Marianne Voigt sitzt am Küchentisch und starrt ihr Telefon an. In den letzten zwanzig Minuten hat sie sicher zehnmal versucht, Ludger anzurufen. Ohne Erfolg. Selbst als sie schon ziemlich aufgelöst eine panische Nachricht per Whatsapp abgesetzt hat, ist nichts passiert. Ihr Mann hat nicht zurückgerufen und sich auch sonst nicht gemeldet.
Marianne fühlt sich wie erstarrt, sie weiß nicht, was sie denken soll. In Sekundenschnelle laufen alle möglichen Horrorszenarien vor ihrem inneren Auge ab. Ludger, der in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt ist. Ludger, der hinter dem Steuer einer Herzattacke erlegen ist. Und schließlich das Schrecklichste: Ludger, ihr vernünftiger und verlässlicher Ehemann, der plötzlich durchdreht und mit einer Geliebten auf und davon geht. Denn es muss irgendetwas geben, was er vor ihr geheim hält. Welchen anderen Grund sollte Ludger schließlich sonst gehabt haben, bei seiner Aussage zum Alibi am Nachmittag des Mordes allein mit dem Kommissar reden zu wollen?
Und da Ludger ganz bestimmt nicht in diesen mysteriösen Mord verwickelt ist, kann es eigentlich nur eine Erklärung für sein Vorgehen geben. Er hat eine Affäre. Und sie hatte keine Ahnung. Möglicherweise bin ich bisher zu gutgläubig oder zu naiv gewesen, aber blöd bin ich nicht, schießt es Marianne durch den Kopf. So erklären sich auch seine Albträume. Vermutlich war ihm schon direkt nach der Entdeckung des Toten klar, dass jetzt alles auffliegen würde. Plötzlich scheint Mariannes ganze Ehe auf tönernen Füßen zu stehen. Fast wünscht sie sich einen Verkehrsunfall als Grund für Ludgers mysteriöses Verschwinden, doch der Kommissar hat eindeutig erklärt, dass er davon wissen würde.
Ohne dass es Marianne aufgefallen wäre, rinnen seit Minuten Tränen über ihr Gesicht. Erst als sie fühlt, wie ihre Nase zuschwillt, bemerkt sie, dass Wangen, Hals und selbst der Rand ihres T-Shirts völlig nass sind. Schwerfällig steht sie auf und holt die Rolle mit den Küchentüchern aus der Schublade neben dem Herd. Sie schnäuzt sich und merkt gleichzeitig, dass die Tränen nur noch heftiger fließen. Sie möchte schreien, doch kein Ton verlässt ihre Kehle. Sie möchte etwas zerschlagen, aber ihre Hände zittern so sehr, dass sie kaum das Küchentuch halten kann. Die Verzweiflung ist überall, sie umgibt sie wie eine dichte Mauer, die vielleicht unsichtbar schon länger da war, aber erst jetzt ebenso greifbar wie bedrohlich wird.
Und zu allem Unglück wird auch noch die Kripo jeden Moment auftauchen. Was wollen die bloß von mir? Die sollen mich einfach in Ruhe lassen, denkt sie gerade, als es schellt. Marianne schnäuzt sich ein weiteres Mal, wischt notdürftig die Tränen ab und geht mit schwankenden Schritten zur Tür. Bevor sie öffnet, schießt ihr die absurde Frage durch den Kopf, was wohl geschehen würde, wenn sie nicht öffnen würde. Brechen die dann die Tür auf? Und muss ich hinterher für den Schaden aufkommen?
Draußen steht nicht nur der Kommissar, mit dem sie telefoniert hat, sondern es sind gleich drei Personen. Zwei Männer, ein schmaler jüngerer und der massige ältere, den sie schon kennt. Dazu die Frau, die bei der letzten Vernehmung mit ihr in der Küche geblieben ist, während Ludger draußen sein schmutziges Alibi zu Protokoll gegeben hat. Das Alibi, von dem sie auf keinen Fall erfahren sollte.
Alle drei Kommissare halten Marianne ihre Plastikkarten unter die Nase, deren Schriftzüge sofort vor ihren Augen verschwimmen. »Kommen Sie rein, ich will nicht, dass die Nachbarn mich so sehen«, murmelt sie hilflos.
Im Wohnzimmer lässt sie sich auf Ludgers Sessel fallen, springt aber gleich wieder auf, weil sie dort ganz sicher nicht sitzen will. Plötzlich spielt ihr Kreislauf verrückt, sie schwankt und stürzt fast. Die Kommissarin, die ihr als Einzige schon an der Tür zugelächelt hat, greift stützend nach Mariannes Oberarm.
