Dienstag, 30. September, 07.10 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Silja und Bastian treffen Sven schon auf dem Parkplatz des Kommissariats. Es ist ein heller Morgen,

»Hat es dich auch so zeitig aus dem Bett getrieben?«, begrüßt Bastian den Kollegen.

»Wenn der Spürhund die Fährte wittert, hält ihn nichts mehr an der Leine.«

»Oha! Am frühen Morgen schon so literarisch unterwegs.« Bastian knufft den Kollegen in die Seite.

»Schließlich haben wir es ja auch mit einem literarischen Verbrechen zu tun.« Sven zwinkert Silja zu, während alle drei das Kommissariat betreten. Sie begrüßen kurz die uniformierten Kollegen, fragen nach, ob es Neuigkeiten gibt, und gehen dann nach oben in ihr Büro.

»Jetzt fang du bitte nicht auch wieder mit der Agatha-Christie-Nummer an«, seufzt Bastian, während er die Tür aufschließt.

»Hat Silja dir gestern Nacht noch damit zugesetzt?«

»Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass Fred Hübner vielleicht einen Grund hatte, diesen Vergleich zu bemühen«, verteidigt sich die Kommissarin.

»Da ging es um die Messer, das hatten wir doch schon.« Bastian hängt seine Jacke auf, geht zur Kaffeemaschine, schüttet den letzten Rest aus der Kaffeedose in den Filter und füllt anschließend den Tank mit Wasser. »Zu Weihnachten wünsche ich mir von der Bispingen eine neue Kaffeemaschine«, murmelt er.

»Träum weiter«, grinst Sven und holt ein frisches Paket Filterkaffee aus seiner Aktentasche. »Aber dafür bekommst du das hier von mir. Sofort und gratis und dazu noch ganz ohne Weihnachtsgedöns.«

»Du bist der Beste!«

»Erinnert ihr euch noch daran, dass Fred Hübner mit seiner Agatha-Christie-Analogie nicht nur die Messer gemeint hat? Keiner von uns hat ihn bisher nach seiner These zu dem Verbrechen gefragt.«

»Also jetzt hör endlich auf. Der hat sich nach der Pressekonferenz genügend wichtig gemacht«, grantelt Bastian. »Wir werden diesen verdammten Fall selbst lösen, und zwar pronto. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Dankbar sieht Silja, wie Sven den Hauptkommissar beruhigend an der Schulter fasst. »Lass stecken, Bastian. Wir brauchen jede Idee, die uns weiterhelfen kann. Und wie Silja schon gestern Abend klug erkannt hat, sind ausgerechnet unsere momentanen Hauptverdächtigen Lorena Larsen, Ludger Voigt und Hans Burghardt echte Inselkinder. Und Fred Hübner …«

»… ist genau das nicht«, unterbricht ihn Bastian. »Zwar hat er lange hier gelebt, aber er ist nicht hier geboren, nicht hier aufgewachsen und nicht hier zur Schule gegangen.«

»Seine Erinnerungen an die heißen siebziger und achtziger Jahre haben uns schon bei anderen Ermittlungen geholfen«, mischt sich Silja ein. »Und wenn es tatsächlich um eine alte Schuld gehen sollte, dann weiß er vielleicht was.«

»Alte Schuld, wenn ich das schon höre«, seufzt Bastian genervt.

»Vorschlag zur Güte«, versucht Sven zu vermitteln. »Ich gucke jetzt mal, ob ich irgendwelche Verbindungen von der Larsen zu den beiden anderen finde.«

»Guter Punkt.« Sven fährt seinen Rechner hoch und startet eine Personenabfrage. Anschließend hackt er wie wild auf seine Tastatur ein. Silja linst ab und an neugierig zu dem Kollegen hinüber, ist aber klug genug, sich nicht einzumischen. Stattdessen kümmert sie sich um die einzige Sache, die noch niemand befriedigend verfolgt hat. Konrad Otzes Vergangenheit als Surfer. Seine Eltern haben von einem plötzlichen Sinneswandel geredet, der sie ziemlich überrascht, aber auch erfreut habe, was Silja während des Gesprächs sehr nachvollziehbar fand. Die beiden wirkten auf die Kommissarin recht gutbürgerlich, da ist es natürlich netter, wenn der Filius eine Karriere als Journalist anstrebt, als wenn er sich in der wilden Surfer-Community herumtreibt.

