15. KAPITEL

Bristol Mountains

Nach Mitternacht

Das Kaminfeuer beleuchtete Gabriel von hinten, als er ihr die Tür öffnete. Sofort kam Rayne sich vor wie die letzte Idiotin, weil sie überhaupt hier war. Sie hatte diesem wunderbaren Jungen nichts zu bieten außer ihrem Verständnis und ihrem Mitgefühl. Ihr Leben mit Lucas spiegelte nur einen Bruchteil des Schmerzes wider, den Gabriel durchlebte. Nachdem sie ihn im Griffith Park Zoo kennengelernt hatte, war sein sowieso schon kompliziertes Leben auf den Kopf gestellt worden. Ihretwegen hatte er sein Versteck verloren. Und trotzdem wollte er ihr helfen.

„Es … es tut mir leid. Ich sollte gar nicht hier sein“, flüsterte sie, ohne den Blick von ihm lösen zu können.

Sie hätte gehen sollen, aber sie konnte sich nicht bewegen – besonders nicht, nachdem er ihre Wange berührt hatte. In dem kurzen Moment, in dem sie unsicher in seiner Tür stand und kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, schien die Zeit stillzustehen. Gabriel sagte nichts. Das musste er auch gar nicht. Als er ihr Gesicht mit seinen Händen umschloss, sie an sich zog und seine süßen Lippen auf ihre drückte, sog sie den Duft seiner Haut ein. Der entfernte Duft von Rauch – und Junge – stieg ihr in die Nase. Sie schlang die Arme um ihn, und ihre Finger berührten seine nackte Haut.

Sie schloss die Augen, um alles in sich aufzunehmen – den Geschmack seiner Lippen, das Gewicht seines Körpers an ihrem, das wunderbare Gefühl, das er ihr schenkte. Rayne wollte für immer bei ihm bleiben. Als seine Hände über ihre Haut glitten, stieg ihr die Röte ins Gesicht. Dann küsste er ihren Hals, und ihr stockte der Atem, bis …

Ganz plötzlich zog er sich zurück, legte seine Stirn gegen Raynes und hielt sie fest.

„Tut mir leid“, keuchte er.

„Mir nicht.“ Sie küsste seine Wange und berührte sein Gesicht. „Ich konnte nicht aufhören, an heute Nachmittag zu denken. Ich musste einfach nachsehen, ob es dir gut geht.“

„Es freut mich, dass du es getan hast.“

Gabriel nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem prasselnden Feuer. Er ließ sie gerade so lange los, dass er zwei Kissen von seinem Bett holen und sie vor den Kamin werfen konnte. Dann half er ihr, sich zu setzen, und kam neben sie. Die Stille der Nacht und die flackernden Schatten umzingelten sie.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie.

„Ich weiß.“ Er sah ihr in die Augen und verbarg die unterschwellige Traurigkeit nicht, die ihn begleitete, seit Rayne ihn kennengelernt hatte. Sein Onkel hatte die Trauer an die Oberfläche geholt, um Gabe zu zwingen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Gabe senkte den Blick und verschränkte seine Finger mit ihren.

„Schlaf wird total überbewertet.“ Sie zuckte mit den Achseln.

Gabriel blickte auf und lächelte. Seine bernsteinfarbenen Augen reflektierten das Kaminfeuer, das seine Haut mit einem Schimmer überzog, als käme das Licht aus seinem Inneren. Rayne starrte ihn an, wollte niemals vergessen, wie er in diesem Augenblick aussah. Das Gefühl, dass ihre Tage mit ihm gezählt waren, wollte nicht verschwinden.

Wenn überhaupt, war es stärker geworden.

„Ich vermisse meine Mutter, besonders wenn ich hier bin, aber ich musste trotzdem kommen.“ Er seufzte leise und strich Rayne eine Haarsträhne hinters Ohr. Die Wärme des Feuers machte sie ganz schläfrig. Auch Gabriel schienen die Lider schwer zu werden.