»Können wir Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«
Marianne schüttelt den Kopf und lässt sich aufs Sofa fallen. Auch die Kommissare setzen sich. Die Frau direkt neben sie, die beiden Männer links und rechts von ihr in die Sessel. Marianne fühlt sich eingekesselt, aber das ist jetzt auch egal. Irgendetwas an der ganzen Situation ist grundverkehrt, das spürt sie genau. Doch was das sein könnte, will ihr nicht einfallen. Sie stützt die Unterarme auf die Schenkel und versucht, sich zu beruhigen. Als es ihr etwas besser geht, stellt sie nur eine einzige von den vielen Fragen, die ihr im Kopf herumschwirren. Es ist beileibe nicht die wichtigste, aber die einzige, die die Beamten beantworten können. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
Der massige Kommissar, der Ludger schon gestern vernommen hat, antwortet sofort. »Sagt Ihnen der Name Pernille Aurich etwas?«
So heißt sie also, die Schlampe, denkt Marianne verstört. Natürlich musste Ludger der Kriminalpolizei ihren Namen nennen, damit sie sein Alibi bestätigt.
»Ich kenne niemanden, der so heißt«, presst sie heraus, während sie erneut gegen die Tränen kämpfen muss.
»Bitte denken Sie genau nach.« Die Stimme des Kommissars ist ebenso unerbittlich wie seine Miene. »Vielleicht hat Ihr Mann früher einmal von Frau Aurich erzählt. Die beiden sind miteinander zur Schule gegangen.«
»Ludger und ich haben uns erst Jahre nach seinem Abitur kennengelernt. Ich komme aus Bremen und dachte bisher immer, dass er keinen Kontakt zu seinen ehemaligen Schulfreunden mehr hat.« Sie stockt, fügt dann aber tapfer hinzu: »Und zu seinen Schulfreundinnen auch nicht.«
»Keine Klassentreffen oder Ähnliches?« Der Kommissar glaubt ihr nicht, das kann sie deutlich sehen.
»Doch, da war mal was. Das ist aber schon Jahre her. Ludger ist, soweit ich weiß, nicht hingegangen.«
Marianne versucht, sich zu erinnern. Nein, er wollte definitiv nicht dabei sein, was sie damals nicht ganz verstanden hat. War vielleicht schon vor Jahren alles nur vorgeschützt, damit sie keinen Verdacht schöpft? Wieder kommt die Verzweiflung über sie, doch dann hat sie eine Idee.
»Diese Frau Aurich, Sie sagten doch Aurich, oder?«
Der Kommissar nickt.
»Die war in seinem Jahrgang?«
Er nickt wieder.
»Und sie haben miteinander Abitur gemacht?«
»Ganz genau.«
»Dann müsste es in Ludgers Abibuch doch ein Foto von ihr geben.«
»Es gibt ein Abibuch? Sehr interessant. Wissen Sie, wo es ist?«
»Auf dem Dachboden. Ludger sagte schon vor Jahren, er wolle mit den alten Geschichten nichts mehr zu tun haben.«
Marianne steht auf. Plötzlich ist ihr nicht mehr schwindlig, und die Verzweiflung weicht einer gesunden Wut. Jetzt habe ich einen Namen und bald auch ein Bild. Es gibt eine Adresse für meinen Hass.
»Ich begleite Sie.« Der jüngere der beiden Kommissare, der sich bisher zurückgehalten hat, wechselt einen kurzen Blick mit dem älteren, dann springt er auf.
Marianne nickt nur und geht voran. Ein einziger Gedanke füllt ihren Kopf. Was ist, wenn Ludger das Abibuch inzwischen vernichtet hat? Er scheint ja ziemlich gut darin zu sein, seine Spuren zu verwischen.
Doch nachdem sie die Leiter zum Spitzboden ausgeklappt hat und hinaufgestiegen ist, findet sie das Gesuchte bereits in der zweiten Kiste zwischen alten Heftern und einer stockfleckigen Hausarbeit. Mit spitzen Fingern zieht sie das blau eingebundene Buch hervor. Als sie sich umdreht, steht der schmale Kommissar direkt hinter ihr auf der Leiter und streckt ihr bereits die Hand entgegen, um das Abibuch an sich zu nehmen.
»Kann ich nicht zuerst …«, beginnt sie, erntet aber nur ein energisches Kopfschütteln. Mit behänden Bewegungen verlässt der Kommissar die Leiter und eilt zurück ins Wohnzimmer.
Marianne schließt zuerst die alte Kiste und dann die Bodenluke. Sie ist plötzlich froh darüber, dass sie einige Sekunden zum ungestörten Nachdenken hat. Und jetzt fällt ihr auch auf, was an der ganzen Situation nicht stimmt.
Wenn es nur um die Bestätigung von Ludgers Alibi ginge, bräuchte die Kripo wohl kaum das Abibuch. Es ist nur für mich wichtig, nicht für die drei da unten. Sie haben bereits den Namen und vermutlich auch eine Adresse. Aber sie sind trotzdem ganz scharf auf das Buch. Die Frage ist also nach wie vor: Was will die Kripo von Ludger?