2. KAPITEL

Als Rayne die Wohnungstür öffnete, machte ihre Schwester sich nicht mal die Mühe, Hallo zu sagen, sondern drängte sich mit dem Officer im Schlepptau einfach an ihr vorbei. Der Bulle zeigte seinen Dienstausweis nicht vor. Er tat nur, was Mia ihm sagte.

„Los, durchsuchen Sie die Wohnung“, befahl Mia mit einem Winken ihrer gepflegten Hand. „Sie haben meine Erlaubnis.“

„Lucas ist nicht hier, Mia. Sieh dich doch mal um. Verdammt, du kannst von der Wohnungstür aus jeden Zentimeter dieser Wohnung sehen.“

Sehr nett. Prinzessin Mia trampelte auf ihrer Privatsphäre herum, und das auch noch mit polizeilicher Verstärkung.

„Hallo? Ich habe mich für mündig erklären lassen, als ich sechzehn war! Brauchst du ein Lexikon, um nachzuschlagen, was das bedeutet?“ Offenbar interessierte es weder Mia noch den Polizisten, dass Rayne das Sorgerecht für sich selbst übernommen hatte. Als der Cop sie nicht mal ansah, sondern weiter ihre Sachen durchstöberte, verschränkte Rayne die Arme und starrte ihre Schwester wütend an.

„Wann wird mein Leben jemals mir gehören, Mia?“ Als ihre Schwester nicht antwortete, wandte sie sich an den Polizisten. „Nur um es erwähnt zu haben: Ich erteile Ihnen nicht die Erlaubnis, meine Wohnung zu durchsuchen. Falls Sie das irgendwie interessiert.“

Tat es nicht.

Typisch. Mia trug einen schicken Hosenanzug und so hohe Absätze, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um ihr ins Gesicht zu sehen. Insgesamt sah sie ganz so aus wie America’s Next Top Model. Ihre Vorstellung von einem lässigen Freitagsoutfit. Der Blick, mit dem sie eine Bestandsaufnahme des Einzimmerapartments vornahm, sagte mehr als tausend Worte. Was auch immer Mia davon hielt, wie Rayne lebte – viel war es nicht.

Raynes ungemachtes Bett und das durchgesessene Sofa, das mit Klebeband geflickt war, gaben leichte Angriffsziele ab. Der gebrauchte Fernseher stand auf Betonblöcken und Holzplanken, in der Spüle stapelten sich Müslischalen, und in einer Zimmerecke türmte sich Schmutzwäsche. Rayne hätte gedacht, dass Mia sofort mit einer fiesen Attacke loslegen würde. Doch stattdessen ging ihre Schwester wortlos zu dem einzigen gepflegten Bereich von Raynes Existenz hinüber – dem einen neuen Gegenstand, für den sie wirklich Geld ausgegeben hatte. Rayne wappnete sich für Hassattacke 2.0.

„Oh, mein Gott. Was ist denn das?“ Mia spähte in das große Terrarium, das eine Ecke der kleinen Wohnung dominierte und von UVB- und Wärmelampen mit Zeitschaltung beleuchtet wurde. Als sie den schuppigen Leguan entdeckte, verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse reiner Abscheu.

„Das ist mein Mitbewohner Floyd Zilla. Komm nicht zu nahe, er hat noch nicht gegessen.“

Als wolle er ihre Worte unterstreichen, ließ der Leguan seine Zunge hervorschnellen und machte einen Satz in Mias Richtung, die entsetzt zurücksprang. Rayne lachte prustend.

„Das Vieh überträgt bestimmt Krankheiten“, sagte ihre Schwester.

„Du auch, aber hey, wenn du mich fragst …“ Rayne zwang sich ein Grinsen ab und log: „… Ich glaube, er mag dich.“

Mia warf ihr einen strengen Blick zu und verlor kein Wort mehr über Floyd. Als sie in die Küche weitermarschierte, verdrehte Rayne die Augen und ließ sich auf einen Barhocker sinken, von dem aus sie beobachten konnte, wie ihre Schwester Kühlschrank und Küchenschränke durchsuchte. Mia hielt mit gehobenen Brauen eine Packung Fertig-Käsemakkaroni hoch und sah Rayne an, als würde sie eine Erklärung erwarten.

Verdammte Axt, erwischt.

„Die sind für Floyd“, log Rayne. „Er braucht eine extrem kohlehydratreiche Ernährung.“

Mia rollte mit den Augen und sagte: „Na ja, immerhin hast du frisches Obst da, aber was hat es mit der Pastinake auf sich?“

„Ähm, das Obst und die Pastinaken gehören auch zu Floyds Vorrat. Er ist Veganer. Ich mache ihm immer Brei aus Salat und Obst, weil er doch keine Zähne hat. Willst du mal probieren?“

„Das war ja wieder mal klar. Die Echse isst besser als du.“ Mia seufzte und schüttelte den Kopf über Raynes übrige Vorräte. „Fertiggerichte, Ramennudeln, Ben & Jerry’s. Ist das deine Vorstellung von Ernährung?“

„Das ist doch nur mein Frühstückskram.“

Mia schnappte sich eine Familienpackung Skittles und hielt sie ihr vor die Nase. „Frühstück?“

