Griffith Park Zoo
Sonnenuntergang
„Steig auf.“ Rayne saß auf ihrem Motorrad und warf Gabriel den alten Helm ihres Vaters zu. Gabe, der in der Tür des alten Geräteschuppens stand, fing ihn auf. „Ich habe eine Idee, und ich brauche deine Hilfe.“
Obwohl die Harley ihre Ankunft angekündigt hatte, versteckte Gabriel sein Gesicht vorsorglich unter seiner Kapuze. Er hielt sich im Schatten des Schuppens und mied das Abendlicht. Falls es jemand auf ihn abgesehen hatte, hatte er so die Möglichkeit, schnell zu verschwinden. Es machte Rayne traurig, seine eingeübten Manöver zu beobachten, und sie wurde immer neugieriger auf die Gründe für seine Vorsicht.
Sie hatte ihre ganze Geduld aufbringen müssen, um bis zum Sonnenuntergang zu warten, ehe sie ihn abholte.
„Wo fahren wir hin?“, fragte er.
Rayne entging nicht, dass Gabriel sich noch keinen Millimeter bewegt hatte. Sie musste Überzeugungsarbeit leisten.
„Die historische Zeichnung, die du angefertigt hast. Ich habe eine Idee, wo wir danach suchen könnten. Bist du dabei?“ Als er mit den Achseln zuckte, aber nicht Nein sagte, lächelte sie. „Schnapp dir deinen Zeichenblock, Picasso. Wir werden ihn brauchen … und deine Erinnerungen an die Vision.“
Er schlug die Kapuze zurück und starrte Rayne an. Vertrauen fiel ihm eindeutig nicht leicht. Als er sie musterte, spürte Rayne, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie umklammerte den Lenker, weil Gabes durchdringender Blick sie so nervös machte. Jemandem wie ihm war Rayne noch nie begegnet. Er jagte ihr Angst ein, aber gleichzeitig fand sie ihn auch aufregend. Er war wie ein Abenteuer – eines, das sie niemals vergessen würde –, aber sie hatte das ungute Gefühl, dass er aus einem Grund abseits der Gesellschaft lebte, aus dem er auch sie immer auf Abstand halten würde.
Nachdem Gabriel den Helm aufgesetzt und den Schuppen abgeschlossen hatte, kam er mit seinem Rucksack auf den Schultern auf sie zu. Bei jedem Schritt und jeder Bewegung seiner muskulösen Arme und Beine kribbelte ihr Bauch. Sie hatte gar nicht darüber nachgedacht, was es bedeutete, wenn er mit ihr auf dem Motorrad fuhr. Als er sich hinter sie setzte und seine großen Hände auf ihre Hüften legte, hielt sie den Atem an.
Er kam ihr so nahe, dass sie seine Wärme an ihrem Rücken spürte. Dann sagte er leise: „Ich gehöre ganz dir. Bring uns nicht um.“
Mit einem finsteren Lächeln ließ Rayne die Harley an, und als sie sich in Bewegung setzten, umklammerte Gabriel ihre Taille. Während sie jenseits der Straße fuhren, hielt er sich an ihr fest. Als sie den gewundenen Abschnitt des Crystal Springs Drive erreichten, lehnte sich Rayne in die Kurven und wartete ab, wie er reagieren würde. Als er mit unsicheren Bewegungen gegen sie ankämpfte, wusste sie, dass er noch nie auf einem Motorrad gesessen hatte. Doch dann wuchs sein Vertrauen, und er fing an, ihre Bewegungen zu imitieren. Als sie den Griffith Park verließen und auf den Freeway fuhren, konnte sie spüren, wie sein Griff lockerer wurde und er sich hinter ihr entspannte.
Schade nur, dass sie dasselbe nicht von sich behaupten konnte. Der Motor ließ jeden Muskel in ihrem Körper vibrieren – doch das war nichts gegen das Schaudern, das Gabriel in ihr auslöste. Und zwar aus ganz anderen Gründen.
Einige Minuten später
Mia parkte auf der Nebenfahrbahn unter den Schatten des Ventura Freeway. Sie war Rayne gefolgt, und als ihre Schwester in Richtung Glendale fuhr, hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo sie hinwollte. Schließlich war sie ihr schon einmal zu dem verlassenen Zoo im Griffith Park gefolgt.
