Silja stoppt den Wagen und löscht das Abblendlicht. Sie hat genau gegenüber dem Wohnhaus von Lorena Larsen geparkt und kann nun direkt in deren hell erleuchtetes Fenster sehen. Nicht dass die Kommissarin dieses Ziel von Anfang an im Auge hatte, doch als sie schon vor dem Kommissariat angekommen war, sah sie oben Licht im Fenster. Das konnte eigentlich nur Sven sein, der ganz offenbar Überstunden machte. Silja beschloss spontan, weiterzufahren. Sie wollte jetzt nicht mit dem Kollegen reden, sondern allein sein, um sich über einiges klar zu werden. Und da sich die meisten ihrer Gedanken mittlerweile um Lorena Larsen drehten, fand die Kommissarin ganz von allein den Weg in den Tinnumer Peter-Andresen-Wai, wo sie die Larsen gerade vorgestern zu einer ganz ähnlichen Zeit vernommen hatte. Doch während die Kinderbuchautorin am Samstag allein war, hockt sie nun gemeinsam mit Shirin Yildirim auf dem Sofa. Vor den beiden stehen auf einem niedrigen Tisch eine Flasche Rotwein und zwei halb gefüllte Gläser, daneben zwei Schalen, in denen offenbar Knabbereien sind. Es scheint ein lebhaftes Gespräch im Gange zu sein, beide Autorinnen gestikulieren heftig und fallen sich häufig gegenseitig ins Wort. Da aber zwischendurch auch sehr gelacht wird, geht Silja davon aus, dass es sich bei dem Gespräch nicht unbedingt um ernstere Themen handelt. Alles wirkt harmlos und unverdächtig, zwei Frauen, die sich sympathisch sind, verbringen einen angeregten Abend miteinander.

Bei ihrem ersten Gespräch hat die Kinderbuchautorin freimütig erzählt, wann und unter welchen Umständen Konrad Otze den Pensionsspeiseraum verlassen hat. Am heutigen Nachmittag wollte sie sich – ebenso wie alle anderen Colloquiumsteilnehmer – daran plötzlich nicht mehr erinnern können. Und auch die Aussagen zu ihrer Beteiligung an der Catering-Vermittlung waren anfänglich ganz andere. Zunächst wollte sie gar nichts damit zu tun gehabt haben, sagte sogar, dass sie das Unternehmen nicht kenne. Später gab sie zu, nur ganz am Rande beteiligt gewesen zu sein. Doch inzwischen scheint es so, als habe die Larsen das Unternehmen von Pernille Aurich sogar selbst ins Spiel gebracht.

Sind diese Widersprüche purer Zufall? Oder was könnte die so unschuldig scheinende Autorin zu verbergen haben? Und vor allem: Welches Motiv könnte überhaupt hinter ihren unterschiedlichen Aussagen stecken? Oder ist sie vielleicht einfach nur unkonzentriert, nimmt die polizeilichen Ermittlungen nicht wichtig genug und erzählt daher immer etwas anderes? Längst weiß Silja, dass Zeugen, die immer ganz genau dasselbe, möglichst sogar wortwörtlich, zu Protokoll geben, nicht unbedingt die glaubwürdigsten sind. Gerade die kleinen Abweichungen in den Aussagen machen diese oft authentischer.

Wahrscheinlich hat Bastian recht, und ich steigere mich in etwas hinein, überlegt Silja gerade, als sich hinter der Panoramascheibe etwas tut. Der Fernseher wird ausgeschaltet, die Weingläser werden geleert, und offensichtlich schicken die beiden Frauen sich an, ins Bett zu gehen. Schon löscht

Ich sollte nach Hause fahren und mich schlafen legen. Diese ganzen Grübeleien führen doch zu nichts. Morgen ist ein neuer Tag, der bestimmt mehr Klarheit in die Ermittlungen bringen wird.

Während der nächsten Minuten spürt Silja immer deutlicher, wie müde sie ist, und lässt schließlich den Wagen an. Da flammt unerwartet das Licht in Lorena Larsens Hausflur auf. Schnell dreht die Kommissarin den Zündschlüssel zurück. Sekunden später tritt die Kinderbuchautorin aus dem Haus. Sie trägt eine dicke Jacke und hat eine Pudelmütze über ihr rotes Haar gezogen. Mit energischen Schritten marschiert sie Richtung Bahnhof.

Wo will sie hin? Was hat sie vor?

Silja wartet, bis der Abstand groß genug ist, dann startet sie den Wagen erneut und rollt langsam hinter der Autorin her. Tatsächlich ist deren Ziel der Westerländer Bahnhof. Mit schnellen Schritten überquert Lorena Larsen das Areal, in dem die Busse halten, und verschwindet aus Siljas Blickfeld, als sie hinten am Bahnhofsgebäude vorbei in Richtung der Gleise geht.

Silja stoppt den Wagen und springt hinaus. Sie kann sehen, dass ein Zug abfahrbereit auf dem Gleis wartet. Schon ertönt die finale Lautsprecherdurchsage. Die Kommissarin spurtet quer über den Platz, biegt um die Ecke und erreicht wenige Sekunden später den Bahnsteig. Doch es ist zu spät, der Zug nimmt gerade Fahrt auf, und Silja kann ihm nur noch hinterherblicken. Der Bahnsteig ist leer.

