Quirin

Er schaut über die Sylter Dünen aufs Meer. Hinter ihm liegt das weiße Hotel, Bäderarchitektur, Bullaugenfenster im Dachgeschoss. Eines davon ist seines. Jedenfalls für die nächste Woche. Könnte er sich eigentlich gar nicht leisten. Früher ja, jetzt längst nicht mehr. Er hat in London investiert, gleich nach dem Brexit. Dachte, dass es so schlimm schon nicht kommen werde. Und die Preise fielen ja, da musste er zugreifen. Büro, beste Lage, Mitarbeiter eingestellt. Kommunikationsagentur. Können die jetzt gebrauchen, die Briten, dachte er. Naiv, frisch von der Uni.

War jedenfalls die falsche Idee. Das Erbe seiner Eltern war in Windeseile futsch, sie würden sich im Grab umdrehen. Junge, was machst du denn bloß? Die Ersparnisse von dreißig Jahren. Etwas über eine Million ganz schnell in den Sand gesetzt. 

Und jetzt sitzt auch er im Sand, nur ohne die Million. Blickt hinüber zum Strand, noch ist niemand zu sehen, niemand, der ihn stört, niemand, der ihn beobachtet.

Denn jetzt ist er es, der beobachtet.

Sie wohnt eine Etage unter ihm, wenn er kräftig auftritt, hört sie ihn vielleicht sogar. Nein, wohl eher nicht. Das Hotel wirkt ziemlich solide. Und in den Nächten ist es so still im

Die Frau, für deren Beobachtung er bezahlt wird, und das gar nicht mal schlecht, ist allein hier. Jedenfalls hat sie das ihrem Gatten erzählt. Ein bisschen ausspannen, ein bisschen runterkommen, ein bisschen Wellness, man kennt das ja.

Auch der Gatte sollte es kennen. Er ist Investmentbanker und sicher vertraut mit diesen Kreisen. Trotzdem wurde er misstrauisch. Vielleicht weil Isabelle so viel jünger ist als er – und attraktiver sowieso. Haut wie Puderzucker, Haare wie dunkle Schlangen, die sich vor Vergnügen kringeln. Augen, in denen der Schalk wohnt, manchmal jedenfalls. Dann lacht sie in kleinen hüpfenden Tönen und scherzt mit dem Personal.

Er wünschte, sie würde es auch mit ihm tun. Aber sie sieht ihn gar nicht. Soll sie ja auch nicht. Denn er ist ihr Schatten, dafür bezahlt man ihn. Nicht für seine geheimen Träume. Ihr Körper in der Sauna, ihr Körper unter der Dusche.

Wenn sie wüsste. 

Seit zwei Tagen geht das jetzt schon so. Und eigentlich glaubt er nicht, dass noch jemand auftaucht. Ein heimlicher Lover, ein verstecktes Kind aus einer vorherigen Beziehung, was auch immer. Isabelle spannt aus und hat ihren Spaß dabei. Und vielleicht könnte auch er ein wenig Spaß haben. Ein zufälliger Blick, ein Abend an der Bar, ein gemeinsamer Absacker auf seinem Zimmer. Oder in Isabelles Suite.

Jetzt kommt sie an ihm vorbei, ist auf dem Weg zum Strand. Strasssandalen, knappe Shorts, den Bastkorb mit den Beach-Utensilien über der Schulter. Er wartet ab, erhebt sich dann langsam und greift nach seinem eigenen Korb. Steht

Als er am Strand ankommt, sitzt sie schon in der Sonne. Ultraknapper Bikini, über den Brüsten nicht mehr als eine Häkelblume. Er nickt ihr kurz zu und pflanzt sich in den Nachbarstrandkorb. Seine Vorsicht schmilzt wie Butter in der Sylter Sonne. Sein Anstand auch.

Er wartet zwei volle Stunden. Rührt sich nicht von der Stelle, blättert routiniert die Seiten in seinem Buch um, liest keinen einzigen Satz. Schließlich steht er auf und nimmt die Jaeger-LeCoultre ab. Schön langsam und genau in ihrer Sichtachse. Er ist groß, schlank und durchtrainiert. Kann sich durchaus sehen lassen, vor allem nach diesem faulen Sommer, den er mangels Alternativen vorwiegend im Freibad verbracht hat.