„Die kommen in meine Cornflakes. Gott.“ Rayne nahm ihr die Skittles weg. „Außerdem hole ich mir meine Nährstoffe so wie der Großteil Amerikas bei McDreck. Mein Beitrag zur Rettung der Wirtschaft – Big Mac für Big Mac.“

„Du findest das vielleicht lustig, aber ich sehe den Witz nicht. Du bist fast achtzehn. Ich hätte … mehr von dir erwartet.“

„Was bildest du dir eigentlich ein, überhaupt irgendwas von mir zu erwarten? Ich bin ausgezogen. Warum, ist kein Geheimnis, jedenfalls nicht zwischen uns. Du hast kein Recht, mir Vorwürfe darüber zu machen, wie ich lebe.“

Mia warf dem Bullen einen Seitenblick zu und schob das Kinn vor. Rayne wusste, was das zu bedeuten hatte. Ihre Schwester hasste es, in Gegenwart Dritter über Privatangelegenheiten zu streiten. Sie hatte kein Problem, ordentlich auszuteilen und ihr Gift zu verspritzen, aber sobald Rayne zurückschoss, rastete Mia aus, weil sie die Kontrolle verlor. Rayne hätte vor dem Cop für ordentlich Feuer sorgen können, aber sie entschied sich dagegen. Irgendjemand hier musste sich schließlich erwachsen verhalten – und wenn sie Mia Informationen über Station 8 entlocken wollte, verbesserten sich ihre Chancen deutlich, wenn sie alleine waren.

Der Bulle brauchte nicht lange, um die Wohnung zu durchwühlen. Er sagte nicht viel und schüttelte nur den Kopf, als er fertig war. Hä? Kein Lucas? Echt jetzt? Menno.

„Warten Sie im Wagen auf mich“, sagte Mia. „Ich muss unter vier Augen mit meiner Schwester sprechen.“

Nachdem die Wohnungstür hinter dem Cop ins Schloss gefallen war und sie alleine waren, gab Rayne ihrer Schwester gar nicht erst die Gelegenheit, ihr die Lektion des Tages zu verpassen. Denn sie hatte selbst eine Menge zu sagen.

„War das jetzt eine offizielle Angelegenheit? Hast du das Verschwinden von Lucas überhaupt bei der Polizei gemeldet? Oder steht der Cop auf der Gehaltsliste deiner wunderbaren Kirche?“ Als Mia nicht gleich antwortete, schob sie nach: „Dachte ich mir schon.“

„Sieh mal, Rayne, unterm Strich geht es doch darum, dass wir eine Familie sind.“

Klar, die Liebe ist fast greifbar.

„Hattest du vor, mich jemals einzuladen und mir deine Wohnung zu zeigen?“, sagte Mia und machte dabei einen auf verletzt. „Es ist schon sechs Monate her, dass du ausgezogen bist.“

Das kam aus heiterem Himmel, und fast wäre Rayne ins Schleudern geraten. Na klar. Wenn Schweine fliegen lernen, Schwesterherz.

„Die Post muss deine Einladung zu meiner Einweihungsparty verschlampt haben.“

„Ich weiß, dass Lucas dich angerufen hat.“ Mia stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Küchentresen ab und sprach in so vertraulichem Ton, als wären sie beste Freundinnen. „Du hast doch keine Ahnung, was da vor sich geht, Rayne.“

„Dann klär mich auf! Das kann ja wohl nicht so ein großes Problem sein! Er ist auch mein Bruder. Ich will doch nur helfen.“

„Aber das kannst du nicht. Ich kümmere mich um alles, was Lucas braucht. Es geht einfach nicht, dass du mir in die Quere kommst.“

In die Quere? Was Mia sagte, tat weh – sehr sogar –, aber Rayne ließ sich nichts anmerken.

„Nur das Krankenhaus kann ihm helfen. Lucas wirkt auf den ersten Blick vielleicht normal, aber er ist wirklich krank, Rayne. Nachdem ich mich für ihn eingesetzt habe, hat eine neue Ärztin Interesse an seinem Fall gezeigt.“

Na toll, noch eine mehr. Was diese neue Ärztin wohl mit Lucas’ Verlegung zu tun hatte? Mia glaubte an ihre verrückte Kirche und deren „System“, und sie glaubte alles, was ihr die Ärzte sagten. Aber Rayne hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie hatte genug von den Theorien der Ärzte, doch sie hielt den Mund und hörte zu.

„Ihr Name ist Dr. Fiona Haugstad. Sie leitet die psychiatrische Abteilung in Haven Hills. Dr. Haugstad war an der Neubewertung von Lucas’ Zustand beteiligt, hatte aber niemals die Gelegenheit, sie abzuschließen. Wenn er seine Medikamente nicht mehr nimmt, könnte er ihrer Meinung nach jedoch eine Gefahr für …“

„Jetzt warte mal“, unterbrach Rayne sie. „Noch mal von vorne. Du hast gesagt, dass du weißt, dass Lucas mich angerufen hat. Woher? Spionierst du mir etwa nach?“

„Du verstehst das alles nicht. Das hast du noch nie.“ Mia wich ihrem Blick aus und antwortete auch nicht auf ihre Frage.

