10. KAPITEL

Mia bog rechtzeitig hinter ihrer Schwester auf einen Parkplatz auf dem Gelände des L.A. County Museum of Art ab, um beobachten zu können, wie Rayne zusammen mit dem Jungen in einem der kleineren Museumsgebäude verschwand. Da die Sonne gerade unterging, hatte das Licht gegen Mia gespielt und die Nachtsichtfunktion ihrer Hightech-Überwachungsausrüstung beeinträchtigt. Sie hatte gehofft, sich Sicherheit verschaffen zu können, dass es sich bei dem Jungen, der Rayne begleitete, wirklich um Lucas handelte. Doch durch ihr Fernglas konnte sie bei diesen Bedingungen kaum etwas erkennen.

Was für einen Grund konnte Rayne haben, Lucas hierherzubringen?

Mia stieg aus dem Lexus und bugsierte sich in eine bessere Position, um den Jungen heranzuzoomen und ein Video von ihm zu machen, aber er hatte seine Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass er nicht zu erkennen war. Nachdem sie die Aufnahme beendet hatte, konzentrierte sich Mia auf ihre Schwester und folgte ihr in sicherem Abstand. Im Augenblick hatte sie keine weiteren Ziele, als Lucas zu identifizieren. Wenn er es war, würde sie sich den beiden zu erkennen geben.

Mia kannte das Museum zwar, doch in diesem Nebengebäude war sie noch nie gewesen. Rayne hatte einen Bogen um die großen Ausstellungsräume, den Hörsaal und das Café gemacht. Stattdessen hatte sie den entgegengesetzten Weg zur Bibliothek eingeschlagen. Mia folgte ihr in die gedämpfte Atmosphäre des Gebäudes, blieb neben dem Informationstresen stehen und suchte die Gesichter der Leute im Inneren ab. Ihr Herz schlug jedes Mal schneller, wenn sie jemanden sah, der sie an Rayne oder Lucas erinnerte.

Sie wollte fast schon aufgeben, da entdeckte sie zwischen den Bücherregalen einen Schatten, der sich bewegte. Das musste sie sich genauer ansehen.

„Bitte, lass es Lucas sein“, flüsterte sie.

Sie saßen in der Klemme. Es gab nur zwei Regalreihen, die ihnen Schutz boten, und egal, für welchen Ausgang sie sich entschieden – sie würden Mia in die Arme laufen. Rayne sah keinen Ausweg. Wenn ihre Schwester in der Nähe des Empfangstischs blieb, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sie entdeckte. Gabe zuliebe musste Rayne das verhindern. Er hatte ihr doch nur helfen wollen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ein Kreuzverhör mit ihrer Schwester, die über alles und jeden urteilte und ständig ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen.

„Ich schwöre, dass ich keine Ahnung habe, was sie hier macht. Sie fährt seit einer Weile total drauf ab, mir hinterherzuspionieren. Ich werde mit ihr reden und sie fragen, was sie hier will“, bot Rayne an, während sie Mia aus ihrer Kauerstellung zwischen den Regalen durch die Bücherreihen hindurch beobachtete. „Diesmal hat sie wenigstens keine Polizei im Schlepptau.“

„Cops. Na toll.“ Er verzog das Gesicht.

„Ich lenke sie ab, dann hast du die Möglichkeit, dich hier rauszuschleichen. Sie ist ja nicht hinter dir her. Immerhin kennt sie dich gar nicht“, sagte Rayne. „Wenn sie mich nicht zwingt, mit ihr zu kommen, können wir uns draußen bei meinem Motorrad treffen, sobald ich sie los bin.“

„Ja, okay.“

Gabriels Zustimmung kam viel zu schnell. Wie er da so neben ihr kauerte und sein Blick zwischen Mia und dem Ausgang hin und her zuckte, wirkte er total geistesabwesend. Er stellte keine Fragen nach den Cops und wollte auch nicht wissen, warum sie glaubte, sich vor ihrer eigenen Schwester verstecken zu müssen. Rayne hatte ein ziemlich ungutes Gefühl, was seine Gründe betraf. Vertrauen. Alles lief auf Vertrauen hinaus, und sie war sich nicht mehr sicher, ob Gabriel wirklich auf dem Parkplatz auf sie warten würde. Der Typ war immerhin ein echter Profi im Verschwinden.

„Gabriel? Sieh mir in die Augen und sag mir die Wahrheit.“

Er zuckte mit den Achseln. Es schien ihm schwerzufallen, zu tun, worum sie ihn gebeten hatte. „Was?“

„Wenn ich sie für dich ablenke, wartest du dann draußen auf mich?“ Sie legte eine Hand auf seine Schulter. „Du weißt, wie wichtig mir das hier ist. Lucas steckt in Schwierigkeiten. Ich weiß es, und ich glaube, du weißt es auch. Wenn du sagst, dass du dort sein wirst, dann glaube ich dir.“

Noch während sie die Worte sagte, zweifelte Rayne daran, dass sie sie auch so meinte.