„Deine Aufführung mit deiner Mutter sah ziemlich cool aus. Ich hab noch nie jemanden kennengelernt, der mit dem Zirkus gereist ist.“

„Sie hatte ihre Gründe, mich mitzunehmen. Ich dachte, dass es seltsam wird, aber …“ Er blickte ins Feuer. „Am Ende wurde diese Zeit zu meiner schönsten Erinnerung an sie. Wir sind uns echt nahe gewesen damals.“

„Wie ist sie eigentlich … gestorben? Du hast es nie erwähnt.“

Rayne bedauerte es, die Frage gestellt zu haben, doch sie konnte sie nicht mehr zurücknehmen, und Gabriel wirkte erstaunlicherweise nicht überrascht. Lange Zeit sagte er gar nichts.

„Vielleicht erzähle ich dir die Geschichte ein andermal.“ Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest.

„Onkel Reginald hat mir heute ein wunderbares Geschenk gemacht“, fuhr er fort. Seine Stimme klang tief und zähflüssig wie Honig, wie immer, wenn er schläfrig war. „Er hat mir gezeigt, dass ich mich viel zu sehr auf ihren Tod konzentriert habe, anstatt zu sehen, wie sie gelebt hat. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich daran gerne noch eine Weile lang festhalten.“

Sie begriff, dass er die Erinnerungen an seine Mutter auskosten wollte. Sie hätte alles dafür getan, noch einmal mit ihren Eltern zusammen sein zu dürfen, und sei es nur, indem sie vergangene Momente wieder durchlebte. Wie in dem Augenblick, in dem sie Gabriel zum ersten Mal begegnet war und sich wieder mit ihren Eltern und ihrer Familie verbunden gefühlt hatte.

„Danke, dass ich mit dir hierherkommen durfte.“ Sie spürte die Tränen in ihren Augen brennen, aber sie wollte nicht weinen.

„Du bist eine gute Schwester, Rayne. Lucas hat großes Glück.“

Sie legte die Arme um ihn, sagte aber nichts. Eine Sekunde lang brachte sie der Gedanke zum Lächeln, dass Gabriel sie für eine gute Schwester hielt. Doch sie selber sah es ganz anders. Durch Gabriel hatte sie so vieles über Lucas und ihre eigene Vergangenheit gelernt, dass sie jetzt nur auf die Möglichkeit hoffen konnte, ihren Bruder zu finden, um alles wiedergutzumachen.

„Was dein Onkel darüber gesagt hat, dass man annehmen muss, wer man ist, und dass das Gute und das Böse im Gleichgewicht bleiben sollten … also, wenn du dich verwandeln und ein ganz normaler Menschen werden könntest …“ So wie ich, wollte sie sagen. „Würdest du es tun?“

Rayne fragte sich, wie Lucas wohl geantwortete hätte, und sie dachte an das Gute und das Böse in ihrem eigenen Leben. All das war ein Teil von ihr geworden – ein Teil, den sie versteckte und über den sie mit niemandem sprach. Sie hatte ihn sich nicht zu eigen gemacht, sondern lief vor ihm weg.

„Gute Frage“, erwiderte er.

Dann starrte er eine ganze Weile schweigend ins Feuer. Schließlich sagte: „Vor dem heutigen Tag hätte ich vielleicht anders geantwortet. Aber abzulehnen, was ich bin, kommt mir jetzt vor wie Irrsinn. Wenn ich an meine Mutter denke, kommen mir meine Fähigkeiten wie ein Geschenk von ihr vor. Wie könnte ich das aufgeben wollen? Aber stell mir die Frage morgen früh noch mal. Nach frischen Marmeladenbrötchen sieht meine Antwort vielleicht ganz anders aus!“

Rayne wollte lächeln, doch sie konnte nicht. Sie legte ihren Kopf auf Gabes Brust und kuschelte sich in seine Arme, lauschte, wie sein Atem immer ruhiger wurde, bis sie wusste, dass er eingeschlafen war. Sie sah dem prasselnden Feuer zu, bis es zu glühender Asche zerfiel und der Raum ganz dunkel würde.

Sie hörte jeden seiner Atemzüge – zählte sie –, bis sie selbst die Augen schloss.

