Unruhig wälzt sich Shirin Yildirim auf der Schlafcouch in Lorena Larsens Gästezimmer. Die Matratzeist durchgelegen und die Luft in dem kleinen Raum stickig. Außerdem ist Shirin es nicht gewohnt, schon um halb elf in der Falle zu liegen. Aber was sollte sie machen? Lorena schien urplötzlich einen Müdigkeitsanfall zu haben und machte alle Anstalten, um den gemeinsamen Abend zu beenden. Shirin ist dankbar dafür, dass sie überhaupt bei Lorena Unterschlupf gefunden hat, und wollte keinesfalls unhöflich sein. Also ist sie brav im Gästezimmer verschwunden, hat noch ein wenig im Internet gedaddelt und dann das Licht ausgemacht.
Lorena selbst schien tatsächlich todmüde gewesen zu sein, jedenfalls waren ihre Schritte nur noch einige Minuten aus der Diele zu hören. Dann wurde es still.
Shirin hätte gern noch den einen oder anderen Schluck von dem Rotwein getrunken, es war sicher noch ein Glas voll in der Flasche, aber sie hat höflich gewartet, bis sie annehmen konnte, dass Lorena wirklich schläft, um sie nicht zu stören. Dabei muss Shirin sogar selbst eingenickt sein. Doch jetzt ist sie wieder wach, denkt immer noch an den Wein und braucht außerdem dringend frische Luft. Sie wühlt sich aus der Bettwäsche, schlüpft in einen Slip, zieht ein T-Shirt über und tapst nach draußen.
Die Küchentür steht offen, aber die Tür zu Lorenas Schlafzimmer ist zu. Leise schleicht sich Shirin erst zu dem Regal mit den Weingläsern, dann zum Kühlschrank. Aber natürlich steht hier keine Rotweinflasche, hätte sie sich ja gleich denken können. Als Shirin nach kurzem Suchen auf dem Fensterbrett fündig wird, will sie gerade nach der Flasche greifen, als draußen etwas Merkwürdiges geschieht.
Direkt vor Lorenas Haus steht eine Straßenlaterne, unter deren Licht erscheint eine dunkel gekleidete Gestalt und huscht zum Hauseingang. Ein Schlüsselbund klappert, die Vordertür fällt ins Schloss, und Sekunden später dreht sich ein Schlüssel in Lorenas Wohnungstür.
Shirin erschrickt. Wer kann das sein? Und weiß Lorena von dem ungebetenen Gast? Ohne groß nachzudenken, schlüpft sie in Lorenas Schlafzimmer und zieht leise die Tür hinter sich ins Schloss. Besser zu zweit dem Eindringling begegnen als allein, denkt sie sich. Mit klopfendem Herzen horcht sie auf die Schritte im Flur. Jemand zieht sich die Schuhe aus, eine Jacke raschelt beim Aufhängen.
Komisch, dass Lorena das nicht auch hört. Aber vielleicht ist sie gerade im Tiefschlaf. Shirin tastet nach dem Lichtschalter, um die Kollegin aufzuwecken. Doch als es hell wird, erschrickt sie erneut. Lorenas Bett ist unberührt.
Dann wird es wohl meine Gastgeberin selbst sein, die da gerade nach Hause gekommen ist. Offenbar war ihre Müdigkeit nur vorgespielt, weil sie noch etwas zu erledigen hatte, schlussfolgert Shirin. Aber was könnte das sein?
Obwohl Shirin ihren kurzfristig anberaumten Sylt-Aufenthalt bisher ziemlich cool genommen und als willkommene Recherche für einen geplanten Krimi angesehen hat, wird ihr jetzt mulmig zumute. Immerhin hat es einen Mord gegeben, und alle Colloquiumsteilnehmer sind verdächtig. Bisher hat Shirin diese Verdächtigungen eher für großen Quatsch gehalten und stattdessen an einen mysteriösen Unbekannten geglaubt, der Konrad auf dem Gewissen hat. Aber jetzt kommen ihr Zweifel an der Harmlosigkeit einiger ihrer Kollegen.
Fred Hübner mit seiner obercoolen Attitüde der Unverletzlichkeit war ihr eigentlich von Anfang an suspekt. Und was Enard Gastmann dachte und fühlte, konnte sowieso niemand erraten. Doch dass ausgerechnet die gutmütige und fröhliche Lorena irgendeinen fiesen Mordplan ausgeheckt haben könnte, will Shirin einfach nicht in den Sinn.