Rayne hatte eine Art, ihm in die Augen zu sehen, die die Wirkung eines Lügendetektors hatte. Gerade wirkte sie verletzt. Gabe war sich nicht sicher, ob sie ihm irgendetwas von dem, was er gesagt hatte, abkaufte. Er mochte dazu in der Lage sein, eine innere Verbindung zu seinem Geisterhund aufzubauen, aber Rayne besaß dieselbe Begabung in Bezug auf lebendige Menschen – und gerade wusste er dieses Talent nicht unbedingt zu schätzen.

Sie hatte ihm klargemacht, dass sie ahnte, dass er Mist erzählte, und jetzt wollte sie, dass sie ihm eine Antwort gab, die ihm eigentlich leicht hätte fallen sollen. In einem anderen Leben hätte er nicht mal gezögert.

Er hatte versprochen, ihr bei der Suche nach Lucas zu helfen. Konnte er sie jetzt belügen, auch wenn es zu ihrem eigenen Besten war? Ja, sie im Stich zu lassen würde ihr letztendlich nur helfen. Aber was war mit ihrem Bruder? Lucas hatte das eindeutige Gefühl, dass der Junge in echten Schwierigkeiten steckte. Geheimnisse zu haben und Dinge zu verschweigen war eine Sache. Aber Rayne ins Gesicht zu lügen, wenn sie ihn brauchte, fühlte sich echt beschissen an.

Wollte er wirklich „dieser Typ“ sein, ein Lügner, dem alles egal war? Nein. Seine Antwort musste Nein lauten, wenn er sich nicht in ein völliges Arschloch verwandeln wollte.

„Es gibt ein paar Sachen, die du nicht über mich weißt“, sagte er. „Ich kann nicht riskieren, dass mich deine Schwester in Schwierigkeiten bringt. Falls sie das nicht schon längst getan hat.“

„Was? Aber …“

Er legte ihr einen Finger auf die Lippen.

„Tut mir leid. Aber ich muss vom Schlimmsten ausgehen. Wenn sie dich hier gefunden hat, ist sie uns möglicherweise seit dem Griffith Park gefolgt. Ich muss annehmen, dass mein Versteck aufgeflogen ist. Ich kann nicht mehr dorthin zurück.“

Rayne schwieg und sah elend aus. Er hatte keine Ahnung, was ihre Schwester ausrichten konnte, aber das spielte auch keine Rolle. Er musste auf Nummer sicher gehen.

„Ich hab dich echt in Schwierigkeiten gebracht, oder?“

„Das ist nicht deine Schuld.“ Er nahm ihre Hand. „Vertraust du mir?“

Ein zögerliches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, und sie nickte. Ein Funke Hoffnung war in ihre Augen zurückgekehrt, aber diesmal musste er ihr Vertrauen zurückgewinnen, indem er ihr zeigte, dass er es verdient hatte.

„Ganz egal, was passiert, ganz egal, was du siehst. Mach dich bereit, von hier zu verschwinden, und bleib dicht bei mir.“

Als Gabe zum Informationstresen hinüberschaute, entdeckte er, dass Raynes Schwester direkt auf sie zukam. In ein paar Sekunden würde sie ihnen den Ausweg versperren. Wenn sie die Bücherregale absuchte, hatten sie keinen Ort mehr, an dem sie sich verstecken konnten. Was auch immer er vorhatte – er musste es jetzt tun.

Gabe ließ Rayne los und lenkte sie ab, indem er flüsterte: „Sie kommt.“

Als sie sich umdrehte, um nach ihrer Schwester zu sehen, stand er auf und hastete geduckt in den nächsten Gang. Im Griffith Park hatte sie beobachten können, wie er sich verwandelte. Wie sich seine rasende Wut aufbaute und er in einen Rausch verfiel, sobald er sie freigab. Er hatte in Raynes Augen sehen können, wie große Angst sie vor ihm gehabt hatte.

Jetzt, wo er die Wahl hatte, wollte er nicht, dass sie mit ansah, welches Grauen er heraufbeschwören musste, um seine Fähigkeiten nutzen zu können. Er schlich sich in die am weitesten entfernte Ecke des Raums und ließ seinen Rucksack neben seine Füße fallen. Dann schloss er die Augen und beugte die Arme, um den Zorn zu erwecken, der ihn antrieb. So schnell hatte er ihn noch nie herbeigerufen.

Sekunden. Er hatte nur Sekunden.

Als die Lichter zu flackern begannen und Rayne das Wackeln des Bodens unter ihren Füßen spürte, schwappte eine vertraute Panikwelle durch sie hindurch. Ein Erdbeben. Das Timing von Mutter Natur war echt zum Kotzen. In L.A. kam es immer wieder zu Erschütterungen, Rayne hatte es schon oft genug erlebt. Sie suchte nach einem sicheren Ort, an dem sie sich verstecken konnte, und streckte die Hand nach Gabe aus, um ihn mit sich zu ziehen, doch er war fort.

Einfach verschwunden.

„Gabriel?“, flüsterte sie, doch es kam keine Antwort.

