11. KAPITEL

Umland von L.A.

22:30 Uhr

Rayne tankte die Harley auf, dann ließ sie sich von Gabriel aus der Stadt lotsen, und sie ließen Los Angeles hinter sich. Als die breiten Highways von zweispurigen Straßen abgelöst wurden, wurde er ganz ruhig und ließ sich mit um sie geschlungenen Armen gegen ihren Rücken sinken. Sie wusste, dass er erschöpft sein musste und Schlaf brauchte. Er hatte ihr noch immer nicht verraten, wo sie hinfuhren, aber es reichte ihr schon, einfach mit ihm allein zu sein.

Bevor sie den Museumsparkplatz verlassen hatten, hatte er noch einmal gefragt, ob sie ihn wirklich begleiten wollte. Ihre Antwort war noch immer dieselbe, aber inzwischen hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Die vorbeigleitenden nächtlichen Straßen und die aufblitzenden Erinnerungen an Gabriel, der in den blauen Flammen zuckte, fraßen sich tief in ihre Seele. Rayne fühlte sich gut, weil er ihr noch immer helfen wollte, aber sie wusste auch, dass seine Dämonen ihn eingeholt hatten.

Nichts an ihrer Situation fühlte sich richtig und gut an. Was für Probleme Gabriel auch haben mochte, sie standen im Konflikt mit ihrer Suche nach Lucas. Sie verstand, warum Gabriel Antworten brauchte: Er hatte Angst, dass er alles noch schlimmer machen könnte. Aber sie konnte nicht anders, als sich auch um Lucas zu sorgen. Sie betete, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, indem sie sich an Gabe hielt. Dass sie nicht wusste, wie es Luke gerade ging, ließ die schrecklichsten Vorstellungen in ihr Blüten treiben – und die Dunkelheit war die perfekte Leinwand für ihre Ängste.

Die Stadtlichter und der Asphalt wichen einem Baldachin aus Mondlicht und Sternen, der sich über ihre Köpfe spannte, und der Wind fegte um Raynes Körper. Die Scheinwerfer der Maschine strichen über das hohe Gras, das sich am Straßenrand wiegte. Der Mittelstreifen zog sich über ein endloses Asphaltband hin, auf dem sie sich immer weiter von Ortschaften und Menschen entfernten. Sie hatte keine Ahnung, wo der Weg sie hinführte, aber das Dröhnen des Motors gab ihr das Gefühl, für den Moment in Sicherheit zu sein, obwohl sie ahnte, dass es sich nur um die Ruhe vor dem Sturm handelte.

Etwas war mit Gabriel geschehen, das konnten sie weder leugnen noch ignorieren. Er hatte recht damit, dass er Hilfe brauchte, und wenn es einen Ort gab, an dem er Antworten erhalten würde, dann musste er dorthin. Sie beide trugen ihre Probleme mit sich herum, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zurückkehren und ihnen ins Auge sehen mussten.

Auf Höhe von Ludlow und den Bristol Mountains konnte sie an der kühler werdenden Luft spüren, dass sich die Höhenlage änderte. Gabriel ließ sie auf eine schmale Straße abbiegen. Den Namen konnte sie nicht erkennen, dafür sah sie aber Hinweisschilder, auf denen „Devil’s Playground“ stand. Der Spielplatz des Teufels. Nicht gerade vertrauenerweckend. Sie wusste, dass die Mojavewüste nicht weit war, aber ansonsten hatte sie in der Dunkelheit die Orientierung verloren. Als sie den Schotterweg hinauffuhren, der in einem breiten Tor mit Zahlenschloss mündete, bedeutete Gabriel ihr zu halten und stieg ab. Ohne nachzudenken, gab er einen Pincode ein, und das Tor öffnete sich. Einen Moment lang schien er selbst überrascht zu sein, dass es funktionierte.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie.

„Falls es uns nicht gefällt, fahren wir wieder“, erwiderte er statt einer Antwort. Ehe sie weiter nachfragen konnte, erklärte er: „Als ich klein war, habe ich eine Zeit lang hier gelebt.“

Das war alles, was er sagte, bevor er wieder auf die Harley stieg und darauf wartete, dass Rayne Gas gab. Eine Wolke schob sich vor den Mond, und die Dunkelheit um sie herum wurde noch undurchdringlicher. Selbst durch ihren Helm hindurch konnte Rayne das gruselige Heulen eines Kojoten in der Ferne hören. Sie konnte gut nachempfinden, warum sich das Tier so einsam und allein fühlte.