„Weil du mich außen vor hältst! Du behandelst mich ständig wie ein dummes kleines Kind!“

„Du bist nicht dumm, aber ein Kind bist du tatsächlich noch! Was ist so verkehrt daran, dass ich die Rolle der Erwachsenen übernehme?“ Mia zuckte mit den Achseln. „Sieh mal, keiner von uns hatte das Glück, eine richtige Kindheit zu erleben. Das ist scheiße, und Lucas hatte das größte Pech von uns allen. Ich will euch beide doch nur vor Schlimmerem bewahren!“

„Schwer zu glauben, dass es etwas Schlimmeres gibt als tote Eltern und ein Leben in der Psychiatrie ohne Aussicht auf Entlassung. Aber hey, wenn du Lucas erklärst, dass irgendwo da draußen ein viel größerer böser schwarzer Mann herumläuft, glaubt er dir ja vielleicht, dass sein Leben in der Klinik gar kein Riesenhaufen Scheiße ist! Dank dir sabbert er rund um die Uhr.“

Rayne nahm Mia die ganze „Fürsorgliche-große-Schwester“-Masche nicht ab. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte Mia sofort die gesamte Verantwortung an sich gerissen und eigenmächtig alle Entscheidungen getroffen. Anfangs war das ein Trost gewesen, doch dann hatten Männer in Anzügen mit ihren offiziellen Dokumenten die Kontrolle über ihr Leben übernommen. Rayne hasste Anwälte, und Richter waren kein Stück besser. Die Typen interessierten sich nur für den Papierkram und dafür, dass sie ihre Unterschriften bekamen, ob es nun um das Sorgerecht oder um juristische Anträge ging.

Mia war achtzehn gewesen, als sie ihre Eltern verloren, und sie hatte Rayne damals überredet, ihr einfach zu vertrauen. Rayne hatte es nicht besser gewusst, und außerdem hatte sie daran glauben wollen, dass ihre Schwester alles im Griff hatte. Auf Mias Bitte hin hatte sie ihre Unterschrift auf eine gepunktete Linie gesetzt und damit allen Plänen ihrer Schwester für Lucas’ und ihre eigene Zukunft zugestimmt.

Danach war alles ganz schnell gegangen, und dank des Richters waren alle Entscheidungen, die Mia getroffen hatte, sogar legal. Sie gründete Treuhandfonds und riss die Kontrolle über alles an sich, inklusive die Betreuung von Lucas und seinen Anteil am Erbe. Damals hatte Rayne noch geglaubt, Mia würde wollen, dass sie alle zusammenblieben. Dass sie alle unter einem Dach lebten, damit sie gemeinsam den Verlust ihrer Eltern verarbeiten und weiter eine Familie bleiben konnten.

Doch als Lucas mehr brauchte als nur ein Dach über dem Kopf, hatte Mia ihn in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einliefern lassen, als würde sie sich für ihn schämen. Sie hatte ihn so emotionslos in Haven Hills eingesperrt, wie man von dem Rückgaberecht für ein defektes Gerät Gebrauch macht.

„Wie gesagt, du hast es noch nie verstanden.“ Endlich sah Mia ihr in die Augen. „Hast du selbst mit ihm gesprochen, oder hat er dir nur eine Nachricht hinterlassen?“

Mia spielte nur aus einem Grund die besorgte Schwester: Sie wollte Rayne Informationen entlocken und hoffte, dass sie die Nachricht von Lucas hören durfte. Tja, Pech gehabt.

„Du hast das Recht auf eine Antwort verspielt, Mia. Tut mir leid.“

Ihre Schwester wirkte aufrichtig traurig. Ein Teil von Rayne wünschte sich, dass zwischen ihnen alles anders gelaufen wäre, aber der Teil, der sie zurückhielt, war einfach stärker. Wie immer vertraute ihre Schwester ihr nicht genug, um mit der Wahrheit herauszurücken, nicht einmal, was Lucas betraf. Sie beide trugen einen riesigen Haufen an Enttäuschungen mit sich herum, und es sah nicht so aus, als ob eine von ihnen nachgeben würde.

„Was ist Station 8? Du hattest Lucas dorthin verlegen lassen wollen. Wollte diese neue Wunderärztin Lucas vor der Verlegung schützen oder war das auf ihrem Mist gewachsen?“

Rayne fiel kein schlauerer Weg ein, die Verlegung zu thematisieren. Ihr Bruder hatte nicht erklärt, warum er solche Angst vor Station 8 hatte. Jetzt konnte Mia sich denken, dass Rayne nicht persönlich mit ihm gesprochen, sondern nur eine Nachricht von ihm bekommen hatte – und Fragen ohne Antworten.

„Woher …?“ Mia biss die Zähne zusammen. „Bitte … halt dich da raus. Tu nur ein einziges Mal, worum ich dich bitte. Lucas zuliebe.“

Rayne starrte sie ungläubig an.