Als sie sich umdrehte, entdeckte sie hinter sich ein heftiges, unruhiges Glühen. Die Speere aus blauem Licht blendeten sie fast und schossen wie eine Lasershow zwischen den Büchern hindurch. Doch als sie genauer hinsehen wollte, was dort vor sich ging, krachte ihr ein Buch auf die Schulter. Rayne zuckte zusammen, fluchte und hob schützend die Arme über den Kopf. Die Regale wackelten, und ihr Inhalt prasselte auf den Boden. Wenn Rayne nicht schnell handelte, riskierte sie, unter einem schweren Regal voller Bücher begraben zu werden.

Doch dann, ganz plötzlich, packte sie eine Furcht, wie sie sie noch nicht erlebt hatte. So große Angst hatte sie nicht einmal gehabt, als diese Idioten sie durch den gruseligen Tunnel im Zoo gejagt hatten. Noch seltsamer war, dass sie auf einmal so wahnsinnigen Hunger hatte, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. In ihren Augen brannten Tränen, und ihr Bauch wurde steinhart. Sie hatte keine Ahnung, woher all diese Gefühle und die merkwürdige Heißhungerattacke plötzlich kamen. Am liebsten hätte sie sich einfach zusammengerollt und geheult, aber es gab etwas, das sie zwang, gegen das anzukämpfen, was plötzlich Besitz von ihr ergriffen hatte.

Gabriel.

Als sie Glas zerbersten und Menschen schreien und davonrennen hörte, wagte sie es, vorsichtig aufzublicken. Sie musste ihn finden, aber was sie sah, verwirrte sie. Die Glastüren am Museumseingang waren zerborsten, überall auf dem Fliesenboden lagen Glasscherben herum. Doch was sie wirklich schockte, war etwas anderes.

Hunde und Katzen aller Größen und Rassen liefen durch das Museumsgebäude. Sie sprangen über die Stühle, rempelten gegen die Tische und bellten und miauten in einem ohrenbetäubenden Chor. Tauben flatterten durch den Raum und suchten nach Deckung. Die Tiere hätten eigentlich in die entgegengesetzte Richtung flüchten müssen, weg von der Gefahr. Doch stattdessen rannten sie darauf zu, als hätten sie gar keine andere Wahl. Die Szene erinnerte Rayne an das, was Gabriel und Hellboy in der Nacht zuvor in den Tunneln bewirkt hatten, nur dass das hier viel chaotischer wirkte. Hatte Gabriel die Tiere in die Bibliothek gelockt?

Er schien das Geschehen nicht mehr unter Kontrolle zu haben, jedenfalls nicht so wie im Griffith Park, als Rayne dabei gewesen war. Ihre Panik wurde noch größer. Mia kauerte neben dem Empfangstisch und klammerte sich gelähmt vor Angst an eine andere Frau. Irgendwo hörte Rayne das Bellen, Knurren und Winseln eines großen Hundes. Die Geräusche zerrten an ihren Nerven wie ein Free-Jazz-Konzert, aber es war nicht das Gekläffe allein, das sie so stresste.

Zwei Männer kämpften miteinander und prügelten sich gegenseitig blutig. Warum? Wie konnte es sein, dass sie die Gefahr ignorierten und aufeinander losgingen, anstatt sich in Sicherheit zu bringen? Die ganze Situation erinnerte an eine Szene in einem schlechten Katastrophenfilm. Die Leute in der Bibliothek wirkten entweder zu geschockt, um zu handeln, oder sie waren von blinder Wut oder einem unerklärlichen Wahnsinn besessen. Sie hätten wegrennen sollen, aber sie taten es nicht.

Was auch immer hier los war, Rayne konnte es ebenfalls spüren.

Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand irgendeine schräge Droge verabreicht und sie in eine Paralleldimension katapultiert. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Angst empfunden. Ein Teil von ihr wollte so weit weglaufen wie möglich, aber sie konnte Gabriel nicht im Stich lassen. Nicht, nachdem er so viel für sie geopfert hatte. Sie nahm seine Kräfte wahr, die jedes Haar auf ihrem Kopf vor Energie kribbeln ließen. Doch das andere Gefühl war viel stärker. Ihr drehte sich der Magen um. Wenn der Hund nicht bald aufhörte zu kläffen, würde sie sich übergeben.

Atmen. Einfach ganz ruhig weiteratmen.

Zitternd kroch Rayne auf die nächste Regalreihe zu. Das blaue Laserlicht begann heller zu pulsieren, es wirkte fast so, als würde es atmen.

Unter dem Licht der flackernden Deckenlampen hatte sich die gesamte Bibliothek in eine Stroboskopshow des Irrsinns verwandelt. Rayne musste Gabriel finden. Sie musste wissen, dass es ihm gut ging. Während sie auf den Rand der Regalreihe zu kroch, um im nächsten Gang nach Gabe Ausschau zu halten, ließ die kinetische Energie ihre Augen tränen und ihren Körper wie unter Nadelstichen schmerzen.