Am Anfang der unbefestigten Privatstraße waren „Durchfahrt verboten“-Schilder aufgestellt worden, und das Scheinwerferlicht der Harley reflektierte im Dunkeln in den Augen vor Tieren, die am Straßenrand lauerten. Rayne gelang es nie, zu erkennen, was für Tiere es waren, ehe sie im Dunkeln verschwanden. Doch sie konnte spüren, dass sie sie beobachteten. Als die Straße in einer Kurve nach oben führte, spürte Rayne, wie hart der Motor arbeiten musste, und lehnte sich in die Steigung. Gabriel folgte ihrem Beispiel und drückte sich noch enger an sie.

Gewaltige Bäume säumten den Straßenrand, und man hatte riesige Findlinge spalten müssen, um Platz für den schmalen Weg zu machen, der den Berg hinaufführte. Im Tageslicht wäre die Aussicht wahrscheinlich überwältigend gewesen. Doch bei Nacht glitten die Scheinwerfer über plötzlich klaffende steile Abgründe, die sich in den Schatten versteckten, was die Fahrt noch unheimlicher machte.

Als die Straße wieder flacher verlief, nahmen sie eine Kurve, und Rayne konnte einen Blick auf Lichter in der Ferne erhaschen. Als sie näher kamen, bremste sie ab, um genauer hinzusehen. Eine massive Steinmauer umschloss das größte Anwesen, das sie jemals gesehen hatte. Gabriel hatte sie zu einem Herrenhaus mitten im Nirgendwo geführt, wobei das Grundstück eher einem Hochsicherheitstrakt glich. Sie umklammerte die Lenkergriffe fester. Schon beim ersten Kennenlernen hatte sie den Eindruck gehabt, dass Gabriel aus reichen Verhältnissen stammte. Sehr reichen Verhältnissen. Und wenn er wirklich einmal hier gelebt hatte, lag sie mit ihrer Einschätzung richtig. Allerdings half ihr das auch nicht, ihr Unbehagen abzuschütteln.

Als sie die Maschine ausrollen ließ und auf dem Hügelkamm anhielt, nahm Gabriel seinen Helm ab, und sie tat es ihm gleich. Rayne sog die Nachtluft ein und spürte, wie eine sanfte Brise mit ihrem Haar spielte. Sie starrte die steinerne Hausfassade an, in der dunkle Fenster klafften, die wie Augen aussahen. Die gruseligen Türmchen und Spitzen erinnerten sie an irgendetwas …

„Hogwarts. Du hast mich nach Potterhausen gebracht?“

„Und da dachte ich schon, du vertraust mir, Rayne.“

Als sie das unterdrückte Lachen in seiner Stimme hörte, atmete sie tief durch und blickte über ihre Schulter. Der Mond zeichnete Gabriels Gesicht mit seinem blauen Schimmer nach und ließ seine Augen noch eindrucksvoller wirken.

„Tu ich auch. Besonders jetzt, wo ich weiß, dass du bestens mit Harry Potter befreundet bist.“

Die Klugscheißerei half ihr, gegen den Knoten aus Angst anzukämpfen, der sich in ihrem Bauch bildete.

„Nicht vergessen: Tu, was ich sage und stell keine Fragen.“ Er legte seine Hände auf ihre Hüften. „Möglicherweise bin ich hier nicht willkommen.“

Es kam ihr zwar fast unmöglich vor, ihn nicht mit Fragen zu löchern, doch sie hielt die Klappe und reichte ihm ihren Helm. Sie wollte den Wind auf ihrem Gesicht spüren, als sie auf den imposanten Hauseingang zufuhr, dessen Holztüren für einen Riesen gedacht zu sein schienen.

Sie vertraute Gabe, aber wer auch immer in so einem Haus wohnte, war ein ganz anderes Kaliber.

Zentrum von L.A.

