Sven Winterberg sitzt seit einer geschlagenen Stunde ratlos vor mehreren mit Schaubildern und Symbolen bekritzelten Papierblättern, die er im Lauf des Abends hergestellt hat. Nach den anscheinend so ergebnislosen Besuchen bei den sechs Fahrzeughaltern hat ihm der Fall keine Ruhe gelassen, und er ist noch einmal ins Kommissariat zurückgekehrt. Seine Frau Anja, die er natürlich angerufen hat, war zwar nicht begeistert davon, wieder einen Abend ohne ihren Mann zu verbringen, hatte aber letztendlich Verständnis.
Leider muss sich Sven eingestehen, dass ihn auch ausführliches Kombinieren nicht weitergebracht hat. Akribisch ist er alle Vernehmungsprotokolle noch einmal durchgegangen, hat die Aussagen miteinander verglichen und versucht, irgendwelche Widersprüche zu finden. Dann hat er die Fahrzeughalter der weißen Ivecos überprüft. Doch niemand von denen ist vorbestraft oder sonst irgendwie auffällig geworden. Und letztendlich haben sie entweder ein Alibi, oder der Wagen passt nicht ins Profil. Auf jeden Fall scheiden die beiden älteren Herren mit den identischen Wagen als Verdächtige aus, ebenso der Bildhauer, der Riesenradbetreiber mit dem total zerschrammten Auto und der Morsumer Freak, dessen Auto mit einem Motorschaden in der Werkstatt steht. Nur bei Hans Burghardt, dem zweiten Morsumer, ist die Lage etwas komplizierter. Zwar war er zu der fraglichen Zeit tatsächlich bei der freiwilligen Feuerwehr, wie Sven gleich im Anschluss an seinen Besuch überprüfen konnte, aber ist es wirklich ein Zufall, dass Enard Gastmann ausgerechnet bei Familie Burghardt logiert?
Was, wenn entweder Burghardt selbst oder seine Ehefrau den Lyriker decken? Ein Motiv für den Mord hätte der allemal, eigentlich sogar ein doppeltes. Sowohl erotisch als auch beruflich muss sich Enard Gastmann von dem Kritiker schroff abgewiesen gefühlt haben.
Sicherheitshalber hat Sven die Familie Burghardt gründlich durchleuchtet und sich alle verfügbaren Informationen über das Ehepaar Hans und Cornelia besorgt. Beide sind auf der Insel groß geworden und haben dieselbe Schule besucht. Hans ist Einzelkind, Cornelia kommt aus einer größeren Familie, die inzwischen im ganzen Bundesgebiet beheimatet ist, nur einer ihrer drei Brüder lebt noch auf Sylt.
Sven stutzt plötzlich und ruft sich noch einmal den Eintrag im Einwohnermeldeamt auf:
Cornelia Burghardt, geborene Voigt. Eltern: Manuela und Manfred Voigt.
Voigt. Das ist doch derselbe Name, den auch der Verwalter der Vogelkoje trägt, schießt es dem Kommissar durch den Kopf. Und er ist es, der den sterbenden Konrad Otze gefunden hat. Ist das jetzt wieder einer dieser dämlichen Zufälle, die jedem Kommissar die Laune verderben können? Oder steckt mehr dahinter?
Schnell ist auch der Eintrag von Ludger Voigt beim Einwohnermeldeamt gefunden. Und jetzt kann Sven einen Triumphschrei nicht unterdrücken.
Bingo!
Cornelia Burghardt und Ludger Voigt sind Geschwister. Somit ist der Vogelkoje-Verwalter der Schwager des Morsumer Fahrzeughalters, dessen Transporter als Einziger zur Tatzeit verfügbar war. Und beide wohnen in Morsum, nicht allzu weit voneinander entfernt. Es wäre also theoretisch möglich gewesen, dass sich Ludger Voigt das Auto seines Schwagers leiht, um den betäubten Konrad Otze zu transportieren.