Je näher sie kam, desto schlechter fühlte sie sich. Ihr wurde immer übler, und der aufgeregte Hund wurde immer lauter. Der Anblick, der sich ihr offenbarte, als sie um die Regalecke spähte, ließ sie vor Schreck zusammenfahren. Der Hund, der so verzweifelt jaulte, war Hellboy! Er kratzte am Boden herum und sprang auf und ab, als würde er versuchen, sich aus einem unsichtbaren Gefängnis zu befreien. Diesmal stand er nicht in eisigen Flammen. Seine geisterhafte Silhouette wurde durch Wolken erzeugt, die in regelmäßigen Abständen zu einem feinen Nebel verpufften. Wo auch immer Gabriel war – Hellboy wurde durch ein unsichtbares Hindernis von ihm getrennt.

Und dann entdeckte Rayne ihn. Sein Anblick entsetzte sie so sehr, dass ein seltsamer, gequälter Laut aus ihrer Kehle drang. Gabe stand einige Meter hinter Hellboy, und sein Körper zuckte, als hätte er einen Krampfanfall. Seine schönen Augen waren nach hinten gerollt. Er war ganz alleine, eingehüllt in tosende blaue Flammen, und er sah aus, als würde er jede Sekunde unter dem Gewicht der Kraft, die ungebremst durch ihn hindurchrauschte, zusammenbrechen. Irgendetwas war hier ganz gewaltig schiefgelaufen. Rayne ignorierte ihren Drang, davonzulaufen, und ihre Angst vor Hellboy, und sprang auf die Füße. Dann rannte sie zu Gabe und griff mit ihren bloßen Händen und Armen durch die blauen Flammen hindurch nach ihm.

Die Kälte des Feuers schmerzte fürchterlich, und Raynes Angst nahm ein bisher ungekanntes Ausmaß an, aber sie ließ Gabe nicht los.

„Gabriel. Kannst du mich hören?“ Sie tat ihr Bestes, ihn aufrechtzuhalten, aber er war einfach zu schwer.

Sie schwankte unter seinem Gewicht und ließ ihn zu Boden sinken, aber seine Zuckungen wollten auch im Liegen nicht weniger werden. Er warf sich hin und her und murmelte dabei Worte, die sie nicht verstand. Eine merkwürdige Hitze vermengte sich mit der Kälte, die von seinem Körper abstrahlte, als wäre er eine Energiequelle, die auch Rayne erfasste. Sie legte sich Gesicht an Gesicht neben ihn und hielt ihn fest, sog seinen keuchenden Atem auf, als könne sie ihn so von seinen Schmerzen befreien. Sie wusste nicht, ob er noch bei ihr war. Was für eine Macht auch immer von seinem Körper ausging: Sie hatte ihn überwältigt und drohte, ihn zu verschlingen.

„Ich bin bei dir, und ich werde dich nicht verlassen.“ Rayne war sich nicht sicher, ob Gabriel sie hören konnte, aber sie hörte nicht auf, mit ihm zu sprechen. „Bleib bei mir, bitte!“

Das Adrenalin, ihre gewaltige Angst und ein unkontrollierbarer Drang bewegten Rayne dazu, etwas absolut Unerwartetes zu tun: Sie küsste Gabriel. Es war kein schüchterner erster Kuss. Sie zog ihn an sich, als hätten sie schon tausendmal miteinander rumgemacht, und presste ihre Lippen hart auf seine. Im ersten Moment reagierte er gar nicht. Die Zuckungen hatten ihn noch immer fest im Griff, aber nach ein paar Sekunden entspannte sich sein Körper etwas, und Gabe hörte auf, sich gegen Rayne zu wehren. Sie küsste seine Lippen, seinen Hals, selbst seine Augenlider, bis er in ihren Armen zusammensank und die Krämpfe aufhörten.

Rayne blickte in sein schlaffes Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, und er ruhte mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Er bewegte sich nicht mehr, sie war nicht einmal sicher, dass er noch atmete.

„Gabriel?“ Ihr standen Tränen in den Augen. „Geht es dir … gut?“

Der Lärm in der Bibliothek drang jetzt nur noch gedämpft zu ihr durch. Die Stimmen, die Tiere, die Alarmglocke, all das wurde ausgeblendet. Selbst Hellboys Anwesenheit war ihr nicht mehr bewusst. In ihrem Kopf gab es nur noch Gabriel.

Blinzelnd öffnete er die Augen, als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht. Als er Rayne erkannte, hob er einen Arm und strich ihr mit zitternden Fingern übers Gesicht und durch ihr Haar. Er wirkte erschöpft, doch ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er ihr mit schläfrigem Blick in die Augen sah. Wenn es nach Rayne gegangen wäre, hätte dieser Moment ewig andauern können, hätte sie für immer dieselbe Luft eingeatmet wie Gabe und seine tröstlichen Berührungen und seinen Körper an ihrem gespürt.

„Was … ist passiert?“, fragte er heiser.

