»Du magst meine Bratkartoffeln doch sonst immer so gern.«
Besorgt mustert Marianne Voigt ihren Mann. Seit einigen Tagen schläft er schlecht, und sein sonst so guter Appetit scheint sich völlig verflüchtigt zu haben.
»Ich verstehe ja, dass es furchtbar gewesen sein muss, diesen blutüberströmten Sterbenden zu entdecken und nicht helfen zu können, aber schlussendlich ist es ja nicht deine Schuld, was ihm zugestoßen ist.«
»Trotzdem«, murmelt Ludger mit gesenktem Kopf, »nimmt mich das unendlich mit. Ständig träume ich davon. Mir graut inzwischen schon vor dem Einschlafen.«
»Du Armer!« Marianne steht auf und nimmt ihn in den Arm. »Aber du musst das irgendwie hinter dir lassen, sonst fällst du mir noch völlig vom Fleisch.«
Er lacht, doch es klingt gequält. »Wenn ich ein paar Pfund abnehme, schadet das gar nichts.«
»Darum geht es nicht, und das weißt du auch.« Marianne will weiterreden, aber die Haustürklingel unterbricht sie. »Erwartest du noch jemanden?«
Ludger schüttelt den Kopf. »Vielleicht ist es Cornelia, die ein bisschen mit dir schnacken will«, mutmaßt er.
Doch als Marianne an die Tür geht, stehen zwei Leute vor ihr, die sie noch nie gesehen hat. Ein ziemlich bullig wirkender Mann mit kurzgeschorenen Haaren und eine zierliche Frau mit sympathischem Gesicht, die erheblich kleiner ist als ihr Begleiter. Die beiden stellen sich vor und halten ihr zwei laminierte Plastikkärtchen vor die Nase. Trotzdem versteht Marianne zunächst nicht recht, um wen es sich bei dem unerwarteten Besuch handelt.
»Sie sind wirklich von der Kriminalpolizei?«
Die beiden nicken und fragen, ob Ludger zu Hause ist.
»Kommen Sie rein. Mein Mann ist da, aber ehrlich gesagt, geht es ihm nicht besonders, seit er diesen Kritiker gefunden hat. Dass einen das so mitnehmen kann …«
Als die drei die Küche betreten, blickt Ludger kaum auf. Marianne ärgert sich insgeheim über das Eintreffen der Kriminalpolizei, weil sie vermutet, dass alles noch viel schlimmer wird, wenn die Kommissare die üblen Erinnerungen wieder heraufholen werden, die Ludger viel lieber verdrängen möchte. Doch zunächst stellen sie eine völlig harmlose Frage.
»Dürfen wir erfahren, welches Auto Sie fahren?«, beginnt der Kommissar.
Ludger räuspert sich, dann antwortet er mit heiserer Stimme: »Einen roten Golf, warum?«
Ohne auf die Gegenfrage einzugehen, redet der Kommissar weiter. »Und mit dem waren Sie auch am vergangenen Samstag an der Vogelkoje?«
»Ganz genau.« Ludgers Stimme wird fester, und er richtet sich auch ein wenig auf.
»Herr Voigt, Sie haben ausgesagt, dass Sie Konrad Otze bei ihrer abendlichen Routinerunde gefunden haben, das ist doch richtig, oder?«
Ludger nickt matt.
»Und vorher haben Sie den ganzen Nachmittag vorn in dem Kassenhäuschen gesessen?«
»Das stimmt.«
»Wir haben allerdings die Aussage eines Zeugen, der gern die Vogelkoje besucht hätte, Sie aber leider nicht dort angetroffen hat.«
»Dann war ich wohl kurz mal für kleine Jungs.«
»Der Zeuge hat von mindestens einer halben Stunde gesprochen, die er auf Sie gewartet hat.«
Der Kommissar schaut Ludger forschend an, jede Freundlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen. Nur seine Kollegin, die sich neugierig in der Küche umsieht, bedenkt Marianne zwischendurch immer wieder mit einem beruhigenden Lächeln. Die beiden Ermittler haben sich gar nicht hingesetzt, sondern stehen direkt neben dem Küchentisch, an dem Ludger sitzt und den Teller mit den kalten Bratkartoffeln fixiert, als könne er dort die Antworten auf ihre Fragen finden.
»Eine halbe Stunde. Ja, also …«
Ludger bricht zögernd ab, blickt kurz auf und schaut Marianne, die direkt hinter ihm steht, ins Gesicht. Sie fragt sich, warum ihr Mann ausgerechnet jetzt unter der Tischplatte die Hände zu Fäusten ballt.
Sekunden später bricht ihre Welt zusammen.
»Kann ich mit Ihnen beiden allein sprechen?«, fragt Ludger, und nun sieht er Marianne nicht mal mehr an.
»Selbstverständlich«, antwortet der Kommissar. »Sollen wir einen Moment nach draußen gehen?«
Ludger nickt und erhebt sich mit so schwerfälligen Bewegungen, dass er wie ein alter Mann auf Marianne wirkt. Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwindet er mit dem Kommissar durch die Haustür.
Bevor Marianne sich irgendwie zu dem Vorgefallenen verhalten kann, bietet die hübsche Kommissarin ihr an: »Wenn Sie mögen, bleibe ich solange hier drinnen bei Ihnen.«
Marianne nickt nur. Ihr ist plötzlich, als hätte sie die Sprache verloren. Und nicht nur das, auch jede Bewegung scheint ihr unendlich schwer zu fallen. Sie lässt sich auf den Küchenstuhl fallen, auf dem eben noch Ludger gesessen hat.
»Wie’s aussieht, hat das Ganze Ihren Mann ziemlich mitgenommen«, hilft ihr die Kommissarin.
»Er träumt schlecht. Und er isst fast nichts mehr«, flüstert Marianne.
»Kannte er das Opfer vielleicht?« Die Stimme der Kommissarin klingt mitfühlend, aber Marianne ahnt die Absicht hinter der Frage.
»Wenn Sie meinem Mann jetzt irgendetwas anhängen wollen, dann sind Sie bei mir an der Falschen«, zischt sie, während ihr Kampfgeist erwacht. »Überhaupt verstehe ich nicht, warum Sie Ludger immer wieder bedrängen. Sie sehen doch selbst, wie sehr es ihn mitnimmt.«
»Er hat uns angelogen«, stellt die Kommissarin kühl fest. Und jetzt ist auch aus ihrer Stimme alle Freundlichkeit gewichen.
Stimmt, muss Marianne sich eingestehen. Er hat nicht nur die Polizei angelogen, sondern mich offensichtlich auch.