Zuerst war da nur die Dunkelheit. Ein düsteres, schwarzes Ungeheuer, gegen das er ankämpfen musste. Dann kam das Keuchen – sein eigenes Keuchen, dem alles weitere entsprang. Es quälte ihn, bis seine Kehle brannte. Sein Herz hämmerte so heftig, dass seine Brust schmerzte. Gespenstische grüne Lichter waberten durchs Dunkel. Lavarote Laserstrahlen schossen quer durch die Finsternis. Er rappelte sich auf, rannte los, schrie einen Namen – Kendra –, bis er fiel und sich das Knie aufschlug. Er spürte warmes, klebriges Blut sein Bein hinablaufen. Es tat weh, sich zu bewegen, aber er musste weiter.

Er musste den anderen helfen – den Kindern –, auch wenn er nicht wusste, wie. Er spürte sie. Er fühlte ihre Angst. Ihr Entsetzen verstärkte sein eigenes.

Wo auch immer er sich hinwendete, umgab ihn eine Armee aus Schatten und versperrte ihm den Weg. Ihre Bösartigkeit verwandelte sich in eine Mauer aus Hass. Männer mit grün leuchtenden Augen und wütenden, Angst einflößenden Stimmen. Die Laserstrahlen stammten aus ihren Waffen, und in den Tunneln sah er es aufblitzen. Seltsame blaue Lichtimpulse flackerten über verängstigte Gesichter, und laute, blendende Explosionen hinterließen Phantombilder auf seinen Augen. Er konnte nichts sehen. Konnte nichts hören.

Wo bist du? Hilf uns! Die Kinder schrien und weinten. Flehende Stimmen hallten durch seinen Kopf. Er wusste nicht, wem sie gehörten. Es waren zu viele. Als Hände nach ihm griffen, bekämpfte er die Schatten, wehrte sie ab.

„Nein! Lasst sie in Ruhe“, brüllte er. „Sie sind doch noch Kinder!“

Niemand hörte auf ihn. Er musste mitansehen, was sie taten, und konnte sie nicht aufhalten. Er konnte nur unter Qualen zusehen, wie diese Monster die schlafenden Kinder angriffen. Er spürte, dass die Männer die Kinder fürchteten. Deswegen wüteten sie so gnadenlos.

„Kendra! Du kannst ihnen nicht helfen. Nicht jetzt“, rief er.

Hände drückten ihn nach unten, und er spürte ein Gewicht auf seiner Brust. Er bekam keine Luft mehr. Er hörte einen Namen und eine weit entfernte Stimme, die ihm vertraut vorkam.

„Lass los“, flehte sie. „Du tust mir weh.“

Als er die Augen öffnete, sah er in das Gesicht eines verängstigten Mädchens. Das falsche Mädchen. Nicht das, das er erwartet hatte. Dieses hier wirkte entsetzt, kniete auf ihm, hatte seine Arme gepackt. Doch er befreite sich aus dem Griff und hielt das Mädchen am Handgelenk fest. Hitze schoss ihm ins Gesicht und Wut flutete seinen Körper.

Einen Augenblick lang kannte er nicht einmal mehr seinen eigenen Namen. Er war aus der rettenden Dunkelheit gerissen und ins Licht gestoßen worden. Er hatte keine Ahnung, wo er war.

„Gabriel, beruhige dich. Ich bin es, Rayne. Du hattest einen Albtraum.“

Er hörte auf sich zu wehren. Jetzt erkannte er sie.

Als sie ihn losließ, zog er sie an seine Brust und hielt sie fest. Ein Teil von ihm verharrte noch immer in jener düsteren Realität. Zum ersten Mal konnte er die Anwesenheit seiner Mutter spüren. Nur eine Sekunde lang, aber sie war bei ihm gewesen. Während er sich umsah und sich erinnerte, wo er war, verlangsamte sich sein Herzschlag. Er musste um jeden Atemzug ringen. Rayne hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte. Als sie ihn losließ und ihm half, sich aufzusetzen, bemerkte er, dass seine Kleidung feucht und klebrig war, ein Andenken an seinen Traum.

