Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden fährt Silja in den Inselosten. Die Herbstsonne steht noch niedrig über den Wiesen und Feldern und lässt den Nachttau schimmern. Alles wirkt wie frisch geputzt. Der Wind hat aufgefrischt, er fegt jetzt über die Insel, zaust Sträucher und Bäume. Ideales Surferwetter, schießt es Silja durch den Kopf und erinnert sie daran, dass sie unbedingt noch die Sportfreunde des Mordopfers kontaktieren will.

Doch zunächst muss sie das Ehepaar Burghardt noch einmal befragen. Die Kommissarin ist fest entschlossen, sich diesmal nicht unverrichteter Dinge wieder zurückzuziehen. Sie wird Klartext reden und die beiden Burghardts keinesfalls mit Samthandschuhen anfassen.

Doch kaum ist Silja aus ihrem Wagen gestiegen, kommen ihr Zweifel an der Schuld des Paares. Allzu idyllisch ist der Anblick, der sich ihr bietet. Cornelia Burghardt kniet, angetan mit einer Gärtnerschürze und festen Handschuhen, im Vorgarten. Neben sich hat sie einen beachtlichen Haufen Blumenzwiebeln, von dem sie sich bedient, um die Zwiebeln in die Erde zu setzen. Ihr Mann sitzt in einem dicken Rollkragenpullover in der Morgensonne auf einer weiß lackierten Bank direkt neben der Haustür und hat einen aufgeklappten Laptop auf den Knien. Ab und an trinkt er aus dem Kaffeebecher, der auf dem kleinen Tisch vor ihm steht.

»Guten Morgen«, ruft Silja über den Gartenzaun. »Ich müsste Sie beide noch einmal sprechen. Es geht immer noch um die Ermittlungen in der Mordsache Konrad Otze.«

Seine Frau hebt nur den Kopf und deutet dann auf ihre erdverschmierten Handschuhe. »Ich wüsste wirklich nicht, was wir noch beizutragen hätten«, murmelt sie und widmet sich anschließend wieder dem Beet.

»Setzen Sie sich zu mir, wer weiß, wie oft wir in diesem Jahr noch so einen schönen Herbsttag erleben. Vielleicht mögen Sie auch einen Kaffee«, bietet der Hausherr freundlich an.

»Das ist nett, aber danke, nein.« Silja lässt sich auf die Bank fallen und beginnt gleich mit der Befragung.

»Darf ich erfahren, was Sie beide gestern Abend gemacht haben?«

»Darf ich erfahren, warum Sie das wissen wollen?«, gibt Hans Burghardt amüsiert zurück.

»Wir prüfen Ihre Verbindung zu Ludger Voigt, der ins Zentrum unserer Ermittlung gerückt ist.«

»Ludger ist mein Schwager, das wissen Sie vermutlich längst. Und ansonsten ist er ein extrem besonnener Zeitgenosse. Es ist einfach lächerlich, ihn mit einem Mord in Verbindung bringen zu wollen.«

»Gestern Abend«, beharrt Silja. »Wo waren Sie da?«

»Hier«, kommt Cornelia Burghardts Stimme aus dem Beet. »Wir haben zwei kleine Kinder, da können wir nicht einfach so abends abhauen.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ferngesehen«, sagt der Hausherr achselzuckend. »Es gab sogar mal einen interessanten Film. Das Zeugenhaus. Spielt 1945 und 1946 in Nürnberg. Sieben oder acht Leute werden von den Amerikanern in einer Villa untergebracht, um bei den Nürnberger Prozessen auszusagen.«

»Natürlich. Was denken Sie denn?« Cornelia Burghardts Stimme wird langsam unleidlich. Sie richtet sich auf und kommt ein paar Schritte näher. »Was brauchen Sie als Beweis? Eine Inhaltszusammenfassung? Die Besetzungsliste?«

»Wann lief der Film denn?«

»Auf arte, 21.45 Uhr ging’s los.«

»Aha.« Silja runzelt die Stirn. »Ich war zwischen halb elf und elf hier vor dem Haus. Da war alles dunkel, kein Fernsehlicht zu sehen.«

»Und was bitte machen Sie zu dieser Uhrzeit hier draußen genau?« Hans Burghardt wartet vergeblich auf eine Antwort. Schließlich redet er weiter. »Aber um auf Ihre unausgesprochene Frage zurückzukommen: Wir waren im Keller, da haben wir seit ein paar Jahren ein gemütliches Fernsehzimmer. Ist ganz praktisch, weil die Kids auf diese Weise nicht ständig mit der Kiste konfrontiert sind.«

»Kann ich das Zimmer mal sehen?«

Er seufzt, steht aber auf. »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient.«

Als sie die extrem steile und enge Kellertreppe hinuntersteigen, erst die Kommissarin, dann der Hausherr, als Letztes die Hausherrin, fährt Silja ganz plötzlich ein Angstschauer durch den Körper. Sie kennt so etwas gar nicht, aber jetzt hat sie eindeutig die Vision, dass Hans Burghardt sie nur zu schubsen bräuchte, und sie würde sich alle Knochen brechen oder Schlimmeres. Unwillkürlich bleibt sie mitten auf der Treppe stehen und sieht sich um.