Aber so ganz scheint Otze ja nicht von seinem Hobby gelassen zu haben, schließlich wollte er noch eine weitere Woche auf der Insel bleiben, um seine alten Kumpels wiederzusehen. Vielleicht hätten wir einfach mal nach denen suchen sollen, überlegt Silja, während sie Konrad Otze windsurfen in die Suchmaschine eingibt.

Frustriert muss sie allerdings feststellen, dass es keinen einzigen brauchbaren Treffer gibt. Die Erklärung dafür liegt leider auf der Hand. Bei seinem Tod war der Kritiker Mitte vierzig. Wenn er schätzungsweise mit Anfang zwanzig in der Community aktiv war, dann ist das etwa fünfundzwanzig Jahre her, liegt also vor der Blütezeit der sozialen Medien.

Doch Silja ist weit davon entfernt, aufzugeben. Wir haben immerhin sein Handy, schießt es ihr durch den Kopf. Und dort gab es einige Chatverläufe mit seinen alten Kumpels, die uns

Als Silja gerade aufstehen will, um sich Otzes Handy zu besorgen, klappt Sven seinen Laptop mit einem satten Knall zu.

»Ihr werdet es nicht glauben«, verkündet er triumphierend, »aber die Aurich und der Voigt sind zusammen zur Schule gegangen. Und nicht nur das, sie sind gleichaltrig und waren auf dem Gymnasium sieben Jahre lang in einer Klasse, kennen sich also ziemlich gut.«

»Interessant«, sagt Bastian langsam. Er lässt sich auf seinem Bürostuhl nach hinten fallen, verschränkt die Hände hinter dem Nacken und schließt die Augen. Silja und Sven schauen ihn neugierig an. Sie kennen ihren Kollegen gut genug, um zu wissen, dass gleich noch etwas nachkommen wird.

Und richtig.

Mit immer noch geschlossenen Augen zählt Bastian auf: »Fassen wir zusammen: Konrad Otze sagt seine Teilnahme an dem Colloquium zu. Daraufhin bewirkt irgendeine Person, die wir noch nicht kennen, die vermutlich nicht Melinda Jakobsen, vielleicht aber Lorena Larsen ist, dass die Cateringfirma gewechselt wird. Pernille Aurich, die neue Caterin, oder einer ihrer Mitarbeiter hätte durchaus die Gelegenheit gehabt, das Betäubungsmittel in Otzes Getränk oder auch in sein Essen zu tun. Auf jeden Fall lenkt die Aurich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich, als Otze angeschlagen den Raum verlässt. Ob absichtlich oder nicht, wissen wir noch nicht. Zwei Stunden später findet ausgerechnet

»Es war zwar keine Schramme zu sehen, aber die kann man überpinseln. Da muss die KTU ran.« Sven greift nach dem Telefon.

Während des ganzen Gesprächs, das der Kommissar mit dem Spurensicherer Leo Blum führt, herrscht Schweigen im Raum. Unkonzentriert lauscht Silja Svens Worten. Irgendetwas fehlt noch, ahnt sie, ohne jedoch das missing link benennen zu können.