Theoretisch, muss sich Sven allerdings eingestehen. Denn zeitlich wäre das Ganze durchaus knapp, und von einem Motiv Ludger Voigts, der dann ja vermutlich auch den Mord begangen haben müsste, ist weit und breit nichts zu ahnen.
Trotz der späten Stunde und seiner Bedenken greift Sven zum Telefon und klingelt bei Bastian und Silja durch. Der Anruf wird sofort angenommen. Doch bereits nach Svens ersten Worten unterbricht Bastian ihn verblüfft: »Du bist auch im Kommissariat? Seid ihr weitergekommen?«
»Weitergekommen schon«, antwortet Sven überrascht. »Aber wen meinst du mit ihr?«
»Ist Silja nicht bei dir?«
»Nope.«
»Schon weg, oder wie?«
»Nein. Sie war nie hier.«
»Was? Das gibt’s doch nicht. Ich melde mich gleich wieder.«
Und schon hat ihn Bastian abgehängt. Verwirrt starrt Sven auf das Telefon. Natürlich versucht er sofort, Silja zu erreichen, doch ihr Handy ist besetzt. Wahrscheinlich macht ihr Bastian gerade die Hölle heiß, überlegt Sven und beschließt, jetzt endlich nach Hause zu fahren. Dann wird er den Kollegen eben morgen früh von seiner Entdeckung berichten.
Doch als der Kommissar gerade das Licht im Büro löschen will, hört er Schritte auf der Treppe. Sekunden später steht Silja vor ihm.
»Wo warst du? Bastian ist stinksauer, scheint’s«, empfängt er die Kollegin.
»Frag lieber nicht«, stöhnt sie. »Ich dachte, ich hätte eine heiße Spur, aber irgendwie ist alles nicht so ausgegangen, wie ich mir das vorgestellt habe. Und mit Bastian habe ich gerade gesprochen, der wird sich schon wieder beruhigen. Eigentlich wollte ich auch gleich zu ihm fahren, aber dann habe ich gesehen, dass hier immer noch Licht ist, und wollte kurz nach dir sehen.«
»Wenn du einen Moment hast, erzähle ich dir, was ich gerade entdeckt habe«, beginnt Sven und erläutert die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Familien Burghardt und Voigt. Zu seinem nicht geringen Erstaunen reagiert Silja total emotional.
»Ich bin ja so blöd«, ruft sie aus und schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin!«
Sven versteht nur Bahnhof, bis ihm Silja von ihrer abendlichen Rundfahrt berichtet. Sie schließt mit den Worten: »Und während ich vor dem verwaisten Haus der Burghardts gewartet habe, werden die sich wohl alle drei bei Voigts am Esstisch versammelt haben.«
»Du meinst, Lorena Larsen, Ludger Voigt und Hans Burghardt stecken unter einer Decke?«
»Nur so ergibt das alles einen Sinn.«
»Aber die haben doch überhaupt kein Motiv. Warum also sollten sie Konrad Otze umgebracht haben?«
»Das ist nach wie vor die Hunderttausend-Euro-Preisfrage«, erwidert Silja. »Und bevor wir da nicht irgendeinen Verdacht haben, sollten wir sie vielleicht in Ruhe wiegen. Zum Glück hat die Larsen eben nichts von meiner Verfolgungsaktion bemerkt.«
»Sollen wir gleich noch mal recherchieren?«, schlägt Sven vor, aber Silja winkt ab.
»Lass uns das besser auf morgen verschieben. Dann sind wir alle drei ausgeschlafen und haben vielleicht auch frischere Ideen. Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber meine Batterien sind gerade ziemlich leer.«
»Also dann bis morgen früh. Dann knacken wir den Fall gemeinsam«, verabschiedet sich Sven, als sie miteinander auf dem Parkplatz angekommen sind. Doch der zweifelnde Tonfall seiner Stimme widerspricht den hoffnungsvollen Worten aufs entschiedenste.