Da Lucas verletzt und krank gewesen war, hatte Kendra ihm ihr Bett überlassen müssen. Denn sie wollte ihn bei sich haben, und zwar aus vielen Gründen. Er hatte deliriert und war von Albträumen geplagt worden. Er brauchte sie. In seinen klareren Momenten erinnerte er sich nicht an seine Träume, vielleicht wollte er aber auch einfach nicht über die anscheinend quälenden Halluzinationen sprechen, die ihn heimsuchten. Kendra konnte das sehr gut verstehen.

Doch nachdem das Fieber zurückgegangen war und es ihm besser ging, spürte sie, wie ihr jedes Mal die Hitze ins Gesicht stieg, wenn sie seine nackte Haut berührte oder seine Wunden verband. Wie er sie ansah, ganz zu Hause in ihrem gemeinsamen Schweigen. Sein Blick ließ ihn älter wirken als seine fünfzehn Jahre. Äußerlich war er wunderschön, und das, was sie von seinem freundlichen Wesen erahnen konnte, verriet ihr, dass es um seine Seele ebenso stand. Nachdem er Verbindung zu ihr aufgenommen hatte und das Band zwischen ihnen in beide Richtungen verlief, war sie in einen rauschartigen Zustand verfallen, den sie niemals enden lassen wollte.

Doch seit seiner Fiebernacht war nichts mehr wie vorher. Alles hat sich verändert.

Die Realität ihrer Vergangenheit holte sie ein. Im ersten Moment war sie geschockt gewesen, dass Lucas die Fähigkeit besaß, ihre inneren Mauern zu überwinden. Danach war Wut über seine Respektlosigkeit gefolgt, doch die wahre Schuld, das war ihr bewusst, trug sie selbst. Denn Lucas hatte sie an ihr dunkelstes Geheimnis erinnert. Sie würde niemals etwas vor ihm verbergen können.

Doch das Schlimmste war, dass er sie daran erinnert hatte, dass sie der Zukunft, die sie sich für die Indigokinder herbeiwünschte, überhaupt nicht würdig war.

„Was ist los?“, fragte er.

Er tastete nach ihrer Hand, eine Geste, nach der sie sich gesehnt hatte, ehe er in ihre dunkelsten Erinnerungen eingedrungen war. Doch jetzt zuckte sie zurück und überlegte krampfhaft, was sie antworten sollte.

„Du kannst die Vergangenheit sehen“, sagte sie schließlich. „Du kannst die Geheimnisse im Gedächtnis anderer lesen. Ich bin noch nie jemandem mit dieser Fähigkeit begegnet. Es ist … beängstigend.“ Sie seufzte, ließ sich ihren Schmerz anmerken. „Wie lange kannst du das schon?“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“

Als sie die Zähne zusammenbiss, schien er ihre Frustration zu spüren.

„Was ist passiert? Was habe ich getan?“ Er setzte sich auf, zuckte aber sofort zusammen. Offenbar hatte er nach wie vor Schmerzen.

„Du kannst dich nicht erinnern?“

Momentaufnahmen aus ihrer Vergangenheit stiegen vor ihrem inneren Auge auf, Dinge, die sie vergessen wollte, aber nicht konnte – Dinge, die Lucas ihrer Meinung nach gesehen hatte. Jetzt verbarg sie diese Erinnerungen vor ihm, doch da sie wusste, dass er selbst mit loderndem Fieber in ihr Bewusstsein eintauchen konnte, war sie nicht sicher, ob ihre Abwehrtechniken bei ihm überhaupt funktionieren würden.

Die Unwissenheit brachte sie fast um.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Habe ich etwas falsch gemacht?“

Ihre Blicke trafen sich, und er wirkte vollkommen unschuldig. Sie fühlte sich nach wie vor benutzt und betrogen, doch immer, wenn sie diesen Jungen ansah, wollte sie glauben, dass er keinen Grund hatte, sie anzulügen. Sie hatte sich nicht eingebildet, was er getan hatte, aber vielleicht konnte er sich wirklich nicht erinnern, weil sein Fieber so hoch gewesen war.

„Du hast keine Ahnung, wie stark du bist und was du werden kannst“, sagte sie. „Du hast mich gebeten, deine Lehrerin zu sein, aber ich bin es, die von dir lernen sollte.“

Sie nahm seine Hand und spürte, dass er sich gleichzeitig auch mit ihrem Geist verband. Ihn in sich und an sich zu spüren, gab ihr das Gefühl, stärker zu sein. Besser.

