser.
»Da sind Sie leider an den Falschen geraten, Herr Kommissar. Ich bin schon seit einem Monat hier unten an der Cote d’Azur, und zum Herbst nehme ich den Transporter immer mit. Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen gern ein Beweisfoto per SMS.«
Sven bedankt sich und kann schon Sekunden später neidvoll auf ein traumhaftes südfranzösisches Küchenpanorama blicken, vor dem ein weißer Iveco mit dem passenden Kennzeichen steht.
Enttäuscht geht der Kommissar zurück zu seinem Wagen. Wie es aussieht, hat er sich den Abend ganz umsonst um die Ohren geschlagen.