Bastian schließt die Wohnungstür auf, hängt seine Jacke an die Garderobe und kickt die Sneakers in die Ecke. Silja räuspert sich tadelnd, dann stellt sie ihre Schuhe betont ordentlich neben seine.
»Sorry«, murmelt Bastian und geht voran in die Wohnküche, ohne sich noch einmal nach seinen Schuhen zu bücken. »Wein?«, fragt er, während er schon die Kühlschranktür öffnet.
»Unbedingt«, antwortet Silja und wirft sich aufs Sofa. Noch während Bastian die Flasche entkorkt, beginnt Silja zu reden.
»Was Ludger Voigt dir da unter vier Augen präsentiert hat, war ja wohl die älteste und abgeschmackteste Ausrede überhaupt. Oder was denkst du?«
»Es soll tatsächlich Männer geben, die ihre Frauen betrügen und sich dafür auch mal von ihrem Arbeitsplatz wegstehlen. Nicht, dass ich damit irgendwelche Erfahrungen hätte.« Bastian reicht Silja ein gut gefülltes Glas, wirft ihr eine Kusshand zu und nimmt für sich selbst ein Bier aus dem Kühlschrank.
»Aber dass dieser Voigt sich geweigert hat, dir den Namen seiner Geliebten zu nennen, damit sie sein Alibi bestätigen kann, ist schon irgendwie komisch«, beharrt Silja.
»Er will sie schützen, schließlich ist sie auch verheiratet, das hat er doch gesagt.« Bastian lässt sich neben Silja aufs Sofa fallen und legt ihr den Arm um die Schultern. Er will sie an sich ziehen, doch sie macht sich frei.
»Und dafür macht er sich eines Mordes verdächtig? Das überzeugt mich nicht.«
»Silja, du übertreibst. Er hat lediglich ein falsches Alibi, aber noch lange kein Motiv.«
»Oder wir kennen es noch nicht.«
»Er fährt auch keinen weißen Transporter.«
»Oder wir wissen noch nichts davon.«
»Du bist bist ja ganz besessen von dieser Theorie.«
»Ich bin nur logisch. Überleg doch mal: In den letzten zwölf Stunden haben wir bei genau drei Leuten, die mittelbar oder unmittelbar mit dem Verbrechen zu tun haben, Unstimmigkeiten festgestellt.«
»Ludger Voigt hat uns ein falsches Alibi präsentiert, okay, das ist richtig. Aber sonst?« Bastian überlegt kurz. »Irgendetwas stimmt nicht mit dem geänderten Auftrag fürs Cateringunternehmen. Meinst du das?«
»Ganz genau. Und wer ist dafür verantwortlich?«
»Ehrlich gesagt, hat mich die Jakobsen vorhin am Telefon von ihrer Unschuld überzeugt.«
»Sie meine ich auch nicht. Ich denke eher an unsere Kinderbuchautorin Lorena Larsen, schließlich hat sie die Jakobsen im richtigen Moment kontaktiert und die neue Caterin vorgeschlagen, die dann auch sofort zugesagt hat. Und am Tag des Mordes hat ausgerechnet diese neue Caterin in genau dem Augenblick das Besteck zu Boden fallen lassen, als Konrad Otze aus dem Raum getorkelt sein muss. Das sind ein paar Zufälle zu viel, finde ich.«
»Du spinnst dir da was zusammen. Das Einzige, was Lorena Larsen und Pernille Aurich in meinen Augen verbindet, ist, dass sie beide ebenfalls kein Motiv haben.«
»Oder wir kennen es noch nicht«, wiederholt Silja.
»Herrje«, seufzt Bastian, »du kannst ganz schön hartnäckig sein.«
»Ich weiß nicht, wie es bei dir war, aber mir hat man genau das in der Ausbildung beigebracht«, entgegnet Silja und kneift ihn in die Seite.
»Aua, das ist mein Hüftgold. Das habe ich mir im Schweiße meines Angesichts angefressen. Geh gefälligst etwas sorgfältiger damit um.«
»Du bist unmöglich«, lacht Silja, wird aber schnell wieder ernst. »Diese drei, also Voigt, Larsen und Aurich, haben übrigens tatsächlich etwas gemeinsam, worüber wir noch nie gesprochen haben.«
»Und das wäre?«
»Sie stammen alle drei von der Insel. Und zwar als einzige von allen am Geschehen Beteiligten.«
»Echt?« Bastian überlegt kurz, dann stimmt er ihr zu. »Nur was hilft uns das?«
»Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Motiv etwas mit Sylt zu tun hat.«
»Na super. Kommst du mir jetzt wieder mit deiner These von der Agatha-Christie-Analogie?«
»Gut, dass du mich daran erinnerst.«
»Silja, jetzt mal ganz im Ernst.« Er richtet sich auf und blickt ihr direkt in die Augen. »Ich weiß, wie schwer es für dich war, den Mord an deiner kleinen Schwester zu verarbeiten …«
»Und schließlich aufzuklären, vergiss das nicht«, unterbricht sie ihn.
»Auch das. Aber kann es nicht sein, dass du nur aus diesem Grund besonders sensibel auf die Mord-im-Orient-Express-Parallele reagierst, die uns Fred Hübner untergeschoben hat? Schließlich ist auch in dem Roman ein kleines Mädchen entführt und umgebracht worden.«
Silja schweigt eine Weile, und Bastian lässt ihr die Zeit, die sie braucht. Als sie schließlich das Wort ergreift, muss sie zugeben: »Vielleicht hast du recht. Ich bin befangen und voreingenommen und sehe möglicherweise Zusammenhänge, wo es keine gibt. Andererseits hatte ich schon immer großen Respekt vor Hübners Spürsinn. Also lass mich bitte noch eine einzige Sache überprüfen, bevor ich mich von meiner These verabschiede.«
»Alles, was du willst«, antwortet Bastian und ist trotzdem erstaunt, als Silja aufsteht und sich wieder anzieht.
»Was hast du vor?«
»Ich fahre noch mal kurz ins Kommissariat, ein paar Dinge im Intranet checken.«
»Hat das nicht bis morgen Zeit?«
»Nein, Chef, hat es nicht«, entgegnet Silja und schlüpft aus der Wohnung.