Samstag, 27. September, 16.41 Uhr, Serkwai, Morsum

Rumpelnd rollt der Trolley hinter Enard Gastmann her. Links und rechts von ihm sind die letzten Häuser verschwunden, jetzt säumen Felder und Wiesen seinen Weg. Der Asphalt auf der Straße, die aus dem Ortszentrum Morsums hinausführt, ist an vielen Stellen brüchig, und die Rollen seines Trolleys sind nicht mehr die stabilsten.

Immer wieder blickt Enard auf die Karte seines Handys, um zu überprüfen, ob er nicht bald an der eingegebenen Adresse ankommen wird. Er verzichtet prinzipiell auf Taxifahrten und nutzt die öffentlichen Transportmittel, auch wenn es wie in diesem Fall bedeutet, von einem Bus in den nächsten umzusteigen und anschließend eine gefühlte Ewigkeit zu Fuß zurückzulegen. Zwar hat sich Enard für die nächsten beiden Sylt-Wochen mit voller Absicht ein

Gerade hat er die helle schlichte Kirche St. Martin passiert, deren Inneres ebenso alt wie beeindruckend sein soll. Natürlich wird Enard sie noch besichtigen, doch zuerst muss er sein Ziel erreichen, den Trolley loswerden und sich ein wenig von den anstrengenden zurückliegenden Tagen erholen.

Es war von allem zu viel. Zu viele Menschen, zu viele Fragen, überhaupt zu viel Gerede. Enard schwirrt der Kopf, die Gestalten der Kollegen scheinen unablässig in seinem Hirn Csárdás zu tanzen, er bekommt zu diesen Figuren einfach keine Distanz, sie halten ihn besetzt und hindern sein ganzes Selbst daran, einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Enard weiß natürlich genau, dass er sich mit den Begegnungen der letzten Woche auseinandersetzen muss. Irgendwann werden ihn die ebenso vielfältigen wie verstörenden Erfahrungen sicher inspirieren, denn niemand kann ewig nur aus sich selbst heraus schöpfen. Aber im Moment strengt ihn jeder Gedanke an die vergangenen Tage nur maßlos an.

Oben links im Kopf pocht es seit einer halben Stunde mörderisch, und sein Nacken ist auf der gleichen Seite auch schon ganz steif. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass eine Migräneattacke im Anmarsch ist. Enard bemüht sich, durch tiefes Einatmen der wunderbar frischen Luft die kommende Attacke vielleicht noch abzuwehren, aber insgeheim weiß er längst, dass er verloren hat.

Ihm bleibt eigentlich nur noch die Hoffnung darauf, dass

Wenigstens tauchen nun am Ende der Straße einige Häuser auf, und Enards Handy sagt ihm, dass eines davon für die nächsten zwei Wochen seine Herberge sein wird. Bevor er aber die Häuser näher in Augenschein nehmen kann, wird er durch ein merkwürdiges Rascheln und schrille Schreie seitlich des Weges abgelenkt.

Hinter einem niedrigen Zaun beginnt eine kleine Böschung, und zwischen Zaun und Böschung hat sich ein ziemlich großer Vogel verfangen, der immer wieder mit den Flügeln schlägt und dabei entsetzlich klagende Laute von sich gibt. Enard, zu dessen zahlreichen Phobien auch die vor Vögeln gehört, wagt es kaum, das Tier genauer zu betrachten. Doch auch so meint er erkennen zu können, dass es sich um einen Fasan handelt, der hier um sein Leben kämpft.

Als Enard spürt, wie sich ein saurer Geschmack in seiner Kehle breitmacht und unwillkürlich ein Brechreiz aufsteigt, geht er schnell weiter. Er weiß genau, dass er durch beherztes Zugreifen womöglich ein Vogelleben retten könnte, doch der Ekel und die Angst vor dem gefiederten Tier sind größer als sein Mitgefühl. Und so begleiten ihn die Schreie der geschundenen Kreatur, bis er das gesuchte Haus findet und dort unendlich erleichtert auf den Klingelknopf drückt.