Bastian Kreuzer biegt schwungvoll auf den Parkplatz an der Vogelkoje ein. Während die Straße noch in helles Sonnenlicht getaucht war, umfängt ihn hier die verschattete Stimmung des Ortes. Alte Bäume und wildwachsendes Strauchwerk umgeben den Parkplatz. Weil das gleichnamige Restaurant seitlich des Zugangs zur Vogelkoje so früh am Vormittag noch nicht geöffnet hat, parken hier nur wenige Autos. Der Kommissar sieht gleich, dass der rote Golf von Ludger Voigt nicht darunter ist. Dabei müsste der Zugang zur Vogelkoje doch ab zehn Uhr besetzt sein. Doch in dem kleinen Einlasshäuschen sitzt niemand.
Unschlüssig blickt Bastian ins Naturschutzgebiet, das sich urwaldgleich hinter dem Zaun ausbreitet. Knorrige Bäume überragen dichtes Unterholz. Ein Geruch nach Feuchtigkeit und Moder steht in der Luft.
Bastian versucht vergeblich, Ludger Voigt telefonisch zu erreichen. Dann wartet er weitere zehn Minuten vor dem Tor, ohne dass der Gesuchte erscheint. Unschlüssig geht der Kommissar hinüber zu dem flachen Restaurantbau und sucht den Kücheneingang. Zwei sehr junge südländisch aussehende Männer stehen rauchend vor der Tür. Doch als Bastian sich nach dem Verwalter erkundigt, zucken sie nur bedauernd die Achseln und beteuern, dass sie mit dem Naturschutzgebiet nun wirklich nichts zu tun hätten, sie würden nur als Aushilfen in der Küche arbeiten. Bastian bedankt sich und klingelt noch einmal Ludger Voigts Handy an, wieder erfolglos. Dann wählt er die Festnetznummer des Verwalters. Nach einigen Sekunden hebt seine Ehefrau Marianne ab.
Auf die Frage, ob ihr Mann noch zu Hause sei, reagiert sie verstört. »Nein, wieso? Ludger ist doch schon vor einer Dreiviertelstunde aufgebrochen. Pünktlich um zehn öffnet er die Kasse.«
»Ich stehe direkt davor, aber hier ist niemand«, gibt der Kommissar knapp zurück.
»Das kann ich mir gar nicht erklären. Ludger ist doch immer so pflichtbewusst.«
»Heute offenbar nicht. Kann ich kurz bei Ihnen vorbeikommen?«
»Ja, natürlich, aber vielleicht wollen Sie doch noch etwas warten, vielleicht hat es unterwegs einen Stau oder einen Unfall gegeben, und er kommt noch.«
»Kein Stau, kein Unfall. Das wüsste ich«, gibt der Kommissar knapp zurück. Dann unterbricht er die Verbindung, läuft zum Wagen und startet ihn. Während Bastian über Munkmarsch und Keitum nach Morsum düst, telefoniert er erst mit Silja, dann mit Sven. Dass die Burghardts ein Alibi haben, nimmt er noch gelassen hin, aber dass Pernille Aurich ebenso verschwunden zu sein scheint wie Ludger Voigt, kann er unmöglich für einen Zufall halten. Und ziemlich schnell ist ihm klar, wie sie weiter vorgehen werden.
»Planänderung«, erklärt er Sven knapp. »Du fährst sofort bei Lorena Larsen vorbei und checkst, ob sie zu Hause ist. Falls ja, bringst du sie ins Kommissariat wegen Verdunkelungsgefahr. Ab jetzt gibt’s keine Schonfrist mehr. Falls du sie nicht antriffst, was ich für wahrscheinlicher halte, versuchst du es übers Handy. Falls auch das nichts bringt, kommst du raus nach Morsum. Wir treffen uns dann direkt bei Marianne Voigt. Sie ist das schwächste Glied in der Kette, und wir setzen sie jetzt unter Druck. Irgendetwas wird sie schon wissen, auch wenn ihr das selbst vielleicht gar nicht klar ist.«
»Okay, verstanden.« Svens Stimme klingt trotzdem zögernd.
»Was?«
»Nichts. Ich habe nur kein besonders gutes Gefühl.«
»Geht’s genauer?«
»Es sind mir zu plötzlich zu viele Leute verschwunden. Nicht dass es noch weitere Morde gegeben hat.«
»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand und mach dich auf die Socken.« Bastian beendet das Telefonat und wählt Silja an. »Wo bist du?«
»Auf dem Weg ins Kommissariat.«
»Du drehst um und kommst zurück nach Morsum.«
»Warum das denn?«
»Pernille Aurich und Ludger Voigt sind verschwunden. Auch nicht telefonisch erreichbar, obwohl beide eigentlich jetzt gerade Verpflichtungen haben. Wir treffen uns bei Voigts Frau, Sven kommt auch. Hast du die Adresse?«
»Das schon. Aber was versprichst du dir davon?«
»Power Pressing. Jetzt ist Schluss mit lustig. Die führen uns doch alle an der Nase rum.«
Als Silja widersprechen will, lässt Bastian sie nicht ausreden. »Beweg deinen Arsch, meine Süße, und lass mich machen. Wenn du hier bist, kannst du meinetwegen gern den guten Cop geben. Aber alles andere ist ohne Diskussion.«
»Okay, du bist der Boss. Soll ich die Bispingen informieren?«
»Dafür ist später noch Zeit. Falls wir uns endlos blamieren, muss sie nicht live dabei gewesen sein.«