„Klar, tue ich das nicht immer, Schwesterherz?“

Sie konnte Mia ansehen, dass sie ganz genau wusste, was ihre Antwort wirklich bedeutete. „Klar“ hieß „auf keinen Fall“. Das zunehmende Misstrauen zwischen ihnen hatte mit dem Schock über den Verlust ihrer Eltern eingesetzt. Und seitdem war alles, was ihnen geblieben war, den Bach runtergegangen.

Mia ging ohne ein weiteres Wort. Rayne hatte nicht wirklich erwartet, dass ihre Schwester ihr in Bezug auf Lucas, seine fragwürdige medizinische Versorgung und Station 8 plötzlich Vertrauen schenken würde. Und die leisen Zweifel darüber, was sie tun sollte, waren nach dem Gespräch mit ihrer Schwester wie weggewischt. Wenn die Kirche auch Cops auf der Gehaltsliste hatte, war es sinnlos, Lucas bei der Polizei als vermisst zu melden. Dank Mia wäre das reine Zeitverschwendung gewesen.

Rayne stellte Floyd etwas Salatbrei aus dem Kühlschrank zum Fressen hin und füllte seine Tränke neu auf – das würde eine ganze Weile reichen. Nachdem sie den Leguan versorgt hatte, suchte sie auf ihrem Handy nach einem aktuellen Foto von Luke, einem, das sie an einem seiner besseren Tage in Haven Hills gemacht hatte, an dem er sie fast erkannt hätte.

Auf seinen hübschen Zügen lag ein schiefes Lächeln, und seine schönen grauen Augen wirkten schläfrig, als ob er gerade aus einem langen Nickerchen aufgewacht sei. Es war eins ihrer Lieblingsbilder von ihm, weil sie darin den kleinen Jungen erkennen konnte, der er einmal gewesen war. Sie schlüpfte wieder in ihre Lederjacke, schnappte sich den Schlüssel zu ihrem Motorrad und schloss die Wohnung ab. Sie würde Lucas selbst suchen, und anfangen würde sie in dem 24-Stunden-Supermarkt, von dem aus er angerufen hatte.

Anders als ihre Schwester hatte Lucas weder die Polizei auf seiner Seite noch eine Kirche, auf deren Geld er bauen konnte. Luke hatte niemanden – bis auf sie. Und in einem Punkt war sich Rayne absolut sicher.

Mia verschwieg ihr etwas über Lucas. Hundertprozentig.

Wenige Minuten später

Bevor Mia zum Wagen ging, in dem Officer Preston auf sie wartete, musste sie noch einen Anruf hinter sich bringen. Sie war nicht sonderlich erfreut darüber, mitteilen zu müssen, dass Lucas sich nicht bei Rayne versteckte. Wie hatte das alles nur so ein Schlamassel werden können? Es beunruhigte sie, dass ihre Schwester von Station 8 wusste. Wie konnte Lucas davon erfahren haben? Wie konnte er bei all den Medikamenten, die man ihm verabreicht hatte, von diesem streng geheimen Teil der Klinik wissen, der in direkter Verbindung mit der Kirche und ihren Überzeugungen stand? Nicht einmal Mia wusste genau, was dort vor sich ging. Sie wusste nur, dass auf Station 8 unter ausschließlicher Verantwortung der Kirche mit recht unkonventionellen Methoden an harten Fällen gearbeitet wurde – die letzte Hoffnung für Patienten, die auf traditionelle medizinische Behandlungen nicht reagierten. Sie hatte gehofft, dass Dr. Haugstad die Verlegung von Lucas würde verhindern können, doch jetzt würde sie wahrscheinlich niemals erfahren, was für Pläne die Ärztin mit ihrem Bruder gehabt hatte. Und im Augenblick hatte sie auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Beim zweiten Klingeln meldete sich am anderen Ende der Leitung eine heisere Stimme.

„Ich bin’s. Er war nicht da.“

„Er ist Ihr Bruder, Mia. Wo könnte er stecken?“

Sie kannte den Mann nur bei seinem Nachnamen: O’Dell. Beim Klang seiner tiefen, kehligen Stimme bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut – als würde er viel zu dicht neben ihr stehen und ihr ins Ohr flüstern. Aber es war wichtig, dass er ihr vertraute. Die Church of Spiritual Freedom hatte den Mann damit beauftragt, unauffällig nach Lucas zu suchen und dafür zu sorgen, dass nur Beamte, die unter dem weitreichenden Einfluss der Kirche standen, in den Fall involviert wurden. Mia hatte keine andere Wahl als zu kooperieren. Die Kirche musste unbedingt die Kontrolle über diese Angelegenheit bewahren, um eine öffentliche Bloßstellung zu verhindern. O’Dell war der Schlüssel zu allem. Wenn er fand, dass Mia versagt hatte, würde sie niemals in den inneren Vertrauenskreis der Kirche aufsteigen. Und das kam gar nicht infrage.

„Ich werde mit Officer Preston zu unserem alten Haus fahren. Es ist der letzte Ort, an dem wir eine Familie waren. Vielleicht versteckt er sich dort.“

In Wahrheit hatte Mia keine Ahnung, wohin Lucas sich wenden würde. Da er zu Fuß unterwegs war, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie ihn in ihrem alten Haus finden würde. Aber so konnte sie Zeit schinden und in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Sie musste Luke finden, und dafür brauchte sie O’Dells Hilfe.

