Saskia Grothe bummelt entspannt die Kampener Einkaufsmeile entlang. Neben Restaurants und Bars logieren hier exquisite Geschäfte in putzigen kleinen Friesenhäusern. Unter tiefgezogenen Reetdächern werden in üppig dekorierten Schaufenstern Schlangenledergürtel für mehrere tausend Euro ebenso schamlos präsentiert wie Duftkerzen für einige hundert Euro oder Luxusimmobilien, deren Kaufpreis mit Sicherheit im zweistelligen Millionenbereich liegt, obwohl er, vorgeblich aus Diskretionsgründen, nicht genannt wird.
Hier kann man in weniger als einer Stunde das Monatseinkommen eines höheren Beamten vershoppen, ohne sich großartig anstrengen zu müssen.
Auch Saskia Grothe ist bereits fündig geworden. In der linken Hand hält sie eine edle Tüte mit einem wunderbar weichen Kaschmirpulli in leuchtendem Pink, während sie sich mit der rechten durch die frisch gewaschenen und geföhnten Haare fährt.
Was für eine Erleichterung war es doch, das großzügige Zimmer im Hotel Rungholt zu beziehen, in dessen Bad sie locker noch hätte ein Gästebett aufstellen können. So niedlich ihr Raum in der Pension Seemöwe auch war, das Bad unter der Schräge schien eher für Kleinwüchsige konzipiert. Saskia jedenfalls konnte in der winzigen Dusche zum Haarewaschen kaum die Ellenbogen ausfahren.
Zum Glück erlaubt es ihr literarischer Erfolg, bei Lesereisen auf erstklassige Unterbringung zu bestehen. Und die Tantiemen ermöglichen ihr zumindest ab und an durchaus kostspielige Einkäufe, wie jetzt gerade in Kampen.
Denn Saskia Grothe ist zutiefst frustriert und brauchte dringend einen dezenten Egobooster, schließlich soll sie schon heute Abend wieder in gewohnter Frische ihr Lesepublikum begeistern. Manchmal ist das sogar für sie gar nicht so einfach, vor allem, wenn ihr Selbstbewusstsein so angeknackst ist wie im Moment. Ihre ungeheure Erleichterung darüber, diesen widerwärtig eingebildeten Konrad Otze losgeworden zu sein, ohne sich ebenso salbungsvoll wie verlogen von ihm verabschieden zu müssen, konnte leider nicht ganz über die erlittene Schmach hinwegtäuschen.
Er hatte ihr gefallen. Sehr sogar. Als Mann und als Beute. Gern hätte sie ihn sich einverleibt, ihn aufgefressen mit Haut und Haar. Aber er wollte ja nicht, was vorkommen soll und im Prinzip auch verkraftbar gewesen wäre. Doch er hat sich nicht damit begnügt, sie einfach nur als Sexualpartnerin abzulehnen. Mehrmals musste Saskia beobachten, wie sein abschätziger Blick über ihre füllige Leibesmitte hinwegstrich. Das hat nicht nur weh getan, sondern auch alte Wunden aufgerissen.
Saskia war bereits als Kind pummelig und ist auch damals schon gehänselt worden. Ihr Ehemann hat sie vor zwölf Jahren wegen einer dünngehungerten Bohnenstange verlassen, eine Kränkung, die immer noch nachwirkt. Dass ihre Karriere gerade in Anschluss an die Scheidung Fahrt aufnahm, hat Saskia immer als gerechte Fügung empfunden. Ihre Ratgeber für üppige Frauen in der Lebensmitte haben ganz offenbar den Nerv eines sehr großen, sehr zahlungswilligen weiblichen Publikums getroffen. Und Saskia spielt leidenschaftlich gern die zufriedene, in sich selbst ruhende Person, die zu werden sich alle ihre Leserinnen wünschen.
Nur manchmal ist es eben unerwartet anstrengend, diesem Bild zu genügen. So wie jetzt gerade.
Seufzend steuert Saskia das Café Odin an und lässt sich auf einen der Hochstühle fallen, die an langen Holztischen im Vorgarten stehen. Die Nachmittagssonne hüllt Gäste und Mobiliar in ein warmes Licht, der sofort herbeieilende Kellner ist jung und smart, sein Lächeln bezaubernd. Saskia schenkt ihm einen Flirtblick, bestellt ein Stück von dem hochgelobten Pflaumenkuchen und ein Glas Champagner. Dann lehnt sie sich zurück, blinzelt in die Sonne und beschließt, den selbstgefälligen Kritiker für alle Zeiten zu vergessen.