Mit ungeduldigem Blick beobachtet Bastian, wie Sven Winterberg und Marianne Voigt den Raum verlassen, um auf den Dachboden zu steigen. Kaum ist die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, springt der Kommissar auf.
»Was hast du vor?«, will Silja wissen. »Und was soll der Hype um dieses Abibuch? Wir wissen doch längst, dass Pernille Aurich und Ludger Voigt sich aus der Schule kennen. Und dass sie mit der fünf Jahre jüngeren Lorena Larsen damals vermutlich eher weniger zu tun hatten, können wir uns denken. Da helfen uns alte Bildchen nicht weiter. Was wir nicht wissen, ist, wo sich die Larsen gerade aufhält. Und das werden wir aus so einem angestaubten Heft ganz bestimmt nicht erfahren.«
»Es geht nicht ums Abibuch. Ich wollte Marianne Voigt nur aus dem Weg haben, mehr nicht«, gibt Bastian knapp zurück. Er tigert durch das Wohnzimmer, zieht Schubladen auf und schaut hinter Bücher. »Irgendwas stimmt doch hier nicht. Hast du nicht gesehen, wie die drauf war? Hat gezittert wie Espenlaub und sich kaum beherrschen können. Dafür gibt’s eigentlich nur eine Erklärung. Sie weiß ganz genau, wo ihr Mann ist. Und die Geschichte mit dem Abibuch hat sie möglicherweise nur aufgebracht, um von uns wegzukommen.«
»Warum sollte sie?«
»Vielleicht wollte sie was verstecken oder heimlich Kontakt zu ihrem Mann aufnehmen, was weiß ich.«
»Sind wir deswegen zu dritt angerückt?«
Bastian nickt. »Du hast ja gehört, was Sven gesagt hat, bevor wir hier geklingelt haben. Die Larsen ist auch verschwunden. Ans Handy geht sie natürlich auch nicht. Fehlanzeige auf allen Kanälen sozusagen. Marianne Voigt ist die einzige Spur, die wir noch haben. Wir müssen alles tun, um sie nicht zu verlieren.«
»Sollten wir dann nicht das Haus durchsuchen?«
»Was glaubst du, was ich vorhabe?«
»Aber ohne Beschluss?«
»Wenn wir die Bispingen einschalten, kostet uns das nur Zeit. Und außerdem ist nicht sicher, dass sie einwilligt. Nee, das müssen wir anders anpacken, sonst gibt’s hinterher nur Ärger«, brummt Bastian und zieht im Regal reihenweise Bücher nach vorn, um dahinterzugucken.
»Okay, ich schleich mich ins Schlafzimmer. Da verstecken Frauen alles, was ihnen wichtig ist. Und diese Frau Voigt wird wohl kaum mit Sven im Schlepptau da reingehen.«
»Trotzdem, sei vorsichtig. Lass dich nicht erwischen. Und lass die Wohnzimmertür angelehnt, damit ich hören kann, wenn sie wiederkommen.«
Bastian lässt sich auf die Knie nieder und beginnt, die unteren geschlossenen Schränke des Bücherregals zu durchsuchen. Dabei lauscht er angespannt nach draußen. Die Treppe nach oben ist aus Holz, da wird jeder Schritt deutlich zu hören sein, hofft er. Und als es tatsächlich nach einigen Minuten laut poltert, schafft der Kommissar es gerade noch, Ordner, Hefter und ein paar uralte Elektrokabel zurück in den Schrank zu stopfen und die Tür zu schließen.
»Was machen Sie denn da auf dem Boden?«, erkundigt sich Marianne Voigt sofort, nachdem sie das Zimmer betreten hat.
Bastian weist auf seinen linken Sneaker, der zum Glück Schnürsenkel hat. »Ich habe die Zeit genutzt, um den Senkel mal ganz neu einzufädeln. Irgendwie war die eine Seite immer länger als die andere, man kann da wirklich ganz blöd drüberstolpern.«
Sven, der hinter Marianne Voigt steht, muss unwillkürlich grinsen, was Bastian mit einer hochgezogenen Braue quittiert. Sofort hat sich Sven wieder unter Kontrolle. »Frau Voigt hat das Abibuch gefunden. Ging schneller als gedacht.«
»Wo ist eigentlich Ihre Kollegin?«, will die Voigt jetzt wissen.