„Du hast unendliches Potenzial, aber du machst mir Angst, Lucas. Die Verbindung zwischen uns hat mich auf eine Weise beeinflusst, die ich mir niemals erträumt hätte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich stark genug dafür bin. Aber ich fühle mich dir verpflichtet, auch wenn es mir Angst macht.“

„Willst du sagen, dass ich dir Angst mache?“

Sie wusste nicht, wie sie ihm antworten sollte, wollte ihn nicht belügen. Mit jemandem zusammen zu sein, der so stark war wie Lucas, einem Jungen, der alle geistigen Schutzwälle durchbrach, die sie aufbringen konnte, machte ihr im Augenblick weit mehr Angst als irgendetwas sonst.

Sie berührte seine Wange.

„Wir müssen annehmen, was wir sind und was wir werden, auch wenn es uns Angst macht. Das sind wir unserer Art schuldig.“

„Unserer Art?“, hakte er nach.

„Ich habe über uns gelesen. Hast du jemals von Indigo- oder Kristallkindern gehört? So nennen sie uns.“

Als er nur den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: „Wir sind besonders, Lucas. Wir fühlen, statt zu denken. Wir vertrauen auf unsere Instinkte und nutzen unseren Verstand so, wie er genutzt werden sollte. Wir sehen und fühlen Dinge, die andere Menschen nicht sehen und fühlen können, weil sie nur einen Teil ihres Intellekts nutzen. Tierarten entwickeln sich weiter und verändern sich, um überleben zu können. Es ist nur logisch, dass mit der Menschheit dasselbe passiert. Wir sind die Zukunft, Lucas. Die Menschheit 2.0.“

Sie lächelte, doch er erwiderte ihr Lächeln nicht.

„Niemand hat mich jemals so behandelt, als wäre ich etwas Besonderes. Sogar meine Eltern haben so getan, als würde etwas mit mir nicht stimmen“, sagte er.

„Genau darum geht es mir. Deine Familie hat dich auf Medikamente gesetzt, deine Lehrer haben dich behandelt, als wärst du schwer erziehbar, und die Ärzte haben dich wie eine Laborratte benutzt. Sie haben dir das Gefühl gegeben, dass du nicht normal bist. Sie haben Angst vor dem, was sie nicht verstehen und nicht kontrollieren können. Wir sind die Zukunft, nicht sie. Wir müssen für das kämpfen, was uns gehört.“

Kendra wusste, wie sie in seinen Ohren klingen musste. Niemand in ihrem Alter redete so, nicht einmal Raphael, der Älteste von ihnen. Doch sie spürte das Gewicht der Verantwortung auf ihren Schultern lasten, der Verantwortung für eine Zukunft, die sie hoffentlich noch würde erleben dürfen. In einer Welt, die eine Veränderung brauchte, hatte sie keine Zeit für eine Jugend, obwohl sie sich manchmal nach der Kindheit sehnte, die man ihr genommen hatte. Sie hatte niemals erfahren, wie es war, ein Kind zu sein, nicht so, wie Lucas es hatte erleben dürfen. Sie konnte an seiner Unschuld und dem ungebrochenen Vertrauen, das er einer Wildfremden wie ihr schenkte, erkennen, dass er von jemandem geliebt worden war – trotz des Klinikaufenthaltes und der Medikamentenbehandlung, die er hatte erdulden müssen.

Mit jeder Frage, die er stellte, zeigte sich seine Unerfahrenheit mehr.

„Warum können wir nicht lernen, mit ihnen zusammenzuleben?“, fragte er. „Dass sie den Fehler machen, um die Vorherrschaft zu kämpfen, muss nicht heißen, dass wir ihn auch machen müssen.“

„Du hast gesehen, wie skrupellos die Believers sind. Und sie sind nur der Anfang. Stell dir vor, wie schlimm es erst werden würde, wenn sich die Nachricht verbreitet, dass wir existieren. Im Augenblick halten die Massen uns noch für das Hirngespinst von ein paar Verrückten. Aber es wäre naiv zu glauben, dass sie uns in Frieden lassen, wenn sie erst einmal begriffen haben, dass es uns wirklich gibt. Ich habe diese verdammte Kirche und ihre fanatischen Mitglieder nicht grundlos die Believers – die Gläubigen – getauft.“

Als sie sah, wie er erneut vor Schmerz zusammenzuckte, atmete sie tief durch und schlug einen ruhigeren Ton an.