Ein ziemliches merkwürdiges Ziel, besonders nachts.
Da nur eine Straße in den Park führte, würde Mia sich dem Risiko aussetzen, entdeckt zu werden, wenn sie ihr zu dieser Tageszeit weiter folgte. Mia würde nicht noch einmal denselben Fehler machen und Rayne entwischen lassen. Also hatte sie beschlossen, vor dem Park auf ihre Schwester zu warten, wo sie nicht Gefahr lief, gesehen zu werden. Mit ihrem neuen Hightech-Fernglas beobachtete sie aus sicherem Abstand, was passierte. Sie hatte das Überwachungsgerät in einem Spezialgeschäft erworben, das Leute mit einer Neigung zu Paranoia ausstattete. Das Militärfernglas hatte eine Audiofunktion und ein Zoomobjektiv mit Nachtsichtfunktion, was sich vielleicht noch als praktisch erweisen würde. Außerdem konnte es Videos in HD-Qualität sowie Standbilder aufzeichnen. Das Gerät konnte mehr, als sie brauchte, aber es war seinen Preis wert, wenn es ihr dabei half, Lucas zu finden.
Diesmal hatte sie sich gründlich darauf vorbereitet, Rayne bei Tag und Nacht folgen zu können. Als ihre Schwester mit einem Jungen auf dem Sozius aus dem Park zurückkehrte, blieb Mia vor Schreck fast das Herz stehen.
Lucas. Er muss es einfach sein.
„Oh, Gott“, flüsterte sie, während sie den Fokus an ihrem Fernglas einstellte. „Sie hat ihn versteckt.“
Mia erkannte den alten Helm ihres Vaters. Während sie den Lexus anließ, fluteten Erinnerungen ihren Kopf. Die Harley hatte ihren Geschwistern so viel bedeutet. Sie verließ ihr Versteck und folgte dem Motorrad auf den Freeway, wobei sie den Drang unterdrückte, aufs Gas zu treten. Sie musste geduldig und vorsichtig sein. Eine falsche Bewegung konnte sie ihre Tarnung kosten.
Eine bessere Chance als diese würde sie vielleicht niemals bekommen.
Als sie auf den Zubringer fuhr, rief sie über die Freisprechanlage O’Dell an. Sie hatte seit Stunden nicht mit ihm gesprochen. Es beunruhigte sie, nicht zu wissen, was er vorhatte. Irgendwie musste sie den Kontakt zu ihm aufrechterhalten, auch wenn er ihr eine Heidenangst einjagte. Die Church of Spiritual Freedom hatte den Mann auf Lucas angesetzt, damit er ihn aufspürte, ohne die Aufmerksamkeit von Instanzen zu wecken, die die Kirche nicht unter ihrer Kontrolle hatte. Mia entging nicht die Dringlichkeit, mit der die Kirche versuchte, Lucas zu finden.
Sie hatte O’Dell vorhin angerufen, aber er war nicht drangegangen. Als es in der Leitung geklickt hatte, als würde gleich die Mailbox anspringen, hätte sie fast aufgelegt. Doch dann war sie von einer Stimme aufgehalten worden.
„Mia? Hier ist Dr. Haugstad. Ich habe ein Handy klingeln hören und Ihren Namen auf dem Display gesehen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich abgenommen habe. Ich wollte wissen, wie es Ihnen geht.“
„Nein, kein Problem, aber woher kennen Sie O’Dell? Ist er bei Ihnen?“
„Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass er kurz rausgegangen ist. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“
Die Ärztin war neu in Lucas’ Fall, und Mia hatte nicht erwartet, dass sie an O’Dells Telefon gehen würde. Es fiel ihr schwer, jemanden wie O’Dell und die renommierte Psychiaterin unter einen Hut zu bringen. Nachdem Mia belauscht hatte, wie die Krankenschwestern über Lucas und seine potenzielle Verlegung auf Station 8 gesprochen hatten, war sie in Panik ausgebrochen. Sie hatte von Kindern gehört, die dort untergebracht worden waren. Keines von ihnen war jemals zurückgekommen. Auf Station 8 gab es spezielle Sicherheitsvorkehrungen. Niemand, den sie kannte, hatte Zutritt, und niemand in der Kirche sprach darüber. Dieser Krankenhausbereich schien eine Sackgasse zu sein, in der nur die schlimmsten, hoffnungslosesten Fälle landeten. Wie konnte es sein, dass Lucas das verdient hatte? Dr. Haugstad hatte ein Gutachten über ihn verfasst, weil sie sich für ihn einsetzen wollte. Die Frau schien wirklich helfen zu wollen, doch die Zeit hatte gegen sie gespielt, und als deutlich wurde, dass sich die Verlegung von Lucas wohl nicht würde verhindern lassen, hatte Mia die Hoffnung verloren, dass ihr Bruder Haven Hills jemals wieder verlassen würde.