So eine einfache Frage. Sie wollte ihn wieder küssen, diesmal ganz von selbst, ohne unter Kontrolle der Kraft zu stehen, die er entfesselt hatte. Doch jetzt unterlag sie einem ganz anderen Einfluss – einem, der aus ihr selbst stammte. So sehr sie Gabe auch festhalten und in Tränen ausbrechen wollte, weil sie so glücklich war, dass er noch lebte – sie widersetzte sich dem Drang. Etwas Grauenhaftes war geschehen. Sie musste sich darauf konzentrieren, ihn an einen sicheren Ort zu bringen, der nicht der Griffith Park war.

Sie musste wiedergutmachen, was sie ihm angetan hatte.

„Gute Frage.“ Sie lächelte und gab ihm einen schnellen Kuss.

„Wofür war der denn?“, fragte er, während er versuchte, sich aufzusetzen. „Nicht, dass ich meckern will.“

Oh, mein Gott. So wie er sie ansah, konnte er sich gar nicht an den ersten Kuss erinnern. Na ja, wenigstens sie fand ihn absolut unvergesslich. Rayne reagierte mit einem Achselzucken. Wie sollte sie ihm diesen Kuss erklären, wo sie ihn doch selbst nicht mal richtig verstand?

Etwas an Gabriel – und an ihr selbst – weckte den Wunsch in Rayne, ihn zu beschützen. Mittlerweile lag es nicht mehr alleine an seiner Verbindung zu Lucas, dass sie so besessen von ihm war. Alles an ihm verwirrte sie. Sie streifte ihm die Kapuze über und verbarg sein Gesicht darunter, so gut es eben ging.

„Kannst du aufstehen? Wir müssen weg hier.“

„Ich glaub schon.“

Auf wackeligen Beinen stand er auf, doch er brauchte ihre Hilfe. Er legte einen Arm um ihre Schultern und ließ sich stützen. Langsam liefen sie den mit Büchern übersäten Gang entlang, der von streunenden Katzen und einem übellaunigen Chihuahua bevölkert wurde.

„Tritt nicht in die Taubenscheiße“, warnte sie Gabe.

„Guter Tipp.“

Hellboy war verschwunden. Sie sah und hörte nichts mehr von ihm, und Gabriel sprach sie auch nicht auf den Hund an. Die Fragen, die Rayne zu Hellboys Rolle in dem Ganzen hatte, würden warten müssen.

Als sie das Ende der Regale erreicht hatten, spähte Rayne um die Ecke nach ihrer Schwester. Mia wirkte verwirrt und half gerade einer anderen Frau auf die Beine. Die beiden wurden durch die zwei Männer abgelenkt, die auf dem Boden miteinander rangen und wild um sich schlugen. Rayne hatte nur Sekunden, um Gabe hier wegzuschaffen.

„Lauf, jetzt“, befahl sie ihm.

Rayne drehte sich nicht mehr um, sondern betete einfach mit angehaltenem Atem, dass ihre Schwester sie nicht bemerken würde, wenn sie das Gebäude verließen. Sie half Gabe zu der inzwischen offenstehenden Seitentür. Das schrille Geräusch, das schon die ganze Zeit durch die Bibliothek gellte, stammte von dem Alarm, der durch das Öffnen des Notausgangs ausgelöst worden war. Eilig schob sie Gabe durch die Tür in die kühle Nachtluft hinaus. Als sie die Dunkelheit hinter der Außenbeleuchtung erreichten, atmete sie erleichtert auf. Die Cops waren schon da. Die rotblauen Lichter der Polizeifahrzeuge blinkten vor dem Haupteingang und durchschnitten den dunklen Himmel. Sie mussten weg hier, ehe sie verhört wurden.

„Ich weiß, dass ich dir nicht viel Grund gegeben habe, mir zu vertrauen, Rayne. Nach dem, was da drinnen passiert ist, weiß ich nicht mal mehr selber genau, ob Verlass auf mich ist. Aber ich will dir helfen, Lucas zu finden.“

Sie nickte und beobachtete, wie er nach Worten suchte. Er schien mehr sagen zu wollen, und sie wartete geduldig ab. Alle Zweifel, die sie an ihm hatte, waren unter dem Gewicht ihres unerklärlichen Bedürfnisses, sich um ihn zu kümmern, verschwunden. Etwas an diesem Ausreißer fühlte sich wichtig an, und dass er eine Verbindung zu Lucas hatte, machte Rayne die Entscheidung leicht, ihm ihr Vertrauen zu schenken.

„In meinem augenblicklichen Zustand bin ich eine Gefahr für mich … und dich, wenn du bei mir bleibst.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich könnte sogar schädlich für deinen Bruder sein. Das Problem ist, dass ich Antworten brauche. Ich muss wissen, was gerade mit mir passiert.“

„Und wie willst du das anstellen?“

„Es gibt einen Ort, an den ich gehen kann. Aber ich habe noch nie jemanden mitgenommen. Es könnte schwierig werden.“

„Dann willst du also nicht, dass ich mitkomme?“

„Nein, das habe ich nicht gesagt.“ Er nahm ihre Hand. „Aber ich lasse dir die Wahl.“

Ehe er weitersprechen konnte, drückte sie seine Hand. „Dann bin ich dabei.“

Er wirkte besorgt und hatte Probleme, ihr in die Augen zu sehen. Eigentlich hätte sie gerade eine Menge Fragen haben müssen, aber ihr fiel nur eine ein.