„Meiner Meinung nach bist du ein Kristallkind, Lucas. Du bist weiterentwickelter als Indigos wie ich. Es liegt nahe, dass du dir Frieden wünschst, aber genau das ist der Grund, aus dem du jemanden wie mich brauchst. Indigokinder sind Kämpfernaturen. Wir geben uns nicht damit zufrieden, wie die Dinge sind. Wir werden wütend. Wir kämpfen. Jemand muss es tun, aber du …“ Sie berührte seine Wange und sagte: „Du bist unsere Zukunft.“

Sie musste ihm klarmachen, wie die Realität wirklich aussah, nicht, wie er sie sich wünschte.

„Vertrau mir, wenn ich sage, dass sie viel mehr vom Kämpfen verstehen als du“, erklärte sie. „Sie werden nicht zulassen, dass wir Seite an Seite mit ihnen leben. Sie fürchten uns jetzt schon. Was werden sie erst tun, wenn wir stärker werden und es mehr von uns gibt?“

„Aber du kannst nicht wissen, dass es so kommt.“ Zum ersten Mal erhob er die Stimme. Er sah so aus, als würde es ihm Schmerzen bereiten.

Kendra seufzte und strich ihm über sein langes Haar. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.

„Lass uns nicht mehr vom Kämpfen reden. Erst mal musst du etwas essen. Ich habe dir eine Gemüsebrühe gemacht.“ Sie lächelte, um ihren Kummer zu verbergen. „Außerdem hab ich deine Sachen gewaschen. Sie liegen dort drüben. Wenn dir danach ist, kann ich dich in deinem neuen Zuhause herumführen.“

Sie hoffte, dass Lucas beschließen würde, bei ihnen zu bleiben – bei ihr. Wenn sie überleben wollten, brauchten sie ihn. Auch wenn Kendra nicht die Kraft hatte, sich seinen Fähigkeiten zu widersetzen.

Wenn Lucas es wollte, konnte er alles über sie herausfinden.

Bristol Mountains

23:10 Uhr

Tote Blätter wirbelten um Gabes Füße und wurden in die Luft hochgepeitscht. Unter dem schummrigen Licht einer einzelnen Laterne, die an der Steinwand neben der Tür angebracht war, warfen sie tanzende Schatten. Der Haupteingang, in dem sich Spinnweben und kleine Staubhaufen angesammelt hatten, verriet ihm, dass sich auf dem einst majestätischen Anwesen einiges geändert hatte. Er spürte das Gewicht der Isolation und eine Schwermut, die sich nicht abschütteln ließ.

Jetzt, wo er vor der Tür stand, die er niemals wiederzusehen geglaubt hatte, musste er all seinen Mut zusammennehmen. Als er das Haus noch mit den Augen eines Kindes gesehen hatte, hatte es riesig und wie verzaubert gewirkt. Jeder Raum hatte sein eigenes Geheimnis. Jede alte Lagerkiste erzählte eine Geschichte. Dass er wieder hier war, löste Erinnerungen an einen Teil seiner Kindheit aus, der immer etwas Besonderes für ihn sein würde. Es überraschte ihn, dass sich dieser Ort nach all den Jahren – und allem, was passiert war – noch immer genauso anfühlte wie früher.

Es war das Schuldbewusstsein, das ihn davon abhielt, an die Tür zu klopfen. Er warf Rayne, die hinter ihm stand, einen Blick zu. Sie zuckte nur mit den Achseln und drängte ihn nicht, sondern rang sich sogar ein angespanntes Lächeln ab. Anscheinend spürte sie, wie schwer es ihm gefallen war herzukommen. Wenn sich sein Magen nicht angefühlt hätte wie ein Hinkelstein, hätte er sie geküsst.

Als er die Hand nach der Klingel ausstreckte, bewegte sich die Tür von selbst und öffnete sich mit einem lauten, rostigen Knarren.

„Heilige Sch…“, kreischte Rayne und machte vor Schreck einen Satz. Dann packte sie Gabe beim Arm und schien nicht vorzuhaben, ihn wieder loszulassen.