Mia wollte Lucas unbedingt finden, ehe jemand anderes es tat. Deswegen widerstrebte es ihr, Dr. Haugstad erklären zu müssen, warum sie O’Dell angerufen hatte. Doch gleichzeitig missfiel ihr die Vorstellung, etwas vor der Ärztin zu verheimlichen. Dr. Haugstad schien alles im Griff zu haben und wirkte ausgesprochen aufrichtig. Lucas zuliebe würde Mia im Umgang mit Dr. Haugstad auf ihr Bauchgefühl vertrauen müssen. Denn wenn er wieder in Haven Hills landete, brauchte sie dort eine Verbündete, und zwar eine möglichst einflussreiche.
„Ähm, nein. Ich habe ihm bereits auf die Mailbox gesprochen. Ich will ihn nicht noch weiter von seiner Arbeit abhalten. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.“
„Keine Sorge, meine Liebe. Wir alle machen uns Sorgen um Ihren Bruder. Seine Sicherheit ist unser wichtigstes Ziel. Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn aufzuspüren“, erwiderte die Ärztin. „Ich habe gehört, dass Sie sich sehr lobenswert verhalten und Ihre Zeit zwischen Ihrer Arbeit in der Kirche und der Suche nach Ihrem Bruder aufteilen. Ist etwas passiert? Haben Sie eine Spur? Rufen Sie deswegen an?“
„Nein … nicht wirklich“, erwiderte sie ausweichend.
Ehe sie weitersprechen konnte, sagte Dr. Haugstad: „Ich kann Ihnen anhören, dass Sie Informationen zurückhalten. Bitte versuchen Sie nicht, sich Ihrem Bruder alleine zu nähern, Mia. Ohne seine Medikamente ist er eine Gefahr für sich selbst und andere. Bitte, ihm und Ihnen selbst zuliebe, verraten Sie mir, wo Sie sich aufhalten.“
L.A. County Museum of Art
Dreißig Minuten später
„Ein Museum? Was wollen wir denn hier?“, fragte Gabriel, als sie an einer Reihe hoher Palmen vorbeifuhren und auf einen Parkplatz abbogen.
Die Besucher parkten auf einem großen Parkplatz der Stadt, aber weil Rayne einen Sommer lang ehrenamtlich im Museum mitgearbeitet hatte, kannte sie einen kleineren Parkplatz, der gleich beim Bibliotheksarchiv lag und für Aussteller und freiwillige Helfer reserviert war. Das Museumsgelände war weitläufig, und der Ort, an den sie wollte, befand sich in ihrem Lieblingsteil der Anlage, einem modernen weißen Gebäude, das sie wegen der aneinandergereihten Bauelemente und der markanten, emporragenden Dachlinie an eine menschliche Wirbelsäule erinnerte.
„Nicht irgendein Museum. Es ist das Wichtigste im L.A. County und hat eine Studienbibliothek, die auf Kunstarchivierung ausgerichtet ist.“
„Ah, kluges Mädchen.“
Rayne musste lächeln. Er hatte ihr genug Vertrauen geschenkt, um mitzukommen, ohne zu wissen, wo sie ihn hinbrachte. Wenn das mal kein Fortschritt war! Sie stellte das Motorrad ab, nahm ihren Helm ab und wartete, bis Gabriel abgestiegen war, ehe sie ihm ihren Plan verriet. Ihr war nicht entgangen, dass er im gleichen Moment, in dem er den Helm abnahm, seine Kapuze überstreifte. Sein Gesicht lag fast vollständig im Schatten – Assassin’s Creed lässt grüßen.
