Pernille Aurich ist außer Atem. Das Abschiedsessen für die Gäste des Literaturcolloquiums war für sie und ihr Team eine große Herausforderung. Vielleicht eine zu große. Erst vor einigen Monaten hat sich die Tochter eines Sylter Lehrerehepaars mit ihrem Cateringunternehmen selbständig gemacht. Davor hat sie in verschiedenen deutschen und Schweizer Restaurants ihr Handwerk von der Pike auf gelernt. Erst nach weiteren zehn Jahren, die sie in internationalen Hotels verbracht hat, ist Pernille mit großen Hoffnungen auf ihre Heimatinsel zurückgekehrt.
Natürlich wusste sie, dass der Anfang schwer werden würde, aber wenn sie geahnt hätte, wie hart die Konkurrenz auf der Insel tatsächlich ist, wäre sie womöglich verzagt und hätte es gar nicht erst probiert.
Doch jetzt kann sie mit ihrem Team auf den ersten großen Erfolg zurückblicken.
Die Gäste sind hochzufrieden abgereist, es gab während der vergangenen Tage erstaunlich wenig Pannen, dafür viel Lob und zum Glück das Verspechen Melinda Jakobsens, sie werde Kutterscholle und Butterstulle sehr gern weiterempfehlen und das junge Unternehmen möglicherweise demnächst auch selbst buchen.
In den vergangenen zwei Stunden haben Aaron, Nadine und Pernille die Küche aufgeräumt, alles auf Hochglanz geputzt und ihre mitgebrachten Utensilien verstaut. Jetzt lässt sich Pernille mit einem tiefen Seufzer auf den einsamen Stuhl fallen, der zwischen der Spüle und der Tür zum Gastraum steht. Ihr tut jeder einzelne Knochen weh, und das schon seit Tagen. Pernille ist fast eins achtzig groß, und die Kücheneinbauten der Pension sind alle auf Normhöhe angebracht. Für Pernille also locker fünfzehn Zentimeter zu niedrig. Mindestens fünfmal hat sie sich den Kopf an der unförmigen Dunstabzugshaube gestoßen, einmal hat es sogar eine blutige Scharte auf ihrer Stirn gegeben. Doch Pernille hat den Schmerz verdrängt und einfach weitergemacht.
Doch jetzt kann sie sich in Ruhe über das einhellige Lob der Colloquiumsteilnehmer freuen. Und Aaron und Nadine geht es mit Sicherheit nicht anders. Die beiden haben sich vor fünf Minuten in eine kurze Zigarettenpause verabschiedet und stehen nun draußen paffend in der Spätsommersonne, wie Pernille durchs Küchenfenster sehen kann.
Die Köchin nutzt den ungestörten Moment, um noch einmal den Blick über die blankgeputzten Arbeitsflächen, den breiten Herd und die beiden Industriespülmaschinen schweifen zu lassen. Alles sieht perfekt aus. Die beiden Kisten mit Pernilles eigenen Pfannen und Töpfen, den scharfen Messern und einigen zusätzlichen Geräten stehen bereits draußen, alles ist für den Abtransport bereit.
Pernille stemmt sich hoch und fühlt sich dabei so verspannt wie ihre eigene achtzigjährige Großmutter, die manchmal schon am Morgen das Bett mit dem fatalistischen Spruch verlässt: Lieber Gott, lass Feierabend werden.
Mit steifen Gelenken verlässt sie die Küche und stößt die Tür nach draußen auf. Aaron und Nadine haben inzwischen ihre Zigaretten ausgedrückt und wühlen stattdessen jeder in einer der Kisten.
»Was sucht ihr?«, erkundigt sich Pernille unkonzentriert, während sie sich selbst eine ansteckt.
»Die Messer«, murmelt Nadine. Ihre Stimme klingt dumpf, weil ihr Kopf fast im Inneren der Kiste verschwindet.
»Meine Messer?« Pernilles Stimme wird scharf, vor Schreck fällt ihr das Feuerzeug aus der Hand.
»Ja klar. Was sonst?« Aaron richtet sich auf und blickt seine Chefin ratlos an. »Der Block mit deinen sechs heiligen Messern stand doch die ganze Woche lang auf der Abstellfläche direkt unter dem Küchenfenster. Wir haben die Messer nie in die Spülmaschine getan, sondern immer sofort händisch abgewaschen, damit sie von den Spülzusätzen nicht unscharf werden. Und danach natürlich wieder in den Block gesteckt.«
»Das weiß ich doch alles. Aber warum sind sie jetzt weg?«
Nun taucht auch Nadines Kopf wieder aus der Kiste auf. »Keine Ahnung, warum. Jedenfalls war diese Kiste hier noch offen, und während wir rauchten, habe ich reingeguckt. Und da ist mir aufgefallen, dass zwar dein Messerblock drin ist, aber die Messer fehlen.«
»Ich habe sie ganz sicher nicht selbst verpackt, daran würde ich mich erinnern. Aber vielleicht hat einer von euch sie separat verstaut.«
Aaron und Nadine schütteln unisono die Köpfe.
»Das darf jetzt nicht wahr sein. Hier klaut doch niemand meine Messer.«
Pernille geht in die Hocke und beginnt hektisch, die vor ihr stehende Kiste auszupacken. Wenig später stehen der Pacossierer, der Sous-vide-Garer, der Dampfkochtopf und der Flambierbrenner neben einigen Edelstahltöpfen auf dem Kiesboden. Keine Messer. Pernille zieht die zweite Kiste zu sich heran und leert auch diese. Kupferpfannen, Rührlöffel, Schneebesen. Aber wieder keine Messer.
»Ich fass es nicht«, stöhnt Pernille.
»Wir haben die Messer doch vorhin noch benutzt«, sagt Nadine leise. »Aaron hat das Fleisch geschnitten, und ich habe das ganze Gemüse geputzt.«
»Und dann?«, faucht Pernille und springt so plötzlich auf, dass Nadine erschrocken einen Schritt zurückweicht. »Was habt ihr dann mit den Messern gemacht? Los, sagt schon.«
»Nichts, verdammt nochmal.« Aaron bleibt ruhig, wie immer, wenn seine Chefin einen dieser Wutanfälle bekommt, für die sie berüchtigt ist.
»Wir gucken im Geschirrspüler nach, vielleicht hat einer von uns nicht nachgedacht und sie doch noch …«, beginnt Nadine.
»Untersteht euch!« Pernille läuft zurück in die Küche und reißt die beiden Klappen der Geschirrspüler auf. Nichts. Dann durchwühlt sie sämtliche Schubladen der Pensionsküche. Vergeblich. Die Messer bleiben verschwunden.