Die schwere Holztür glitt an ihren uralten Metallangeln langsam auf und sog trockenes Laub in das aufklaffende Maul des Herrenhauses. Gabe rührte sich nicht vom Fleck. Er starrte in die Dunkelheit und wartete ab, wer die Tür geöffnet hatte.

Doch ehe er etwas erkennen konnte, hörte er ein vertrautes Knurren. Hellboy hatte sich schützend vor ihm aufgebaut und wollte ihn nicht über die Schwelle lassen.

„Tut mir leid“, sagte Gabe zu Rayne. „Sein Beschützerinstinkt ist ziemlich ausgeprägt.“

Sie klammerte sich weiter an seinem Arm fest und sagte: „Wenn das unser einziges Problem ist, ruf einfach den Hundeflüsterer an.“

Gabe legte einen Arm um sie und folgte Hellboy ins Innere des Hauses. Der große Körper des Hundes schwebte über dem Boden und bewegte sich mit gespenstischer Anmut. Jeder Muskel, den er einmal gehabt hatte, zitterte in seinen Läufen und seinem Rücken unter einem Fell, das aussah wie ein Wirbel aus dichtem Nebel. Mit zurückgelegten Ohren und gesenktem Kopf starrte er in die Dunkelheit und bewegte sich nur langsam vorwärts. Sein Knurren verfolgte ihn und hallte in der Leere des Foyers wider, bis er plötzlich innehielt und angespannt schnüffelte.

Bevor Gabe die Anwesenheit von jemand spürte, wedelte Hellboy mit dem Schwanz. Eine Stimme durchdrang die dünne Luft.

„Wie schön, Sie wiederzusehen, Master Gabriel.“

Als Gabe die vertraute Stimme hörte, machte er einen Satz und fuhr herum. Doch was er sah, entsprach nicht ganz seinen Erwartungen. Denn es war nur der Geist des Hausdieners, der schimmernd durchs Dunkel wirbelte. Zuerst erschienen die Augen, dann zwei schwebende Lippen und ein kleiner Schmerbauch. Als er sich Gabriel endlich ganz zeigte, trug er die formelle Livree, in die er zu Lebzeiten stets gekleidet gewesen war.

„Frederick?“ Gabriels Hals war so trocken wie die Mojavewüste. „Sie haben schon mal … besser ausgesehen.“

„Ja, ich muss einräumen, dass ich im Augenblick nicht in Hochform bin.“ Frederick hob eine Braue. „Aber vom Tod lasse ich mich nicht aufhalten, Sir.“

„Das ist genau die richtige Einstellung.“

„Mit wem redest du, Gabriel?“, fragte Rayne.

Ehe Gabe zu einer Erklärung ansetzen konnte, kam ihm der Butler zur Hilfe. „Oh, meine Liebe, es tut mir leid. Wie unhöflich von mir. Ist es besser so?“

Der tote Diener schloss die Augen, schob sich einen Daumen in den Mund und pustete hinein wie in eine Trompete. Seine Augen quollen hervor wie eine Rauchwolke und knisterten wie ein Kaminfeuer. Nach wenigen Sekunden hatte er genug Form angenommen, dass auch Rayne ihn sehen konnte.

Sie gab einen gellenden Schrei von sich und wäre wohl gestürzt, wenn Gabe sie nicht aufgefangen hätte.

„Ich muss mich setzen“, sagte sie schwach. Als Hellboy sie winselnd und mit schief gelegtem Kopf ansah, seufzte sie auf. „Gibt es hier eigentlich auch irgendwen, der noch am Leben ist?“

Erst jetzt fiel Gabriel auf, dass er die Antwort auf diese grundlegende Frage gar nicht kannte. Er wandte sich an Frederick, der ihm zulächelte und in Richtung eines anderen Teils des Herrenhauses zeigte.

„Ihr Onkel Reginald befindet sich im Hauptraum, Sir. Leider schläft er derzeit nicht sehr gut, aber ich bin mir sicher, dass Ihr Besuch ihm eine Freude sein wird. Ich werde Sie und Ihre Begleitung ankündigen.“

Nachdem sich der Butler, begleitet von dem Geräusch eines aus der Flasche ploppenden Sektkorkens, in Luft aufgelöst hatte, holte Gabe tief Luft. Er wünschte sich, dass Frederick recht hatte und sich sein Onkel wirklich freute, ihn zu sehen. Aber vorstellen konnte er es sich eigentlich nicht. Zwischen ihnen war einfach zu viel passiert.