„Deine kleine Lektion in Kunstgeschichte hat mich zum Nachdenken gebracht. Etwas an deiner Zeichnung von dem Bahnhof hat mich an einen Vortrag erinnert, in dem ich mal saß. Wer hätte gedacht, dass sich so ein langweiliger Schulausflug mal auszahlen würde? Ich bin hier, um zu überprüfen, ob ich mit meinem Verdacht richtig liege.“
„Und wofür brauchst du dann mich?“
Okay, die Frage war berechtigt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ständig Zeit mit ihm verbracht. Wäre einfach ein Mädchen gewesen, das mit einem süßen Typen herumhing. Aber er war eine menschliche Fackel und konnte sich in das Bewusstsein eines toten Hundes einklinken, und sie hatte einen verschwundenen Bruder und einen Leguan. Normal sah echt anders aus.
„Die Vision kam von dir. Ich dachte, wenn wir etwas finden, löst das vielleicht weitere Erinnerungen aus, die uns Lucas näherbringen! Es ist einen Versuch wert, oder?“
„Ja, schätze schon.“ Er zuckte mit den Achseln und hielt den Kopf gesenkt, während er mit ihr redete, damit kein Licht auf sein Gesicht fiel. „Ich muss mich einfach wieder daran gewöhnen, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen, das ist alles.“
Ehe sie vom Haupteingang weiter zur Bibliothek liefen, hielt Rayne ihn auf, indem sie ihn am Arm berührte. Ausnahmsweise verbarg er sein Gesicht nicht vor ihr, und ein Lichtstrahl spiegelte sich in seinen hypnotischen honigbraunen Augen. Fast hätte Rayne das Atmen vergessen.
„Ich weiß, wie schwer das für dich ist.“ Sie schob ihre Hände in seine. „Danke für alles, Gabriel.“
„Noch hab ich nichts getan.“ Er grinste. „Ich hab ja noch nicht mal einen Bibliotheksausweis.
Sie kam einen Schritt näher.
„Ob du ein rechtschaffener Karteninhaberspießer bist, spielt hier keine Rolle. Man kann hier nicht leihen, so eine Art von Bibliothek ist das nicht. Außerdem ist mir sowieso nur wichtig, dass du überhaupt hier bist. Bei mir.“
Als sie ihm in die Augen sah, hatte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Ihre Angst um Lucas und die düsteren Gedanken, die die Suche nach ihm in ihr weckten, sprudelten an die Oberfläche. Nachdem sie über Nacht ihre Eltern verloren hatte, hatte sie der Gedanke, Lucas niemals wiederzusehen, am Boden zerstört. Die Suche nach ihm erinnerte sie daran, wie einsam ihr Leben geworden war. Wie auch Luke hatte Gabriel Geheimnisse, was seine Fähigkeiten betraf, aber er lebte sein Leben nach seinen eigenen Wünschen, ohne in einem Krankenhaus eingesperrt und mit Drogen vollgepumpt zu werden.
Alles an Gabe gab ihr einen Grund, nach vorne zu blicken. Sie hatte nicht alles verloren. Sie hatte Gabe, und vielleicht war Lucas ja gar kein hoffnungsloser Fall.
„Bevor ich dich kennengelernt habe, hatte ich kaum eine Chance, Luke in einer Stadt von der Größe L.A.s zu finden“, sagte sie. „Jetzt habe ich Hoffnung … dank dir.“
Sie ging auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. Seine Haut fühlte sich warm unter ihren Lippen an, und sie liebte seinen Geruch. Sein Gesicht lag zwar halb im Schatten, aber sie war ihm so nahe, dass sie trotzdem sehen konnte, wie er rot wurde. Sie musste lächeln.
„Rayne?“, fragte er leise.
„Ja?“
„Ich muss dich warnen. Ich halte Ausschau nach Sicherheitskameras und Leuten, die neugierig gucken, solches Zeug eben. Sobald wir da drin sind, werde ich anfangen, mich echt seltsam zu verhalten.“
„Und was genau ist dann der Unterschied zu jetzt?“ Sie vergrub beide Hände in seinem Sweatshirt, ließ sich gegen ihn sinken und kuschelte sich in seine Arme.
„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Rayne wollte für immer so mit ihm stehen bleiben, seinen warmen Körper spüren und seiner sanften Stimme zuhören, die nur sie hören konnte. Aber sie wusste, dass das hier nicht von Dauer war. In Gabriels Gegenwart hatte sie das Gefühl, dass jeder gemeinsame Augenblick mit ihm kostbar war.