»Sie musste mal raus zum Auto, dringendes Telefonat«, improvisiert Bastian in der Hoffnung, dass das Voigt'sche Schlafzimmer sich nicht ausgerechnet über dem Wohnraum befindet und sie demnächst Siljas Schritte über sich hören werden.
Aber noch ist alles still.
Um jede weitere Diskussion abzukürzen, greift sich Bastian das Abibuch und pflanzt sich damit in einen der Sessel. Er beginnt sofort, das Buch zu durchpflügen, während Sven ihm über die Schultern schaut. Marianne Voigt steht etwas hilflos daneben. Doch Bastian bittet sie immer wieder um Kommentare zu einzelnen Bildern und Einträgen, denn es ist ihm wichtig, sie einzubinden und am Verlassen des Raums zu hindern.
»Was soll ich dazu schon sagen? Die meisten der ehemaligen Mitschüler meines Mannes kenne ich gar nicht«, wehrt sie ab, beugt sich aber trotzdem tief über das Buch, in dem sich die üblichen Interviews, Selbsteinschätzungen und humoristischen Beiträge befinden. Ganz gemächlich blättert Bastian Seite für Seite um, damit Silja bei ihrem Suchauftrag oben im Schlafzimmer möglichst viel Zeit bekommt.
Nach einer Weile stößt Bastian auf ein Gruppenfoto. Festlich herausgeputzt stehen an die dreißig Abiturientinnen und Abiturienten vor dem Schulgebäude und lachen mehr oder weniger künstlich in die Kamera. »Wo ist denn Ihr Mann auf diesem Foto?«, erkundigt sich der Kommissar bei Marianne Voigt.
Nach kurzem Zögern deutet sie auf einen stämmigen Kerl in der zweiten Reihe, der einen knapp sitzenden Anzug trägt. Mit leiser Stimme fragt sie: »Die Frau da neben ihm. Ist das diese Pernille Aurich?«
Bastian, der sich nur kurz darüber wundert, dass sie sich den Namen gemerkt hat, und der Pernille Aurich natürlich längst entdeckt hat, sie steht ganz vorn am linken Rand, richtet seine Aufmerksamkeit erst jetzt auf die neben Ludger Voigt stehende Person. Sie ist eine aparte junge Dame, zwei Köpfe kleiner als Voigt, hat eine freche dunkle Kurzhaarfrisur und ein Gesicht, das ihm irgendwie bekannt vorkommt.
»Fällt dir hier was auf, Sven? Oder sehe ich schon Gespenster?«, wendet sich der Kommissar an seinen Kollegen, der immer noch hinter ihm steht.
»Die Kleine neben Ludger Voigt? Das Gesicht erinnert mich deutlich an unsere Kinderbuchautorin. Das Problem ist nur, dass Lorena Larsen wirklich fünf Jahre jünger ist als Voigt und Aurich. Sie kann also unmöglich mit denen Abitur gemacht haben.«
»Aber sie ist es, oder? Die Statur, das Gesicht, alles stimmt. Auch wenn sie damals noch keine roten Haare hatte, aber die kann man ja färben. Nur frage ich mich: Was zur Hölle macht sie auf diesem Bild?« Bastian beugt sich noch tiefer über das alte Abibuch, er riecht einen leichten Anflug von Schimmel, und Staub kitzelt ihn in der Nase. Erst jetzt erinnert er sich an Marianne Voigts Frage.
»Nein, diese Frau ist nicht Pernille Aurich«, antwortet er verspätet. »Aber eigentlich müssten Sie trotzdem etwas über sie wissen. Schauen Sie mal genau hin. Ihr Mann hat seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Es wirkt, als wären die beiden ein Paar.«
»Ach so, ja. Das muss dann seine Jugendliebe gewesen sein.« Marianne Voigt wirkt seltsam desinteressiert. »Anita hieß sie. Ist ein Jahr später tödlich verunglückt. Eine tragische Geschichte irgendwie. Ludger redet nicht gern darüber.«
»Wissen Sie den Nachnamen?« Svens Stimme klingt so dringlich, dass es ihm einen erstaunten Blick von Marianne Voigt einträgt.