„Gibt es dort etwas zu essen? Ich verhungere nämlich gleich.“

„Mal sehen. Ich glaub, ich könnte dir zumindest ein Erdnussbuttersandwich schnorren.“ Er lächelte und küsste sie auf die Wange. „Ich glaube, ich muss mich bei dir bedanken.“

„Falls es dir hilft: Ja, ich hab ganz schön was bei dir gut.“ Sie grinste, hörte aber gleich wieder auf, als sie den verunsicherten Ausdruck auf seinem Gesicht sah.

„Ich weiß nicht, was da drinnen passiert ist.“ Gabriel wurde ernst. Er sah sogar verängstigt aus. „Seit ich die erste Vision von deinem Bruder hatte, fühlen sich meine … Ausflüge seltsam an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Fähigkeiten noch unter Kontrolle habe. Und deswegen will ich, dass du dir ganz genau überlegst, ob du mit mir kommen willst.“

„Was meinst du damit?“

„Ich habe Hellboy diesmal nicht gebraucht. Es ist alles so schnell gegangen, aber ich bin mir sicher, dass ich ihn nicht gespürt habe, und ich war definitiv nicht in seinem Bewusstsein.“

„Aber ich dachte, dass er dir deine Kraft verleiht. Passiert nicht alles mit seiner Hilfe?“ Rayne versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Die blauen Flammen hatten Gabriel in der Bibliothek verschlungen. Wenn er Hellboy nicht gespürt und ihn nicht benutzt hatte, um seine Fähigkeit zu erwecken, dann musste das seltsame kalte Feuer immer schon von ihm selbst ausgegangen sein.

Gabe sah sie lange an, dann schüttelte er den Kopf.

„Ich weiß nicht, womit ich mich da drinnen verbunden habe, aber ich glaube, dass dein Bruder damit zu tun hat. Ich habe andere Menschen spüren können, die aus meinem Skizzenblock. Es ist … als ob sie ein Teil von mir geworden sind, den ich nicht mehr loswerde. Als hätte ich die Hand ausgestreckt und etwas hätte sie ergriffen. Es wollte mich einfach nicht mehr loslassen.“

Rayne berührte seinen Arm.

„Hast du Lucas gespürt? Denn er würde dir niemals wehtun, Gabriel. Ich kenne ihn.“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich verstehe das nicht. Wenn es dir geschadet hat, wie kann es dann mit Lucas zusammenhängen?“

Sie war wie gelähmt. Sie stand auf dem Parkplatz neben ihrer Harley und sah zu Gabriel hoch. Sie hatte doch einfach nur Lucas finden wollen! Aber wenn Gabriel recht hatte, dann hatte ihn seine Verbindung zu Lucas möglicherweise dazu gebracht, eine Grenze zu überschreiten, hinter der es kein Zurück mehr gab. Seine geistige Verbindung zu ihrem verschwundenen Bruder hatte etwas in ihm ausgelöst – etwas Gefährliches.

Was würde passieren, wenn er wirklich die Kontrolle darüber verlor?

„Ich weiß auch nicht, was ich davon halten soll, Rayne. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber das hier war wichtig. Und es hat mir nicht gefallen. Überhaupt nicht. Er war, als ob all die Gesichter in meinem Skizzenblock plötzlich zum Leben erwacht wären. Als würde ich sie alle kennen.“

Als sie sich die Zeichnungen vor Augen rief, fühlte auch sie sich von den Gesichtern darin verfolgt.

„Oh, verdammt“, keuchte Rayne. „Dein Skizzenblock.“

„Was?“

„Dein Rucksack! Wo ist er?“

Gabe starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte in fassungslosem Schweigen den Kopf. Sie beide kannten die Antwort. Wortlos wandten sie sich dem Museum zu, vor dessen Eingang gerade ein weiterer Streifenwagen vorfuhr. Sie konnten auf keinen Fall wieder hinein.

Nicht jetzt.

Dr. Haugstad lenkte ihren Mercedes den Wilshire Boulevard hinab. Für den Fall, dass sie den Jungen fanden, hatte sie zwei von Alexanders Männern mitgebracht. Einer von ihnen saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und versuchte, die GPS-Daten auszuwerten, die sie ihm von der kleinen Darby gegeben hatte. Die Koordinaten stammten von Mias Handy, aber das Gelände des L.A. County Museums war so groß, dass es schwierig werden würde, ihren genauen Aufenthaltsort zu bestimmen. Doch dann entdeckte Fiona die flackernden Lichter mehrerer Polizeifahrzeuge. Sie verschwendete keine Zeit damit, nach einem legalen Parkplatz zu suchen, sondern folgte einem Krankenwagen direkt auf das Museumsgelände.

„Das muss es sein“, sagte sie. „Ich glaube nicht an Zufälle.“

„Könnte passen.“ Der Mann neben ihr nickte.