Ihre Wege hatten sich aus einem Grund gekreuzt, doch eben dieser Grund würde eines Tages dafür sorgen, dass sie Gabriel für immer verlor. Selbst als sie jetzt zu ihm hochlächelte, nistete sich ein Anflug von Traurigkeit in ihrem Herzen ein und wollte nicht mehr weichen.
Im L.A. County Museum of Art gab es eine große Abteilung für Kunstrecherche. Rayne wusste das noch von einem Schulausflug, den sie vor langer Zeit ins Museum gemacht hatte. Ausnahmsweise hatte die Schule ihr also doch einmal genutzt.
In der Bibliothek suchte sie per Computer mit Keywords wie Wandgemälde, Jahrhundertwende und Los Angeles nach ersten Anhaltspunkten. Gabriel stand, seinen Rucksack über eine Schulter geworfen, hinter ihr, als sie mit der Recherche begann. Doch als sie sich in ihre Suche vertiefte, war er plötzlich fort. Sie sah sich um und konnte ihn nirgendwo entdecken.
Der Bibliotheksbereich des Museumsgeländes war in kleinere, thematisch spezialisierte Forschungsbereiche aufgeteilt, die in verschiedenen Flügeln untergebracht waren. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie Gabriel in dem Labyrinth aus Gängen verlieren. Sie schrieb sich Bücher heraus, in die sie einen Blick werfen wollte, und lief los, um sie herauszusuchen. Eines interessierte sie ganz besonders: ein Buch über Wandgemälde und Wandschmuck im Los Angeles County.
Es dauerte nicht lange, bis sie das richtige Regal gefunden hatte, doch das Buch war nicht dort. Sie sah auf die Katalognummer auf dem Zettel in ihrer Hand, um noch einmal zu überprüfen, dass sie vor dem richtigen Regal stand.
„Verdammt“, murmelte sie.
„Machst du etwa schon schlapp? Mimose.“
Sie erkannte Gabriels Stimme, aber als sie sich umsah, konnte sie ihn nirgends entdecken.
„Wo bist du?“
„Kein Wunder, dass du das Buch nicht findest“, flüsterte er. „Scheinbar bist du ja blind.“
Er stand einen Gang weiter und spähte sie durch die Bücherreihen hindurch an. Sie konnte nur seine umwerfenden Augen sehen.
„Du hattest recht“, sagte sie.
„Womit?“
„Dein Verhalten ist echt seltsam“, neckte sie ihn. „Oder sollte ich sagen, noch seltsamer als sonst?“
„Hast du was gefunden, was einen Blick wert ist?“
Außer dir? wollte sie sagen, aber sie biss sich auf die Zunge. Sie hatte keine Ahnung, wie man flirtete, aber Gabe gab ihr einen Grund, es probieren zu wollen.
„Ja, aber ich habe Probleme, meinen Favoriten zu finden.“
Sie blickte auf ihren Zettel und ging die Nummern auf den Buchrücken im Regal direkt vor ihr ein viertes Mal durch. Als sie wieder aufsah, war Gabriel verschwunden. Sie schob die Bücher beiseite und sah zwischen den Regalbrettern hindurch, aber er war weg.
„Hey, wo bist du …“
„Hier.“
Als sie seine tiefe Stimme direkt neben sich hörte, schrak sie zusammen. Der Typ bewegte sich so lautlos wie ein verdammter Geist. Das hatte er wahrscheinlich von Hellboy gelernt.
Grinsend stellte er seinen Rucksack ab und schnappte sich den Zettel aus ihrer Hand. Als er ihn ihr viel zu schnell wieder zurückgab, dachte sie schon, er hätte aufgegeben. Doch sie hatte sich geirrt. Schritt für Schritt lief Gabriel rückwärts das Regal entlang und fuhr mit den Fingerspitzen die Buchrücken nach. Er hatte beide Arme ausgestreckt, damit er die Regale auf beiden Seiten berühren konnte. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass sie wegen seiner hochgezogenen Kapuze wusste, dass er entweder seine eigenen Füße ansah oder die Augen geschlossen hielt, was noch seltsamer gewesen wäre.