Der Mensch, den sie beide am meisten geliebt hatten, hatte den Preis dafür bezahlt, dass Gabe anders war. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Onkel jedes Mal daran erinnert wurde, wenn er ihn ansah.

Das war der Hauptgrund dafür, dass Gabriel überhaupt gegangen war.

Mit Hellboy im Schlepptau, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, lief Gabriel einen düsteren Gang entlang. Zierteppiche bedeckten den Boden, und an den holzgetäfelten Wänden hingen alte Ölgemälde. Als Rayne ihm folgen wollte, tauchte Frederick wieder auf und gab ihr zu verstehen, dass er kurz mit ihr reden wollte. Als er näher kam, stieg ihr sein Geruch nach Staub und Zimt in die Nase. Der eine erinnerte sie daran, dass der Butler tot war, der andere verriet ihr, dass Frederick zu Lebzeiten eine Leidenschaft für Plätzchen gehabt haben musste.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie einfach darauf anspreche, meine Liebe, aber Ihr Magen knurrt. Ich glaube, der Koch hat stets die eine oder andere Köstlichkeit im Kühlschrank. Lassen Sie sich von Gabriel in die Küche führen, nachdem Sie seinen Onkel besucht haben.“

Frederick zwinkerte, doch ehe sie ihm danken konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Seine Silhouette zerfiel in glitzernde Partikel, die zu Boden schwebten und sich auflösten. Rayne stand schweigend da und hatte nur ein Wort im Kopf.

Schräg.

Sie lief los, um Gabriel einzuholen. Als sie zu ihm aufschloss, nahm er wortlos ihre Hand. Dann folgten sie dem Knistern eines prasselnden Feuers und dem rhythmischen Ticken einer Standuhr in die Tiefe des schummrigen, riesigen Salons, der mit Büchern und antiken Möbeln vollgestopft war, die so aussahen, als wären sie Jahrhunderte alt.

Außer dem Feuer, das in dem wuchtigen steinernen Kamin brannte und gespenstisch lange Schatten über die Wände tanzen ließ, brannte kein Licht. Ein älterer Herr mit dichtem grauem Haar saß in einem Ohrensessel, der mit königsblau und dunkelrot gemustertem Samt bezogen war, und schaute ins Feuer. Als er ihre Schritte hörte, sah er auf. Bei Gabriels Anblick stiegen ihm Tränen in die Augen, in denen sich das Glühen der Flammen spiegelte. Rayne ließ Gabriels Hand los und blieb im Hintergrund stehen. Hellboy setzte sich neben sie. Dort, wo er ihre Jeans streifte, begann ihre Haut zu prickeln.

Selbst der tote Hund begriff, dass die beiden etwas Privatsphäre brauchten.

Als Onkel Reginald aufstand, ließ Rayne ihren Blick über seinen hochgewachsenen Körper bis zu seinem vom Alter gezeichneten Gesicht wandern. Gabriel war groß, doch neben diesem Mann wirkte er wie ein Zwerg.

„Ich habe nach dir gesucht, nachdem du verschwunden bist“, ergriff sein Onkel mit brüchiger Stimme als Erster das Wort.

Gabriel nickte nur und blieb reglos stehen. Sagte nichts. Wartete ab.

„Ich weiß nicht, warum du zurückgekehrt bist, aber ich habe darum gebetet, dass dieser Tag kommt“, fuhr sein Onkel fort.

„Ich dachte nicht, dass du mich jemals wiedersehen willst.“

Eine einzelne Träne rollte dem alten Mann über die Wange. Er wischte sie nicht weg. „Mein lieber Junge, wie sehr du dich getäuscht hast.“

Mit zwei großen Schritten war Onkel Reginald bei Gabriel und umarmte ihn so fest, dass er ihn vom Boden hob. Rayne kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Als sie Gabriel mit seinem Onkel sah, musste sie an Lucas und ihre Eltern, ja, sogar an Mia denken.

Sie sehnte sich nach der Familie, die sie verloren hatte, aber gleichzeitig freute sie sich auch für Gabriel.