»Von dieser Anita? Nein, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Wieso ist das wichtig?«
»Das können wir jetzt nicht erklären.« Bastian springt so abrupt auf, dass der ganze Sessel ins Wackeln gerät. »Machst du gerade mal eine Abfrage zu Lorena Larsen, Sven? Vielleicht hatte sie eine Schwester.«
»Es gibt doch zu jeder Person einen Eintrag hier im Buch«, mischt sich Marianne Voigt ein. »Also wenn Sie den Nachnamen wissen wollen …«
»Stimmt, super Idee.« Bastian setzt sich wieder und beginnt hastig zu blättern. Nach wenigen Sekunden hat er die Doppelseite entdeckt, auf der die Wiedergängerin von Lorena Larsen mit schelmischem Blick in die Kamera guckt. Dem nebenstehenden Steckbrief entnimmt er, dass sie Sport und Geschichte studieren will, um Lehrerin zu werden, dass sie sich für Hip-Hop interessiert und in ihrer Freizeit gern surft und Schach spielt. Erst dann liest er den Namen, der quer über der Seite steht. »Sie heißt Anita Mönkemüller«, murmelt Bastian enttäuscht.
»Aber die Ähnlichkeit mit Lorena Larsen ist so groß, das kann doch kein Zufall sein«, beharrt Sven. »Und außerdem, schau mal da unten.« Er zeigt auf eine Reihe winziger Fotos, die den unteren Seitenrand säumen. Anita im Bikini am Weststrand, Anita neben einem Pferd, Anita vor einem Schachbrett und Anita Arm in Arm mit einer Freundin, die sie locker um zwei Köpfe überragt. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das niemand anders als Pernille Aurich.«
Bastian nickt. Nachdenklich sagt er: »Lass mich mal kurz zusammenfassen. Diese Anita sieht aus wie Lorena Larsen, war liiert mit Ludger Voigt und ganz offenbar gut befreundet mit Pernille Aurich.«
»Und sie ist tot. Wissen Sie zufällig, wie sie ums Leben gekommen ist?«, wendet sich Sven an Marianne Voigt, die inzwischen ziemlich ratlos neben den Kommissaren steht und deutlich sichtbar den Überblick verloren hat. Schulterzuckend erklärt sie: »Ein Unfall, ich glaube beim Windsurfen. Ludger hat mir nie viel darüber erzählt. Es ist irgendwie eine traumatische Erinnerung, an die er nicht ranwollte. Inzwischen ist das ja auch ewig her.«
Während sie redet, geht die Wohnzimmertür auf, und Silja betritt den Raum. »Da bin ich wieder«, erklärt sie betont harmlos, wirft Bastian einen Blick zu und zuckt dabei bedauernd die Schultern. »Die Recherche war leider ergebnislos. Alles in Ordnung bei euch? Von was für einem Surfunfall ist hier die Rede?«
Mit wenigen Sätzen weihen Bastian und Sven sie ein.
»Aber Anita Mönkemüller und Lorena Larsen, das geht trotz der Ähnlichkeit irgendwie nicht zusammen«, schließt Bastian die Erklärung ab.
»Es sei denn Larsen ist ein Pseudonym. Das gibt es doch bei Autoren häufiger. Und Lorena Larsen hört sich erheblich besser an als Lorena Mönkemüller.«
»Kann man denn so ein Pseudonym auch im Alltag benutzen?«
»Ich glaube, das kannst du sogar amtlich eintragen lassen.«
»Okay. Machst du mal eine Abfrage beim Einwohnermeldeamt?«
Silja nickt und geht bereits mit dem Handy am Ohr aus dem Raum. Es dauert nur einige Minuten, bis sie zurückkommt und triumphierend verkündet: »Volltreffer. Anita Mönkemüller ist die fünf Jahre ältere Schwester von Lorena Larsen. Gestorben ist sie ein gutes Jahr nach dem Abitur an einem 30. September. Sie wurde auf dem evangelischen Friedhof in Westerland begraben und …«
»Was sagst du da?«, unterbricht Sven die Kollegin.
»Sie ist eindeutig die Schwester von unserer Kinderbuchautorin«, wiederholt Silja.
»Das meine ich nicht.« Der Kommissar blickt von Bastian zu Silja und wieder zurück. »Habt ihr nichts gemerkt? Das Todesdatum. Es ist der heutige Tag. Ich glaube, wir wissen jetzt, wo wir nach unseren drei Verdächtigen suchen müssen.«