Fast hätte Rayne einen Witz gemacht, aber als er langsamer wurde und ohne hinzusehen eine Hand nach oben schob, sagte sie kein Wort mehr. Dann zog er einen großen Bildband aus dem Regal und sah ihn an. Rayne stockte der Atem.
„Ist es das?“, fragte sie, ohne ihre Aufgeregtheit verbergen zu können.
„Pft, Quatsch. Für wen hältst du mich denn? David Copperfield?“
Sie zog eine Grimasse und boxte ihm in seinen stahlharten Arm. Der Typ hatte ihr mit seinem Magiergetue einen tierischen Schrecken eingejagt, aber als sie auf das Buch sah, das er ihr reichte, begann ihr Herz erst richtig zu rasen.
Das richtige Buch.
„Oh. Mein. Gott“, keuchte sie, und Gabriel lächelte. „Wenn deine Karriere als Trainer für tote Hunde nicht läuft, kannst du immer noch Hilfsbibliothekar werden.“
„Schön, einen zuverlässigen Plan B zu haben.“
Rayne wollte eigentlich noch andere Bücher heraussuchen, doch das, das sie in der Hand hatte, sah vielversprechend aus. Es waren viele Bilder darin. Sie nahm Gabriel beim Arm und wollte ihn zum nächstbesten Tisch ziehen, um die Seiten durchzublättern, aber er blieb stehen und rührte sich nicht von der Stelle.
„Nein, tut mir leid, aber die Tische sind mir zu ungeschützt. Ich bleibe hier zwischen den Regalen. Geh das Buch schnell durch.“ Er nahm ihr die Bücherliste ab. „Für den Fall, dass es dir nicht weiterhilft, suche ich diese hier heraus.“
„Und was, wenn ich etwas finde, das ich dir zeigen will? Wie soll ich dir signalisieren, dass ich mit dir reden will?“
Er lächelte. „Ich weiß nicht. Was für Kunststückchen kannst du denn? Gibt es irgendwas, das du nur machst, wenn du alleine zu Hause vor dem Spiegel stehst?“
„Komm schon, ich kann doch auch einfach hüsteln oder mich räuspern.“
„Langweilig.“ Er schüttelte den Kopf. „Total fantasielos. Null Punkte für deine Kreativität. Das kannst du doch besser.“
Sie starrte ihn wütend an und seufzte.
„Okay, es gibt da eine Sache, aber das werde ich nicht laut aussprechen.“
„Und wie soll ich es dann mitbekommen?“
„Glaub mir, das wirst du.“
Rayne wandte sich augenrollend ab, ohne auf seine Antwort zu warten. Kopfschüttelnd setzte sie sich an einen Tisch und schlug das Buch auf. Wegen Gabriels albernen Spiels war sie sich nicht mehr ganz so sicher, ob sie wirklich etwas finden wollte, dass ihr helfen würde, Luke aufzuspüren. Ja, sie brauchte einen Hinweis, aber jetzt musste sie sich zum Deppen machen, wenn Gabriel ihr helfen sollte. Das war total unfair!
Sie hatte nur ein einziges ungewöhnliches Talent, und zu dem hatte ihr ihr Leguan Floyd Zilla verholfen.
Das Inhaltsverzeichnis half ihr nicht viel, außer dass sie die Suche auf die dicke Mitte des Buches beschränken konnte. Sie blätterte die Seiten durch und ignorierte dabei alles, was nicht wie ein altes Wandgemälde aussah, das einen Bahnhof zeigte. Ein Abschnitt weckte ganz besonders ihr Interesse.
„Bingo“, flüsterte sie. Sie hatte ein Bild gefunden, das wie Gabriels Zeichnung aussah. Sie erkannte den Stil, aber sie musste seinen Skizzenblock sehen.
Doch das bedeutete leider, dass sie …
Oh weh. Rayne sah sich in der Hoffnung um, Gabriel irgendwo zu entdecken und herbeiwinken zu können, ohne ihr Versprechen halten zu müssen. Als sie ihn nirgendwo zwischen den Regalreihen finden konnte, stöhnte sie auf. Nur für dich, Luke. Sie legte ihre Finger neben den Mund, streckte ihre Lippen lang und ließ ihre Zunge dazwischen hervorschnellen. Einmal, zweimal.