Alles hing davon ab.

„Rufen Sie mich an, wenn Sie dort waren“, sagte O’Dell. Er legte auf, ohne ihre Antwort abzuwarten. Kein gutes Zeichen.

Wo konnte Luke nur sein?

Die Rennerei hatte Lucas seine letzte Kraft gekostet. Seine Brust hob und senkte sich schwer, seine Beine brannten und ihm war schlecht. In den Schatten einer dunklen Seitengasse beugte er sich vor und würgte, doch es kam nichts hoch. Sein Magen war leer, er gab nichts, was er erbrechen konnte. Der Aufenthalt in der Nervenheilanstalt und die Medikamente hatten ihn völlig ausgelaugt. Er fühlte sich schwach, und er wusste nicht mehr, wer er war.

Fürs Erste war er seinen Verfolgern entkommen, doch er konnte sie immer noch spüren. In der finstersten Ecke der Gasse ließ er sich keuchend an einer Ziegelwand hinabgleiten und schloss die Augen. Er musste sich ausruhen. Es war verlockend, einfach einzuschlafen und den Rest dem Schicksal zu überlassen. Die Medikamente, die sich noch in seinem Körper befanden, verwirrten ihn. Er war aus Haven Hills getürmt, weil er deutlich gespürt hatte, dass etwas auf ihn zukam. Die Albträume waren immer häufiger geworden und hatten ihn in die Flucht getrieben, aber aufhalten konnte er sie auch außerhalb der Klinik nicht.

Seine düsteren Träume über Station 8 holten ihn wieder ein.

Egal, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, seine Erschöpfung und die Schatten in der Gasse ließen den immer gleichen Albtraum in blendenden Abfolgen aus Klängen und Bildern erneut vor ihm ablaufen. Sein Herz begann zu rasen. Er war nachts so oft schweißgebadet aus diesem Traum aufgewacht, dass er nicht mehr wusste, ob es sich um wirkliche, durch die Medikamente verfremdete Erinnerungen handelte oder um paranoide Vorstellungen davon, was ihm widerfahren würde, wenn man ihn tatsächlich auf Station 8 verlegte. Mit den Jahren hatten die Medikamente die Kontrolle über seinen Körper übernommen und ihn praktisch zu einem Gefängnis gemacht – zu einem Käfig, aus dem es für Lucas nicht einmal jetzt ein Entkommen gab. Er wusste nicht mehr, was real war. Er wollte all das einfach nur hinter sich lassen, wollte, dass es aufhörte.

Doch etwas gab es, das sich greifbar anfühlte und ihn davon abhielt, der Angst nachzugeben und sich von den Believers finden zu lassen.

Die Stimme des Mädchens in seinem Kopf.

Du hast keine Ahnung, wie mächtig du bist.

Ihre Stimme bewegte ihn dazu, die Augen aufzuschlagen. Mühsam kam er auf die Beine und suchte Halt an der Ziegelmauer.

Komm zu mir. Ich kann dir helfen.

Die Stimme half ihm, den ersten Schritt zu tun und dann den nächsten. Er musste das Mädchen finden. Es hatte ihm ein großes Geschenk gemacht: Nun interessierte ihn wieder, was mit ihm geschah.

Burbank

O’Dell lief durch die Schatten eines schwach beleuchteten Raums seiner bunkerartigen Kommandozentrale in Burbank und ließ den Energieschub von dem Eiweißdrink, den er gerade getrunken hatte, seine Wirkung entfalten. Er nahm den Powerdrink, den er nach seinem eigenen Rezept zusammenbraute, immer nach dem Training ein, da er das Muskelwachstum steigerte. Zur Stärkung seiner Hand- und Unterarmmuskulatur drückte er auf einem Gummiball herum. Er nannte diese Übung den „Schlangentanz“. Die meisten Frauen warfen ihm skeptische Blicke zu, wenn sie das hörten, doch der Name hatte seinen Grund. Um O’Dells Unterarme wickelten sich zwei Schlangentattoos, und wenn er den Gummiball drückte und sich seine Muskeln anspannten, sah es so aus, als würden sich die Schlangen bewegen.

Die Zwillingsschlangen verschafften ihm Aufmerksamkeit und Respekt. O’Dell war kein Herdentier. Er arbeitete nicht nach der Stechuhr. Normale Jobs waren für Idioten. Hier hatte er die Verantwortung. Die auf langen Tischen nebeneinander aufgereihten Computermonitore tauchten die Gesichter seiner Leute in bunte Farben. Im Dunkeln war es leichter, sich auf die Überwachung zu konzentrieren. An jeder Arbeitsstation wurde ein anderer Abschnitt von L.A. beobachtet.

O’Dell und seine Leute hatten sich in die Straßenkameras der Stadt eingehackt und suchten mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms, das sie „Tracker“ nannten, nach Lucas Darby und anderen wie ihm.

Sie hatten ihre Augen überall.