Mehrmals spürt die Kommissarin Bastians verwunderten Blick auf sich ruhen. Schließlich fragt er sie leise: »Was ist mit dir? Bist du jetzt zufrieden?«

»Wie könnte ich.« Energisch schüttelt sie den Kopf. »Sitzen wir nicht immer noch in einer ganz blöden Zwickmühle? Wir hatten von Anfang an vier Verdächtige, die ein richtig fettes Motiv für den Mord haben könnten: Enard Gastmann, Shirin Yildirim, Saskia Grothe und natürlich auch Fred Hübner. Aus ganz unterschiedlichen Gründen können sie es aber nicht gewesen sein, zumindest nicht jeder für sich allein, aber irgendwie auch nicht zusammen. Deshalb haben wir uns nach Leuten umgeschaut, die die Gelegenheit für den Mord

»Oder wir kennen es noch nicht, um dich mal zu zitieren«, murmelt Bastian schuldbewusst.

In diesem Moment geht sein Telefon, und ein Anruf wird von den Kollegen unten durchgestellt. Bastian hebt ab und stellt Sekunden später den Lautsprecher an. Aus dem Apparat dringt eine Frauenstimme, die den drei Kommissaren nicht unbekannt ist, auch wenn sie sie noch nie so aufgeregt gehört haben. Shirin Yildirim berichtet von den merkwürdigen Vorfällen der letzten Nacht und schließt mit den Worten: »Ich will Lorena wirklich nicht in irgendetwas reinziehen, aber sie hat mir echt Angst gemacht. Ich bin noch in der Nacht abgehauen, weil sie total unheimlich wirkte und auch – wie soll ich sagen – auf eine Weise aggressiv, die die Situation gar nicht hergab.«

»Sie wissen aber nicht, wo sich Frau Larsen während ihrer Abwesenheit aufgehalten hat?«, fragt Bastian sofort.

»Leider nein. Ich hatte das Gefühl, dass sie sofort auf mich losgehen würde, wenn ich auch nur eine falsche Frage stelle«, gibt die Yildirim kleinlaut zu.

»Machen Sie sich keinen Kopf«, beschwichtigt Bastian. »Sie haben alles richtig gemacht, und es ist super, dass Sie uns gleich informiert haben.«

Nachdem er aufgelegt hat, nickt er Silja zu. »Das bestätigt auf jeden Fall deinen Verdacht. Die Frage ist jetzt nur, welcherart eine Verbindung zwischen der Larsen und den anderen drei Syltern sein könnte.«

»Negativ«, kommt es von Sven. »Die Larsen ist ganze fünf Jahre jünger als Aurich und Voigt, wir haben hier das Geburtsdatum in der Vernehmungsakte. Und bei dem Altersunterschied ist es schon sehr unwahrscheinlich, dass die drei sich zu Schulzeiten irgendwie nähergekommen sind. Fünf Jahre sind in der Pubertät fast ein halbes Menschenleben.«

»Aber Lorena Larsen ist doch nicht ohne Grund in der letzten Nacht unterwegs gewesen. Und als sie zurückkam, hat sie auf verständliche Nachfragen total aggressiv reagiert. Das kann doch kein Zufall sein«, gibt Silja zu bedenken.

»Leute, es hilft nichts, wenn wir hier weiter rumspekulieren. Wir lassen Lorena Larsen erst mal in Ruhe. Wenn wir Glück haben, irritiert sie das Verschwinden der Yildirim so, dass sie irgendeinen Fehler macht. Wir warten das mal ab und rücken stattdessen den anderen dreien auf die Pelle. Sven, du übernimmst Pernille Aurich, Silja kümmert sich um Familie Burghardt, und ich nehme mir noch einmal Ludger Voigt zur Brust. Und zum Mittagessen können wir uns gern bei Toni treffen. Vielleicht frage ich sogar die Bispingen, ob sie dazustoßen und sich auf den neuesten Stand bringen lassen will.«

»Du traust dich was«, lächelt Sven, während er seine Sachen zusammenpackt. »Nicht, dass unsere geschätzte Staatsanwältin dir noch den Appetit verdirbt.«

»Never ever.«

»Was macht dich so sicher?«

»Bis zum Mittagessen haben wir den Fall gelöst«, erklärt Bastian, macht ein Victoryzeichen und verlässt mit energischen Schritten den Raum.