Gabriel stellte sie seinem Onkel Reginald Stewart vor, der ihr sofort das Gefühl gab, hier zu Hause zu sein. Der große Mann wies sie noch einmal darauf hin, dass sie sich in der Küche etwas zu essen holen konnte, und erklärte, dass Frederick zwei Zimmer für sie und Gabe vorbereitete, in denen sie schlafen konnten. Von einem Toten – ganz gleich, wie elegant gekleidet er war – in ein Schlafzimmer geleitet zu werden, war ziemlich gewöhnungsbedürftig. Doch Rayne bemühte sich, einfach zu akzeptieren, wie die Dinge in diesem Herrenhaus, in dem die Lebenden Seite an Seite mit den Toten wohnten, nun einmal waren. Sie war in eine vollkommen bizarre Welt eingetaucht, und Gabriel war ihr Fremdenführer. Irgendetwas verriet ihr, dass sie nur an der Oberfläche all der Geheimnisse kratzte, die Gabriel hatte.

Rayne lächelte und zog sich in den hinteren Teil des Salons zurück, damit die beiden Zeit hatten, ungestört ihr Wiedersehen auszukosten. Jetzt, wo sie Onkel Reginalds starken Akzent gehört hatte, fragte sie sich nicht mehr, woher Gabriels leichter britischer Einschlag kam. Seine Eltern schienen aus England zu stammen. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbringen, um nicht zu belauschen, was Gabriel und sein Onkel am Feuer besprachen.

Der Raum war so groß, dass ihre Wohnung zehnmal hineingepasst hätte. Nachdem sie ein ruhiges Eckchen gefunden hatte, warf sie einen Blick auf ihr Handy. In der Bibliothek hatte sie es auf Vibrationsalarm gestellt, und auf der Fahrt hatte es unzählige Male in ihrer Hosentasche gebrummt. Eigentlich war sowieso klar, wer sie angerufen hatte: Mia. Doch im Augenblick hatte Rayne keinerlei Bedürfnis, sich bei ihrer Schwester zu melden.

Die faszinierende Ausstellung an der hinteren Saalwand war weitaus unterhaltsamer.

Vorher war es Rayne gar nicht aufgefallen, aber das höchst geschmackvolle Dekor wurde durch riesige verblichene Plakate ergänzt, die auf große Rahmen gezogen worden waren. Zirkusplakate. Trapezkünstler, Elefanten und skurrile Clowns bedeckten die Wände und türmten sich über Raynes Kopf bis zur Decke. Im flackernden Licht des Feuers wirkten die gewaltigen Bilder fast schon lebendig.

Beeindruckt musterte sie die exotischen Werbetafeln. Sie würde Gabriel nachher fragen, was es mit dieser ausgefallenen Sammlung auf sich hatte, die nicht so recht zu dem luxuriösen Ambiente zu passen schien. Als sie sich nach ihm umsah, bemerkte sie, dass er nicht mehr mit seinem Onkel sprach.

Stattdessen sah er in ihre Richtung, und sein Anblick zerriss ihr fast das Herz, so traurig wirkte er auf einmal. Sie musterte wieder die Plakate, diesmal genauer. Und da erkannte sie, was Gabriel so unglücklich machte. Auf einem der Bilder war ein Junge zu sehen, der sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, die fast sein ganzes Gesicht verdeckte. Er stand mit ausgestreckten Armen da, eine Pose, die Rayne vertraut war, und der fesselnde Blick des Jungen ließ keinen Zweifel. Neben ihm stand eine wunderschöne Frau, die auf dem Plakat als „Lady Kathryn“ angepriesen wurde. Sie trug einen Umhang und ein Diadem und hatte einen großen Hund bei sich, der stark an einen wilden Wolf erinnerte.

Quer über den oberen Teil der Werbetafel war der Schriftzug Hellboy und das Dritte Auge gedruckt, darunter standen die Worte Briefe von den Toten. Rayne erkannte die Ähnlichkeiten, auch ohne fragen zu müssen. Gabriel sah aus wie seine Mutter, und er und sein Geisterhund schienen eine lange gemeinsame Vergangenheit zu haben. Er hatte Hellboy schon gekannt, als das Herz des Hundes noch geschlagen hatte.

Gabes Verbindung zu den Toten wurzelte tief in einer Vergangenheit, über die Rayne alles erfahren wollte.