O’Dell ging in sein Büro, das auf einer erhöhten Plattform hinter den Reihen seiner Computer-Administratoren lag. Ein riesiges Fenster hielt ihn über alles auf dem Laufenden, was unten geschah. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und spielte noch einmal das Video von dem kleinen Darby in der Telefonzelle ab. Selbst im Dämmerlicht konnte er erkennen, wie der Junge weinte und sich die Augen rieb. O’Dell hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was der Grund dafür war. Als Darby in die Überwachungskamera blickte, wirkte es so, als würde er wissen, dass er beobachtet wurde. O’Dell musste lächeln.

Verdammter Freak!

Er dachte an die Akte über Darby, die man ihm hatte zukommen lassen. Sie war kurz gewesen. Nur das Wichtigste, keine nähere Erklärung. O’Dell erhielt seine Aufträge in Form digitaler Dateien, die online zugänglich waren. Die Dossiers über seine Zielpersonen enthielten unter anderem Überwachungsfotos, die er in Tracker hochladen konnte, und Informationen, die eine diskrete Entführung erleichterten. Er jagte die Gesichter aus den Akten durch ein Suchraster, und sobald er einen Treffer gelandet und die Zielperson beschafft hatte, sperrte er sie in einen Haftraum in seinem Bunker, bis er über die Statusverfolgungsseite im Internet eine sichere Übergabe arrangieren konnte.

Die Typen, die die Zielpersonen, immer Kinder und Jugendliche, abholten, trugen Weiß, kamen in einem Krankenwagen und stellten die Kinder immer mit Medikamenten ruhig. Natürlich war es möglich, dass die Krankenhausausrüstung nur Theater war, aber für O’Dell spielte es keine Rolle, wohin man die Zielpersonen brachte, und er wusste es auch nicht. Wenn sein Team den Auftrag erhielt, ausgediente Körper zu entsorgen, wurden sie zu einem sicheren Treffpunkt geordert und hatten strikte Anweisung, nicht in die schwarzen Leichensäcke zu sehen. Aber einmal hatte O’Dell die Regeln gebrochen und einen Blick riskiert. Eins der toten Kinder hatte er wiedererkannt, einen Jungen, den er gejagt hatte. Danach hatte er niemals wieder in die Säcke geguckt, nicht bei dem Zustand, in dem sich die Leiche befunden hatte. Diese Kinder bedeuteten für ihn und sein Team nichts weiter als einen Lohnscheck und eine Bonuszahlung.

Er wusste nicht, wie und warum seine Zielpersonen ausgewählt wurden. Die Geheimorganisation, für die er arbeitete, hatte eine kleinteilige Struktur. Er ging davon aus, dass sie über ein globales Netzwerk verfügte, aber das war reine Mutmaßung. Wenn Kinder wie diese in L.A. existierten, musste es sie auch an anderen Orten auf der Welt geben. O’Dell erledigte seine Arbeit, ohne viel über die Organisation zu wissen, die ihn beauftragte. Manche Leute mochte es stören, nicht zu wissen, wer in der Hackordnung über ihnen stand, doch O’Dell wusste es zu schätzen, dass im Gegenzug auch niemand über seinen Betrieb Bescheid wusste. Es wurden nur Informationen ausgetauscht, die unverzichtbar waren. Falls jemand in Konflikt mit den Behörden geriet, konnte er so nichts verraten, was die Gruppe in Gefahr brachte, und der Online-Informationsaustausch konnte im Handumdrehen stillgelegt werden.

O’Dell war zufrieden damit, wie es war, und es verschaffte ihm einen Kick, diese kleinen Intelligenzbestien aufzuspüren. Angeblich hatten die Indigokinder einen außergewöhnlich hohen IQ und galten dank ihrer „besonderen“ Begabungen als die nächste evolutionäre Stufe der Menschheit. Besonders, na klar. Wenn sie so hoch entwickelt waren, wie konnte es dann sein, dass sie so verdammt leicht zu schnappen waren?

Mit einem selbstgefälligen Grinsen schüttelte er den Kopf. Die Vorstellung, die heiße Schwester des Jungen für seine Zwecke zu benutzen, machte ihn echt an. Diese Mia musste ihren eigenen Bruder aufspüren und ausliefern, um der Kirche ihre Loyalität zu beweisen. Die Kleine musste ziemlich gierig sein. Mit der richtigen Einstellung würde sie es zu einer Menge Geld bringen können. Aber damit sie ordentlich absahnte, musste sie ihren Bruder betrügen und gegen ihre kleine Schwester arbeiten – die, die der Junge angerufen und wegen der er geheult hatte. O’Dells Bauchgefühl sagte ihm, dass sie es war, auf die er ein Auge haben musste.

O’Dell suchte den Blick seines besten Mannes und bedeutete ihm, hoch in sein Büro zu kommen.

„Ich will einen Mann an dem Münztelefon, von dem aus der Junge telefoniert hat“, befahl er. „Er könnte zurückkommen. Und setzt ein Überwachungsteam auf die andere Schwester an, Rayne. Wenn es sein muss, könnt ihr die Jungs von der Gang benutzen, diese MS-13-Crew, aber gebt keine Informationen an sie weiter.“

Die Gang Mara Salvatrucha 13 war in Los Angeles entstanden, aber ihr Einflussbereich erstreckte sich mittlerweile über die USA, Kanada, Mexiko und bis nach Mittelamerika. O’Dell fand sie nützlich, und da sie sich auf seinem Terrain befanden, zahlte es sich aus, ein paar Gangmitglieder auf seiner Seite zu haben.