Unverständnis und leichtes Amüsement prägen das Gesicht des Hausherrn.

Seine Frau wirkt einfach nur ungeduldig. »Was ist?

»Ich schau mich nur mal kurz unten um, wenn ich darf«, antwortet Silja und nimmt die letzten Stufen in Angriff. Niemand schubst sie, niemand bedrängt sie.

Unten gibt es einige normale Holztüren und eine stählerne Feuertür, die Hans Burghardt aufstößt. »Überzeugen Sie sich selbst.«

»Nach Ihnen«, sagt Silja bestimmt.

Achselzuckend betreten beide Burghardts den Raum, erst dann wagt sich Silja hinein. Doch anstelle eines verborgenen Verlieses erwartet sie ein ganz normaler Raum. Das Fernsehzimmer wirkt gemütlich und ist authentisch unaufgeräumt. Chipskrümel auf dem Sofa, ein Rotweinfleck auf der Fernsehzeitung, die aufgeschlagen auf dem niedrigen Couchtisch liegt. Der Arte-Film ist eingekringelt. Neben der Fernsehzeitung befindet sich ein iPad, nach dem Silja unwillkürlich greift.

»Darf ich?«

Hans Burghardt zuckt die Schultern. »Wir haben nichts zu verbergen.« Er nimmt ihr das iPad aus der Hand und entsichert es mit seinem Daumenabdruck. Es erscheint die Wikipedia-Seite des Arte-Films. Silja überprüft den letzten Klick. Gestern Abend um 23.39 Uhr, also knapp zehn Minuten nach Ende des Films, hat das Ehepaar Burghardt offenbar nach weiteren Infos gesucht.

»Das reicht mir, danke für Ihre Kooperation.« Silja legt das iPad wieder auf den Tisch und wendet sich zum Gehen. Sie hat Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Als sie die steile Treppe sieht, kriecht wieder das unangenehme Gefühl in ihr hoch, und sie achtet darauf, als Erste hinaufzugehen.

Der schlichte weiße Bau, der auf großen Steinquadern ruht, glänzt im Sonnenlicht. Silja steigt aus und lehnt sich an das nachtkalte Mauerwerk. Ihr Blick gleitet hinüber zu dem gedrungenen Glockenturm, der einige Meter von der Kirche entfernt steht. Die Steine in ihrem Rücken strömen eine beruhigende Sicherheit aus, genau das, was Silja jetzt braucht. Kein Mensch ist in der Nähe, nur das Kreischen und Zirpen der Vögel über den Feldern ist zu hören. Silja prüft die Qualität des Funksignals und stellt erfreut fest, dass es hier ganz ordentlich ist.

Die Kommissarin hat sich direkt vor ihrem Aufbruch das Handy Konrad Otzes vorgeknöpft und sich die Nummern der beiden Surferfreunde notiert, mit denen der Kritiker vor seinem Tod gewhatsappt hat. Jetzt versucht sie ihr Glück und kann tatsächlich nacheinander alle beide erreichen. Doch obwohl Silja sich am Telefon besonders verbindlich gibt, bleibt jeder von ihnen zugeknöpft. Außer der Bestätigung, dass man sich auf der Insel treffen wollte, um gemeinsam einen draufzumachen und alte Zeiten zu feiern, kann die Kommissarin nichts Ungewöhnliches in Erfahrung bringen. Im Grunde genommen klingen die Freunde Otzes sogar leicht vorwurfsvoll, als habe die örtliche Kripo bei der Aufgabe versagt, den Kritiker angemessen vor seinem Mörder zu schützen, und damit eine Mitschuld auf sich geladen.

Silja bemüht sich weiterhin um Freundlichkeit und erfragt abschließend die Alibis für den Nachmittag der Tat, was sie natürlich nicht beliebter macht. Beide Männer haben die

Bisher führen alle Spuren ins Leere, muss sie sich eingestehen. Und wenn Sven und Bastian ebenso wenig Erfolg haben wie ich, dann können wir unsere schöne Theorie komplett vergessen und müssen noch einmal ganz von vorn anfangen.

Frustriert löst sich Silja von der Kirchenwand und schleppt sich zurück zum Wagen. Eine Lachmöwe segelt dicht über ihren Kopf hinweg und stößt ihr charakteristisches Kek, kek, kek aus. »Mach dich nur lustig über mich«, murmelt Silja, entriegelt den Wagen und lässt sich hinters Steuer fallen. Als sie starten will, sieht sie, dass die Möwe sich offenbar direkt auf ihren Ärmel entleert hat. Das war ja so was von klar, schießt es ihr durch den Kopf, während sie im Handschuhfach nach einem Papiertaschentuch sucht.

Aber vielleicht bringt mir der Möwenschiss ja wenigstens Glück.