Ihre Version der Echsenzunge.
Als sie Gabriel immer noch nicht entdeckte, wiederholte Rayne das Ganze und guckte dabei in verschiedene Richtungen. Sie ignorierte die schrägen Blicke, die ihr die anderen Bibliotheksbesucher zuwarfen. Erst als sie Gabriel hinter einem Bücherregal lachen hörte, wusste sie, dass sie mit dem peinlichen Theater aufhören konnte.
Gabriel hatte vergessen, wie es sich anfühlte zu lachen. Wirklich zu lachen. Dass er ausgerechnet in einer Bibliothek wieder daran erinnert wurde, war zwar nicht optimal, aber Rayne schaffte es, ihm für einen kurzen Moment das Gefühl zu geben, normal zu sein – auch wenn er wusste, dass er eigentlich nichts weniger war als das.
Von einer Sekunde auf die andere verschwand das Lächeln von seinem Gesicht.
„Was hast du gefunden?“ Er setzte sich mit gesenktem Kopf neben sie.
„Das hier“, erwiderte sie. „Ist es dasselbe?“
Sie schob ihm den Bildband hin und zeigte ihm eine Seite, auf der ein großes Wandgemälde abgebildet war, das auf Ziegelsteine aufgetragen war. Mein Wandgemälde. Blitzartig kehrten die Visionen zurück. Die Eindrücke waren so stark, dass er die Augen schließen musste, es war fast schmerzhaft. Feuchte Kälte überzog seine Haut, und Schatten umwölkten seinen Verstand, als wäre er in eine andere Realität eingetreten. Er konnte dieses seltsame Gefühl nicht genau benennen, außer, dass es ihn … an eine Höhle erinnerte.
Ohne Rayne zu antworten, öffnete er seinen Rucksack und holte den Skizzenblock heraus. Als er die richtige Seite gefunden hatte, machte er große Augen. Die Details waren unfassbar genau, und doch hatte er das echte Wandgemälde niemals gesehen! Er hatte nicht einmal gewusst, dass es existierte, und trotzdem hatte er es gemalt.
Rayne schien gespannt auf seine Antwort zu warten. Für sie war das hier ein Schritt in Richtung ihres Bruders. Für ihn war es nichts weiter als eine Erinnerung daran, was für ein Freak er war – und was für ein abgefuckter Loser er noch immer sein würde, wenn sie schon längst in ihr normales Leben zurückgekehrt war.
Er hatte das hier nie gewollt. Nichts davon.
„Also?“, fragte sie.
„Genau das ist es.“
Rayne schnappte sich das Buch und las vor.
„Wusstest du, dass es unter der Innenstadt von L.A. Tunnel gibt?“ Sie schüttelte den Kopf und schien gar keine Antwort von ihm zu erwarten. „Insgesamt elf Meilen. Aber was hat das mit Lucas zu tun?“
„Keine Ahnung, aber gerade …“ Er schluckte und wich ihrem Blick aus. „Ich hatte das Gefühl, dass ich … in einer Höhle bin.“
„Oder einem Tunnel?“
„Ja, könnte sein.“ Er nickte und deutete ein Achselzucken an.
„Wir müssen diese Tunnel suchen, Gabriel. Wir müssen dorthin.“
„Elf Meilen sind ziemlich viel.“
„Ja, aber vielleicht kann Hellboy uns helfen.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ich habe eine Taschenlampe am Motorrad. Im Buch wird beschrieben, wie man zu den Tunneln kommt. Ich glaube, ich weiß, wo wir hinmüssen. Wir könnten sofort aufbrechen.“
Ehe er antworten konnte, warf Rayne einen erstaunten Blick in Richtung Aufsichtsplatz. Sie sah nicht sonderlich glücklich aus.
„Was macht die denn hier?“, murrte sie und nutzte Gabriel wie einen Schild, hinter dem sie sich versteckte.
„Wer?“ Gabe sah auf und entdeckte eine Frau am Informationstresen. Sie sah nach Hollywood aus. Nicht ein Haar war fehl am Platz, elegante Klamotten und ein bildhübsches, stark geschminktes Gesicht.