„Und was, wenn die Kleine zum Problem wird?“

„Wenn sie uns in die Quere kommt, muss sie eben überzeugt werden, dass das ein Fehler ist. Tut, was immer nötig ist, um sie ein bisschen Gottesfurcht zu lehren.“

„Wird gemacht.“

O’Dell grinste. Dann kann die Freakshow ja losgehen.

Rayne begann ihre Suche nach Lucas bei der Telefonzelle, von der aus er sie angerufen hatte. Der Supermarkt war nicht weit vom Krankenhaus entfernt. Es machte Sinn, dass er von dort aus angerufen hatte, aber wohin hatte er sich als Nächstes gewandt? Sie lungerte ein bisschen herum und beobachtete Leute, dann befragte sie den Kassierer, der gerade Dienst hatte, und alle, die einen Fuß in den Laden setzten. Um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, zeigte sie ihnen das Bild von Lucas auf ihrem Handy, aber niemand hatte ihn gesehen.

Jetzt, drei Stunden später, fuhr Rayne auf der alten Harley ihres Vaters herum und klapperte Lucas’ ältere und neuere Lieblingsorte ab. Sie spürte, wie ihr die Erschöpfung in die Knochen kroch. Sie verband das Motorrad mit guten Erinnerungen, und auf ihrem Ausflug in die gemeinsame Vergangenheit mit ihrem Bruder konnte sie das positive Karma gut gebrauchen. Die alte Harley ließ sie an die Zeiten denken, als sie und Lucas noch klein gewesen waren. Sie hatten ihrem Dad oft bei der Restaurierung der Harley zugeschaut, und wenn ihre Mutter es nicht mitbekam, hatte er kurze Ausflüge mit ihnen gemacht. Das war ihr Ding gewesen, und deswegen hatte Rayne das Motorrad geerbt, als Lucas eingewiesen worden war. Ihr Vater hatte in seinem Testament unmissverständlich klargemacht, was mit dem Motorrad passieren sollte. Niemand, nicht einmal Mia, konnte einschreiten und seinen Letzten Willen ändern. Sobald Rayne alt genug gewesen war, um den Führerschein zu machen, hatte sie ihrer missbilligend dreinschauenden Schwester die Schlüssel abgenommen.

Auf dem Motorrad ihres Vaters zu fahren gab ihr das Gefühl, nicht alleine unterwegs zu sein. Im Geiste war ihr Dad bei ihr. Sie spürte seine ruhige Kraft um sich und erinnerte sich daran, wie es gewesen war, von ihm in die Arme genommen zu werden, ganz fest, wie er es immer getan hatte, als sie klein war. Bei ihm war sie in Sicherheit gewesen. Die Erinnerungen an ihren Vater ermöglichten es Rayne, sich besser in Lucas hineinzuversetzen, aber es fiel ihr trotzdem schwer, sich nicht von der Hoffnungslosigkeit ihrer Suche unterkriegen zu lassen: eine Nadel in einem Heuhaufen von der Größe L.A.s.

In einigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Rayne fand ihren Bruder nicht, und je tiefer die Nacht wurde, desto stärker wurde ihr ungutes Gefühl. Lukes Paranoia hatte abgefärbt. Seit sie bei ihrem ersten Halt, der Telefonzelle, aufgebrochen war, kitzelte es in ihrem Nacken, als würde sie von jemandem beobachtet. Aber wenn sie in den Rückspiegel sah, konnte sie nichts Verdächtiges entdecken. Kein Wagen, der beschleunigte, wenn sie aufs Gas ging, niemand, der ihr folgte, wenn sie wendete.

Und trotzdem war da etwas.

Als die Paranoia ihren Adrenalinspiegel in die Höhe trieb und sich ihre Suche immer weiter in die Länge zog, weil sie einige Extramanöver einlegen musste, beschloss sie, dass es an der Zeit war, Feierabend zu machen. Ihr letzter Halt lag nicht weit von West Hollywood entfernt – der alte Griffith Park Zoo, direkt beim Ventura Freeway bei Glendale.

Lucas war zu jung, um den Zoo, der in den 1960ern geschlossen worden war, jemals in Betrieb gesehen zu haben. Doch als er einen Sommer in einem Kinderzeltlager nicht weit von dem verlassenen Zoo verbracht hatte, hatte er ihn für sich entdeckt. Lucas liebte es, die alten Pfade entlangzuwandern. Die unterirdischen Tunnel und alten Käfige und Gruben, die mit Graffiti und Streetart übersät waren, hatten ihn als Kind angelockt – ein kostbares Stück Natur im Herzen des Betons und Asphalts von L.A.

Rayne bog in den Crystal Springs Drive ab und fuhr die gewundene schmale Straße hinunter, die zum Haupteingang führte. Angenehme Erinnerungen stiegen in ihr auf, aber gleichzeitig spielte das Mondlicht ihren Augen Streiche. Bäume verwandelten sich in lauernde Ungeheuer mit Augen, und die verlassenen Wanderwege hätten sich gut als Drehort für einen Horrorfilm geeignet. Der Gruselfaktor war echt riesig, aber er hatte auch etwas für sich.