Sie guckt. Na also, geht doch, denkt er und lässt die Uhr direkt neben ihrer Hüfte in den Strandkorb fallen.

»Würden Sie wohl kurz darauf achtgeben? Ich will nur ein paar Schläge kraulen. Eigentlich ist sie wasserfest – aber bei so einem Erbstück weiß man ja nie.«

Sie lächelt, nickt und hebt die Uhr auf. Lässt sie spielerisch um den Finger kreisen. Unlackierte Nägel, perfekt manikürt. Er läuft schnell ins Wasser, bevor er Schnappatmung bekommt. Und bevor sein kleiner Freund ihn verrät. Kraulen kann er gut, und ihre Blicke, die ihn doch hoffentlich begleiten, feuern ihn zusätzlich an. Als er zurückkommt, Wasserperlen auf dem vorher eingeölten Körper, verschlingt sie ihn mit den Augen.

»Sie sind auch allein hier?«, wagt er sich vor und greift nach der Jaeger-LeCoultre, die auf ihrem Oberschenkel liegt. Ein

Sie lächelt ihm zu. »Wir könnten heute Abend zusammen essen.«

»Gern. Um acht im Speisesaal?«

Isabelle

Tage verträumen, Füße im Sand, und dann ab in die Nordsee. Oder doch lieber einen Aperol im Strandbistro? Nachmittags ins Spa. Ein Paradies für Körper und Sinne. Duftend, großzügig, entspannend. Perlendes Wasser, bequeme Liegen, weiche Decken. Abends, wenn die Sonne sinkt, am Holztisch sitzen, oben in den Dünen, den Blick übers Meer. Und nachts endlose Stille, tiefer Schlaf.

Ferien auf Sylt.

So hatte sich Isabelle ihre kleine Auszeit vorgestellt. Und so begann sie auch. Gleich am ersten Morgen mit frischem Backwerk, duftendem Friesentee und holsteinischen Spezialitäten vom Hotelbuffet. Es war alles da. Früchte, Säfte, Eierspeisen. Und ein Tischnachbar, der unverschämt gut aussah. Sie wechselten Blicke, manchmal. Aber er sprach sie nicht an. Zunächst.

Dann ging alles sehr schnell. Ein Flirt am Strand, ein Abendessen, eine heiße Nacht. Und noch eine.

Jetzt sind sie wieder zum Dinner verabredet. Schon beim Anziehen prickelt es auf Isabelles Haut. Sie stellt sich vor, die Seide ihres Kleides wäre sein Körper, der sich an ihr

Er schiebt ihr den Stuhl zurecht, trägt einen teuren Anzug und wieder diese Uhr, deren Wert sie längst gegoogelt hat. Und was ein Aufenthalt hier kostet, weiß sie auch genau. Wenn sie ihren Mann schon betrügt, soll es sich lohnen. Quirin bestellt den teuersten Weißwein von der Karte und Austern dazu.

Es wird sich lohnen, da ist sie jetzt ganz sicher.

Als der Kellner den Wein dekantiert, entsteht Unruhe im Raum. Jemand durchquert ihn mit viel zu schnellen Schritten. Sie dreht sich um und erstarrt. Was macht ihr Mann denn hier? Er kommt direkt auf ihren Tisch zu, aber er wendet sich nicht an sie, sondern an ihren schönen Tischherrn mit der teuren Uhr. Er reicht ihm wortlos einen gut gefüllten Umschlag und streckt gleichzeitig die andere Hand aus. Die Jaeger-LeCoultre kehrt zu ihrem Besitzer zurück. Wie konnte sie nur so dumm sein, die Uhr nicht zu erkennen?

»Du wolltest mitten im Rennen das Pferd wechseln?«, sagt ihr Mann mit eiskalter Stimme. »Leider stand das neue Pferd in meinen Diensten. Pech gehabt.«

Quirin steckt den Umschlag ein und erhebt sich. Er wirft ihr einen letzten Blick zu. Ist er bedauernd oder triumphierend? Sie wird es nie erfahren.

 

Der zwölfte Sylt-Krimi von Eva Ehley – erscheint im Frühjahr 2025.

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