Während sie parkte und ihren Blick über das Chaos vor sich wandern ließ, über die zerborstene Eingangstür und die seltsamen Tiere und verstörten Menschen, die aus dem Gebäude liefen, beschleunigte sich ihr Herzschlag auf ein beunruhigendes Tempo. Sie konnte sich durchaus vorstellen, was sich dort drinnen abgespielt hatte, wenn Lucas in dem Gebäude in die Enge getrieben worden war und sich bedroht gefühlt hatte. Sie hoffte nur, dass er nicht festgenommen worden war. Das würde alles komplizierter machen.

„Schnell, wir müssen Mia Darby finden“, wies sie ihre Männer an und stieg aus dem Wagen. „Sie könnte für uns von unbezahlbarem Wert sein, aber nur, wenn sie nicht mit der Polizei spricht. Und Sie …“, sie zeigte auf einen der Männer, „…überprüfen, ob es dort drinnen Überwachungskameras gibt. Wir brauchen die Aufzeichnungen, zumindest eine Kopie. Zahlen Sie, was auch immer man von Ihnen verlangt.“

Fiona beschleunigte ihre Schritte und folgte ihren Männern. Nachdem sie die Bibliothek betreten hatte, stand sie schweigend da und ließ das erschreckende Ausmaß des Schadens auf sich wirken. Sie wollte sich später an alles erinnern können, denn sie hatte das Gefühl, dass das, was hier geschehen war, noch von großer Bedeutung sein würde.

Nach Mia Darby musste sie nicht suchen. Die junge Frau kam mit zitternden Händen auf sie zu und sagte mit schwacher Stimme: „Sie hätten das sehen müssen. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich kann meine Schwester und Lucas nicht finden …“ Jetzt flossen Tränen. Sie sah aus, als würde sie gleich zusammenbrechen.

„Mia, konzentrieren Sie sich bitte.“ Fiona nahm sie fest bei den Schultern und sah ihr in die Augen. „Erzählen Sie, was Sie gesehen haben. Jedes Detail, ganz gleich, wie unwichtig es Ihnen erscheint.“

Das Darby-Mädchen faselte etwas von blauen Lichtern und Tieren und von Menschen, die sich mitten während eines Erdbebens miteinander prügelten. Hätte Fiona es nicht besser gewusst, sie hätte geschworen, dass die junge Frau einen psychotischen Zusammenbruch erlitten hatte. Mia zitterte vor Adrenalin und erzählte ihre Geschichte so unzusammenhängend wie ein Patient mit posttraumatischem Stresssyndrom. Fiona hatte viele Fragen, doch die würden warten müssen.

Jetzt musste sie sich schnell einen Überblick über die Situation verschaffen und den Schaden minimieren. Sie hatte gehört, wie einige Zeugen von einem Erdbeben sprachen, ein anderer schien wegen der Farbe der Flammen eine unterirdische Gasexplosion für die Ursache zu halten. Doch da die Bücher nicht verbrannt waren und auch kein anderes Gebäude in der Umgebung betroffen war, war Fiona sicher, dass die Polizei eine Weile brauchen würde, um sich ein Bild zu machen. Vielleicht würden die Behörden niemals verstehen, was passiert war, aber Fiona hatte bereits ihre eigene Erklärung gefunden. Obwohl sie das Darby-Mädchen so schnell wie möglich hier wegschaffen musste, gab es eine Frage, die nicht warten konnte.

„Ich muss mehr über das blaue Licht wissen, das Sie gesehen haben. Können Sie genauer bestimmen, wo es herkam?“ Fiona flüsterte. Sie wollte nicht, dass jemand sie hörte, vor allem nicht die Polizisten, die gerade andere Zeugen befragten.

„Ja, es kam von da drüben, aus der hinteren Ecke.“

Mia Darby führte sie zwei Regalreihen entlang in einen Bereich, der über und über mit heruntergefallenen Büchern bedeckt war. Hier war eindeutig etwas passiert, und auf dem Boden fand Fiona einen Rucksack. Er stand offen. Im Inneren sah sie ein Buch und einen Skizzenblock. Doch im Augenblick hatte sie nicht genug Zeit, um etwas anderes zu tun, als den Rucksack mitzunehmen, ehe die Polizei ihn fand.

„Danke, Mia. Sie waren eine große Hilfe.“ Sie umarmte die junge Frau und ließ sie gerade lange genug weinen, um den Eindruck zu erwecken, dass sie sich wirklich für sie interessierte. „Leider müssen wir jetzt gehen, meine Liebe. Sie sollten nichts von alledem gegenüber der Polizei erwähnen. Ich hoffe, das verstehen Sie.“

„Äh, j-ja.“ Das Mädchen nickte und wischte sich die Tränen weg.