Wenn ihr jemand in den alten Park gefolgt war, war er jetzt leicht zu entdecken.

Rayne stellte ihr Motorrad nahe beim Eingang ab, nahm den Helm ab und atmete die Nachtluft ein, während sie auf Geräusche lauschte. Sie spähte in der Dunkelheit nach Anzeichen dafür, dass man ihr gefolgt war. Das konstante Verkehrsrauschen des Freeways wurde durch die Hügel und den dichten Baumbestand im Park gedämpft, aber Rayne bemerkte nichts Ungewöhnliches. Keine Scheinwerfer hinter ihr, keine Reifen, die auf Kies knirschten. Das einzige Licht stammte von der weit entfernten Skyline der Stadt.

Zufrieden, dass ihr niemand folgte, schnappte Rayne sich die Taschenlampe, die sie für Pannen in der Harley verstaut hatte, und sicherte das Motorrad. Dann betrat sie den Park und folgte den Asphaltwegen durch baufällige Tiergehege, die von Ranken überwuchert waren. Anfangs schwieg sie noch, doch dann beschloss sie, dass es in Anbetracht der Größe des Zoos besser war, Lucas’ Namen zu rufen. Wenn er hier war, würde ihn der Lärm vielleicht aus der Deckung locken.

„Lucas, ich bin’s, Rayne!“

Als sie tiefer in den Park vordrang, näher an die großen Bären- und Löwengehege kam, atmete sie tief durch und wappnete sich für das Schlimmste: die unterirdischen Gänge. Wenn Lucas Schutz und ein richtiges Versteck suchte, hatte er sich zu ihrem Pech mit einiger Wahrscheinlichkeit in dem unterirdischen Labyrinth versteckt, seinem Lieblingsteil des Zoos. Der letzte Ort, an dem sie mitten in der Nacht sein wollte, aber für Lucas musste sie es riskieren. Er hätte dasselbe für sie getan. Weil Lucas war, wie er war, sah er im Gegensatz zu den meisten Leuten keine Dämonen in den Zootunneln lauern. Er sah das Abenteuerliche, die Möglichkeit darin – und die Schönheit, die darin lag, dass die Natur hier ein Stück der Welt zurückeroberte.

Obwohl der dünne Strahl der Taschenlampe ihr einziges Licht war, fand sie das gähnende Maul der Tunnelöffnung und nahm die Treppe nach unten. Auf jeder Stufe knisterten zerfallende Blätter unter ihren Stiefeln. Dornige Finger toter Ranken überzogen die Wände und die Streetart darauf, die größtenteils aus Totenschädeln und Gang-Symbolen bestand. Bei Tag waren die Kunstwerke beeindruckend, fast wie in einer Kirche. Aber nachts sah der Treppenschacht aus wie der Eingang zur Hölle.

Für Lucas … Ich bin wegen Luke hier.

Rayne wiederholte das Mantra in ihrem Kopf und versuchte, nicht bei jedem Schatten zusammenzuzucken, aber sie kam sich vor wie der letzte Angsthase. Ihre Haut kitzelte, als würden überall auf ihr Käfer herumkrabbeln, und der muffige Gestank von Schimmel und Tierkot raubte ihr fast den Atem. Ohne das Licht ihrer Taschenlampe hätte hier völlige Dunkelheit geherrscht. Hier und da drang gedämpftes Mondlicht durch die verrosteten Gitterstäbe und kroch in die Tunneleingänge, an denen sie vorbeikam. Wegen des grellen Taschenlampenlichts war ihre Nachtsicht eine Katastrophe, aber da war nichts zu machen.

„Lucas!“ Sie rief seinen Namen, während sie sich mit einer Hand an der Steinwand entlang durch die Dunkelheit tastete, damit sie nicht stolperte. Je tiefer sie in die Eingeweide des verlassenen Zoos vordrang, desto langgezogener wurde das Echo ihrer Stimme, das es ihr eiskalt den Rücken hinablaufen ließ.

„Luke!“, rief sie wieder.

Ihre Kehle war mittlerweile so rau wie Sandpapier, und der Name ihres Bruders hallte heiser durchs Dunkel. Sie räusperte sich, um noch einmal zu rufen, doch als sich vor ihr etwas bewegte, erstarrte sie mitten in der Bewegung.

Der Mond? Ein Schatten?

Instinktiv schaltete sie die Taschenlampe aus und schloss für eine Sekunde fest die Augen, um ihre Nachtsicht zu verbessern. Hatte sie sich das nur eingebildet? Sie hielt die Luft an und suchte das Dunkel nach Bewegungen ab. Sie betete, dass sie nur einen Ast gesehen hatte, der sich im Wind bewegte, oder etwas ähnlich Harmloses. Normalerweise war sie alles andere als ein Glückspilz, aber heute schien eine Ausnahme zu sein. Denn wenn sie gerade nicht stehen geblieben wäre, hätte sie es niemals gehört.

Ein Schritt … und noch einer.

Jemand war ihr in die Tunnel gefolgt. Rayne war nicht allein.