Die Kommissarin flucht leise. So hat sie sich ihre Verfolgung nicht vorgestellt. Frustriert blickt sie hinauf zu der Anzeigetafel, wo noch die Daten zu dem gerade

Wie wahrscheinlich ist es, dass Lorena Larsen nachts und ohne Gepäck aufs Festland flieht? Oder vielleicht will sie nur nach Keitum? Aber niemand der anderen Beteiligten wohnt dort. Eher dürfte Morsum als Ziel interessant sein, denn dort ist mit Enard Gastmann immerhin einer der Hauptverdächtigen untergekommen. Schnell läuft Silja zurück zu ihrem Wagen. Doch noch bevor die Kommissarin dort ankommt, wird ihr klar, wie unwahrscheinlich es ist, die Strecke nach Morsum mit dem Auto in zehn Minuten zu bewältigen. Schließlich haben Bastian und sie vorhin eine knappe Viertelstunde gebraucht, und ihre Wohnung liegt noch nicht einmal in der Westerländer Innenstadt. Aber vielleicht schaffe ich es in fünf Minuten zum Keitumer Bahnhof, schießt es Silja durch den Kopf, dann könnte ich dort noch schnell in den Zug springen.

Silja pappt das Blaulicht aufs Dach und braust los. Zum Glück ist am Montagabend auf den Sylter Straßen nicht besonders viel Verkehr, so dass die Kommissarin auf der schnurgeraden Keitumer Landstraße ordentlich Gummi geben kann. Nach immerhin fünfeinhalb Minuten ist sie auf dem großen Parkplatz angekommen.

Doch der Zug war schneller, und sie kann ihm auch hier nur wieder hinterherschauen.

Wütend schlägt Silja aufs Lenkrad. Aber dann hat sie eine Idee. Sie wird direkt zum Haus der Burghardts fahren, sich unter einem Vorwand bei Enard Gastmann melden und dort auf Lorena warten. Der Fußweg, den Lorena vom Bahnhof aus zurücklegen muss, ist lang genug, so dass Silja in jedem Fall vor der Autorin bei dem Lyriker eintreffen sollte.

Inzwischen ist Silja wieder hellwach und hat sogar Vergnügen an ihrer nächtlichen Spritztour gefunden. Sie braust über leere Straßen, fegt durch etliche Kurven und hat streckenweise das Gefühl, das einzige Wesen in dieser windumtosten, sternenübersäten Landschaft zu sein. Rekordverdächtige sechs Minuten später steht Silja vor dem Haus der Burghardts.

Alles ist dunkel. Vor dem Haus parkt kein Auto, das Garagentor ist geschlossen. Die Kommissarin steigt aus ihrem Wagen, öffnet das Friesentor am Grundstückseingang und inspiziert die Vordertür. Es gibt nur eine einzige Klingel, auf dem Schild darüber steht Familie Burghardt. Aber da ist ja noch die gewendelte Außentreppe, die direkt zum Gästezimmer hinaufführt. Doch zunächst umrundet Silja das Gebäude neugierig. Auch hinten brennt kein Licht, Familie Burghardt scheint bereits in Morpheus’ Armen zu liegen, oder sie ist ausgeflogen.

Nur ganz oben aus dem Dachfenster leuchtet eine Lampe. Enard Gastmann ist also noch wach, überlegt Silja. Ob die Larsen einfach hinaufmarschieren wird? Oder wird sie Gastmann vorher auf dem Handy kontaktieren? Vermutlich eher das. Vielleicht kommt er dann herunter, damit beide draußen ungestört reden können – worüber auch immer.

Silja beschließt, vor dem Haus zu warten. Inzwischen müsste der Zug längst Morsum passiert haben und Lorena Larsen schon auf halbem Weg hierher sein. Silja wartet zehn Minuten und dann noch einmal zehn. Der kalte Nordseewind lässt ihre Wangen prickeln und ihre Haare fliegen. Trotzdem steigt sie nicht wieder ins Auto. So bleibt sie immerhin wach

Enard Gastmanns Stimme klingt verschlafen. »Hallo? Wer ist da?«

In diesem Moment hat Silja eine Idee.

Es ist nicht besonders professionell, was sie jetzt macht, und legal schon gar nicht, aber vielleicht nützt ihr der Überraschungseffekt.

»Ich bin’s, Lorena«, flüstert sie und fügt gleich noch hinzu: »Kommst du runter?«

»Was?« Gastmann stockt kurz, als müsse er sich erst besinnen. »Was soll das? Ich liege schon im Bett.«

»Wir waren doch verabredet«, fügt die Kommissarin hinzu, obwohl sie schon ahnt, dass sie hier einem ganz blöden Irrtum aufgesessen ist.

»Spinnst du? Es ist mitten in der Nacht. Stehst du wirklich vor der Tür?«

Silja fühlt sich mit einem Mal unendlich dumm. Sie schämt sich furchtbar für diese ganze abendliche Aktion und vor allem für das falsche Telefonat.

»Sorry, hab mich verwählt«, kann sie gerade noch stammeln, dann legt sie auf, ohne Gastmanns Antwort abzuwarten. Mist! Mist! Mist!

Entmutigt steigt Silja wieder in ihren Wagen, die Müdigkeit legt sich wie ein schweres Tuch über sie. Langsam fährt die Kommissarin die Strecke zum Morsumer Bahnhof zurück. Immerhin ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass Lorena ihr hier doch noch in die Arme läuft. Aber da ist niemand. Keine Lorena Larsen und auch sonst keine Menschenseele. Der nächtliche Bahnhof liegt einsam und still