Trotzdem möchte sie ungern von ihrer Gastgeberin in deren Schlafzimmer überrascht werden. Zur Not rede ich mich auf den Versuch hinaus, ein erotisches Abenteuer anleiern zu wollen, denkt sie noch, aber besser wäre es, ich käme hier irgendwie wieder raus, bevor Lorena mich entdeckt.
Doch dazu besteht keine Chance, denn jetzt wird die Tür zu Lorenas Schlafzimmer mit einem Ruck geöffnet. Die beiden Frauen stehen sich im grellen Licht der Deckenlampe gegenüber. Lorena in einer schwarzen Jeans und einem dunklen Hoodie. Shirin nur mit dem T-Shirt und einem ziemlich knappen Slip bekleidet.
»Was machst du denn hier?«
»Ich wollte … also das ist kompliziert«, beginnt Shirin, wird aber gleich unterbrochen.
»Spionierst du hier herum, oder was?«
Lorenas Tonfall ist aggressiver, als Shirin erwartet hat, und er macht ihr jetzt wirklich Angst. Sie beschließt sofort, keine Ausrede zu gebrauchen, sondern schlicht die Wahrheit zu sagen. Furchtsam drückt sie sich an der Wand entlang, um irgendwie zur Tür zu kommen, und erklärt dabei kleinlaut: »Nein, natürlich spioniere ich dir nicht hinterher. Warum sollte ich auch? Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch weggehst, und als ich dann plötzlich den Schlüssel an der Tür gehört habe, fand ich das unheimlich und dachte, hier bricht jemand ein. Ich wollte dich einfach nur wecken. Ich wusste ja nicht, dass du gar nicht da bist.«
»Das kann ja jeder sagen.« Wütend funkelt Lorena die Kollegin an. »Morgen bist du hier weg. Ich bin doch nicht so blöd und beherberge jemanden, der mir hinterherspioniert.«
»Das habe ich wirklich nicht, das musst du mir glauben«, bittet Shirin, die inzwischen die Tür zur Diele erreicht hat.
»Raus!«
Verschreckt verlässt Shirin Lorenas Schlafzimmer und zieht sich ins Gästezimmer zurück. Einem Impuls folgend, dessen Ursprung sie lieber nicht näher ergründen will, schließt sie die Tür hinter sich ab. Dann lässt sie sich erschöpft auf das Schlafsofa fallen. Es dauert einige Minuten, bis sie das gerade Erlebte noch einmal vorurteilslos Revue passieren lassen kann.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Zum Glück hat Lorena nicht noch einmal versucht, Shirin zur Rede zu stellen, sondern ist erst im Bad und dann in ihrem Zimmer verschwunden. Trotzdem will Shirin plötzlich nur noch weg, möglichst bevor Lorena es sich anders überlegt. Aber wohin, so mitten in der Nacht? Und was wird Lorena sagen, wenn sie merkt, dass Shirin sich Hals über Kopf aus ihrer Wohnung stiehlt? Egal!
Shirin tritt ans Fenster und blickt hinaus. Ihr Zimmer geht zur Seite und liegt ebenerdig über einem kleinen Weg. Da auszusteigen dürfte kein Problem sein, erkennt sie erleichtert. Als Nächstes googelt Shirin ein paar der besseren Hotels, deren Rezeption wahrscheinlich auch nachts besetzt ist. Dann tätigt sie zwei Anrufe, fragt jedes Mal nach einem freien Zimmer und hat beim zweiten Mal Erfolg. Schnell zieht sie sich an, wirft all ihre Sachen in die Reisetasche und bestellt ein Taxi zu einer Adresse, die einige Hausnummern von Lorenas Haus entfernt ist. Nur kein Aufsehen erregen jetzt und nicht wieder den Zorn von Lorena auf sich ziehen.
Vorsichtig lässt Shirin ihre Reisetasche jenseits des Fensters zu Boden gleiten und steigt selbst hinterher. Mit leisen Schritten stiehlt sie sich davon. Erst als sie auf der Rückbank des Taxis sitzt, dem Fahrer die Hoteladresse genannt hat und dieser losgefahren ist, spürt sie, wie sehr ihr Herz klopft.