„Meine Schwester Mia“, sagte sie und spähte über seine Schulter. „Sie spioniert mir nach, weil sie glaubt, dass ich Lucas verstecke.“
„Und warum glaubt sie so was?“
„Lange Geschichte.“
Gabe hatte keine Zeit für lange Geschichten. Nicht hier, nicht jetzt. Er hatte seine Geheimnisse, und Rayne hatte offensichtlich ihre.
„Ich habe dir nicht alles über meine Familie erzählt“, gestand sie. „Das ist alles kompliziert.“
Gabe gefiel nicht, was sie da sagte. Ohne nachzudenken, stopfte er den Bildband in seinen Rucksack neben den Skizzenblock. Dann schob er sich den Rucksack über die Schulter, nahm Rayne bei der Hand und zog sie hinter das nächste Bücherregal.
„Ich höre.“ Er verschränkte die Arme und starrte sie an.
„Meine Eltern sind tot, und meiner Schwester traue ich nicht über den Weg.“ Sie seufzte. „Und Lucas tut es auch nicht. Er hat mir gesagt, dass sie ihm wegen irgendwas unheimlich ist, und das Krankenhaus, in das sie ihn hat einweisen lassen, auch.“
„Whoa, Moment mal. Dein Bruder … was für ein Krankenhaus?“
„Ja, also, was das betrifft … Lucas ist aus einer psychiatrischen Anstalt getürmt. Haven Hills.“
Gabriel verdrehte die Augen und seufzte tief.
„Es war gar nicht nötig, dass man ihn da eingeliefert hat.“ Rayne zuckte mit den Achseln. „Er ist einfach nur anders.“
„Danke für die Erklärung, Dr. Freud. Wann hast du deinen Abschluss in Psychologie gemacht?“
„Du kennst ihn nicht“, wandte sie ein. „Und was ist das überhaupt für eine Einstellung? Aufpassen, sonst stirbst du noch an einer Überdosis Ironie. So richtig normal bist du nämlich selbst nicht, Gabriel.“
„Touché.“ Er zog seine Kapuze tiefer und wich ihrem Blick aus.
„Mia arbeitet für eine Kirche, die das Krankenhaus finanziert, in das Lucas eingeliefert wurde. Ich glaube, dass sie Informationen über diese Kirche vor Lucas und mir verheimlicht. Wie gesagt, es ist kompliziert.“
„Was ist das für eine Kirche?“
Rayne sah ihn scharf an. Seine Frage brachte sie aus dem Konzept. Der Name der Kirche hätte die meisten Leute am Gabes Stelle gerade wohl am wenigstens interessiert.
„Die Church of Spiritual Freedom. Warum?“
„Los, komm. Wir müssen weg hier“, sagte er. „Und keine Fragen, du hast es versprochen.“
Sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle. Hastig ging Gabe ihre Situation durch. Die Tischgruppe, an der Rayne gesessen hatte, wurde von zwei großen Regalreihen flankiert. Der Bereich war zu offen gewesen, weswegen er zwischen den Regalen in Deckung gegangen war. Jetzt gab es nur noch zwei Gänge, in denen sie sich verstecken konnten. Der eine führte zum Hauptausgang, der andere zu einem Notausgang. Und beide führten am Informationstresen vorbei. Ungesehen würden sie hier nicht rauskommen. Sie waren eingekesselt.
Sie brauchten eine Ablenkung, und zwar schnell. Er brauchte eine Ablenkung.
Es tat ihm weh, so zu denken, aber es musste sein. Es war einfach nicht richtig, Rayne in sein verkorkstes Leben mit hineinzuziehen. Er hatte zwar gehofft, dass es nicht so kommen würde, aber er hatte sie von Anfang an gewarnt, dass er vielleicht ganz plötzlich und ohne ein Wort verschwinden und seine Sachen im Zoo einfach zurücklassen würde. Auch wenn er nicht wirklich damit gerechnet hatte, dass der Augenblick so bald kommen würde, war er wie ein Schachspieler in Gedanken alle möglichen Szenarien im Vorhinein durchgegangen, so wie er es immer tat. Deswegen hatte er einen Plan B. Und Rayne kam nicht in ihm vor.
Ohne ihn war sie besser dran. Wenigstens wusste sie jetzt, wo sie mit der Suche nach ihrem Bruder anfangen sollte – in den Tunneln unter Los Angeles. Das musste reichen.
Zu ihrem eigenen Besten musste Gabe sie im Stich lassen. Sofort!