„Ich bin mit meinem eigenen Wagen da, aber Sie können mir Ihre Schlüssel geben, und einer meiner Männer wird Sie nach Hause fahren. Ich folge Ihnen. In Ihrem Zustand sollten Sie sich nicht hinters Steuer setzen. Wir reden weiter, solange Ihre Erinnerungen noch frisch sind, und danach gebe ich Ihnen etwas, das Ihnen helfen wird, einzuschlafen.“

Nachdem sie Mia die Autoschlüssel abgenommen hatte, legte Fiona ihren Arm um die junge Frau und half ihr nach draußen. Bis zum nächsten Mittag würde sie einen vollständigen Bericht für Alexander Reese schreiben. Danach hatte sie Zeit, den Inhalt des Rucksacks zu untersuchen. Dank des Darby-Mädchens hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon gewonnen, was sich zugetragen hatte. Tausende von Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf. Sie konnte ihre Aufregung kaum mehr verbergen.

Ein Kristallkind war durchaus dazu in der Lage, einen Vorfall wie den in der Bibliothek auszulösen. Sie wünschte sich verzweifelt, dass es so war, und dass es sich bei diesem Kristallkind um Lucas handelte, den Jungen, den sie entdeckt hatte. Ihre Untersuchungen und die Erfahrungen, die sie während ihrer Studien für die Kirche gesammelt hatte, hatten ihren Instinkt so sehr geschärft, dass sie in der Lage war, diese menschlichen Schandflecken zu erkennen. Als Ärztin wollte sie mehr darüber erfahren, was ihre Mutation verursachte. Doch jenseits von ihrem wissenschaftlichen Interesse machten ihre Überzeugungen diese Kinder in ihren Augen zu einer Plage für die Menschheit.

Nur ein sehr mächtiges Indigokind konnte dieses Ausmaß an Chaos verursacht haben – und das bedeutete, dass es gerade im Begriff war, sich zu einem mächtigen Kristallkind weiterzuentwickeln. Doch was hatte diesen Prozess ausgelöst? Sie musste es wissen. Vielleicht hatte Mia weitere Informationen für sie, und wenn sie Glück hatte, enthielt auch der Rucksack Hinweise.

Was sie im Museum gesehen und von dem Darby-Mädchen gehört hatte, hätte sie eigentlich in Panik versetzen müssen. Doch alles, was sie empfand, war Aufregung, die wie Eiswasser durch ihre Adern schoss und sie überaufmerksam machte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem alles, was sie und Alexander unternommen hatten, um die Menschheit zu retten, Früchte tragen würde. Der Darby-Junge. Er musste es einfach sein. Sie kamen ihrem Ziel näher, das konnte sie spüren. Bald würde sie den Jungen auf Station 8 in Gewahrsam haben – unter ihrer absoluten Kontrolle.

Ehe sie in ihren Wagen stieg, wies sie den Mann, der bei ihr geblieben war, an: „Beauftragen Sie das Team, sich in die Verkehrskameras auf dem Parkplatz und den umliegenden Straßen zu hacken. Falls der Darby-Junge und die andere Schwester nicht zu Fuß unterwegs sind, könnten wir etwas Nützliches finden.“

Fiona atmete die Nachtluft ein und blickte zurück auf den Haupteingang des Museums, über den die bunten Lichter der Streifenwagen tanzten. Sie wollte sich an diesen Augenblick erinnern können. Denn sie hatte das Gefühl, einen wichtigen Wendepunkt erreicht zu haben – einen, den sie herbeigeführt hatte, indem sie den Darby-Jungen fand.

Lucas zwang sich, die Augen aufzuschlagen und sich von den Qualen zu befreien, die ihm mittlerweile schon so vertraut waren: dem Albtraum, der immer wiederkehrte und ihn dazu veranlasst hatte, aus Haven Hills zu fliehen. Er war in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen gefangen und spürte, wie sich sein Bewusstsein von seinem Körper löste. Er konnte auf sich herabsehen und beobachten, wie er mit den Armen um sich schlug, wie glänzender Schweiß seine Haut bedeckte – doch er war immer noch an den Körper gebunden, der ihn im Stich gelassen hatte und gefangen hielt.

Es war nicht das Fieber gewesen, das ihn davon abgehalten hatte, die Augen zu öffnen. Es war der Traum gewesen.

Ein rot-weißes Zeichen über einer Sicherheitsdoppeltür ließ ihn zusammenzucken. Station 8. Er spürte, dass seine Beine und Arme an einer kalten Trage festgebunden waren. Unfreundliche Männer in Weiß ignorierten sein Flehen um Hilfe. Sie brachten ihn in einen kalten Raum mit grellen Lichtern. Sein Herz klopfte so laut, dass sich das Pulsieren bis in sein Gehirn fortpflanzte. Er wusste, was als Nächstes kommen würde. Der Traum war immer gleich. Immer war es eine gesichtslose Frau in Weiß, die ihm den Schmerz brachte. Selbst ihre Stimme ließ ihn zusammenzucken, doch sie war gedämpft, als würde sie unter Wasser sprechen.

„Nein!“, schrie er, doch niemand rettete ihn.

Lucas wusste nicht, was er da sah. War es eine Erinnerung, die versuchte, an die Oberfläche zu kommen? War es eine Vision über die Erlebnisse einer anderen Person? Oder die rasende Angst vor seiner eigenen unsicheren Zukunft? In der grauenhaften Welt seines Traums machte es keinen Unterschied.

Denn er musste all das so erleben, als würde es ihm selbst widerfahren.