„Du hast ausgesehen, als wärst du verloren. Du hast mit den Händen nach irgendwas getastet. Ich glaube, es war dein Skizzenblock, wie beim letzten Mal. Ich hatte solche Angst um dich.“ Rayne sah elend aus. Ihre Lippen zitterten. „Ich dachte, dass du vielleicht zeichnen musst, damit dich der Albtraum loslässt. Ich habe so ein schlechtes Gewissen.“

„Nicht du hast meinen Rucksack verloren, sondern ich“, sagte er. „Nichts von alledem ist deine Schuld. Ich bin einfach nur froh, dass du bei mir warst.“

„Wenn du sie schon nicht zeichnen konntest, dann erzähl mir doch von deiner Vision. Lass nichts aus.“

Einem normalen Menschen wie Rayne zu erklären, was er in seinen Visionen sah, die er bis vor Kurzem nur für Träume gehalten hatte, fiel ihm schwer. Es waren nur kurze Eindrücke, aufblitzende Bilder, die er interpretieren musste. Er hatte die Dunkelheit gesehen und die Gefühle verschiedener Seelen miterlebt. Er hatte sich in das Bewusstsein anderer Menschen eingeklinkt und alles empfunden, was sie spürten und sahen. Gabe wusste nicht, wie er Rayne all das erklären sollte, aber er gab sein Bestes.

„Du hast einen Namen gerufen. Kendra. Kennst du jemanden, er so heißt?“, fragte sie.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich glaube …“

Als er nicht weitersprach, drängte Rayne ihn zum Reden.

„Was glaubst du? Sag es einfach, ohne vorher drüber nachzudenken.“

„Ich glaube, dass ich in ihrem Kopf war. Und auch in Lucas’. Vielleicht waren es auch mehr.“ Gabe kniff die Augen zusammen. „Ich habe alles durch ihre Augen gesehen, es war wie ein schrecklicher Film, nur ohne Stopptaste.“

„Was hast du gesehen?“ Rayne standen die Tränen in den Augen. „Ist … ist Luke etwas passiert?“

Er wollte ihr versichern, dass es Luke bestens ging, aber er konnte nicht. Was ihm am meisten Angst machte, war nicht das, was er gesehen hatte, sondern das, von dem er wusste, dass es als Nächstes kommen würde. Doch Rayne zuliebe sprach er nur über seine Beobachtungen.

„Ich weiß es nicht. Ich habe nur Momentaufnahmen gesehen, alles geschah gleichzeitig.“ Er schloss die Augen und zwang die düsteren Erinnerungen an die Oberfläche. „Ich habe blendende Explosionen gesehen und seltsame Blitze unter der Erde. Männer haben diese Kinder in einem Tunnel angegriffen. Eine Armee. Sie haben ihnen wehgetan, aber das war den Männern egal.“

„Eine Armee? Explosionen? Waren sie von der Polizei?“

„Nein, so hat es sich nicht angefühlt. Diese Männer, sie hatten Angst. Deswegen haben sie die Kinder angegriffen. Die Polizei würde so etwas nicht tun.“ Er bekam kaum mehr Luft. „Es war, als würden sie die Kinder hassen.“

Rayne umklammerte seinen Arm.

„Ich habe das schon einmal gefragt, aber ich muss es wissen“, sagte sie. „Beziehen sich deine Visionen auf die Zukunft? Können wir etwas daran ändern?“

Er sah ihr in die Augen und wusste, was sie hören wollte. Aber er würde sie nicht anlügen, nicht über dieses Thema.

„Ich weiß es nicht.“ Endlich rollten die Tränen, die ihm in den Augen gestanden hatten, seine Wangen hinab. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Komm schon, Gabriel. Das hier hat sich anders angefühlt als sonst, selbst für einen Außenstehenden wie mich. Irgendetwas musst du mir sagen können. Es geht um meinen Bruder.“

„Ich weiß nur eines mit Gewissheit. Wir müssen los. Jetzt.“ Er küsste sie auf die Wange. „Ich sag meinem Onkel Bescheid. Er wird es verstehen. Erinnerst du dich noch, in welcher Gegend wir das Wandgemälde finden?“

Sie nickte. „Ja, ich kann uns hinbringen.“

Rayne verließ sein Zimmer, und er stand auf, um sich zu waschen und umzuziehen. Gabe ließ sich nicht anmerken, wie besorgt er war. Lucas steckte in Schwierigkeiten, da brauchte sie keine zusätzliche Belastung. Ihr Vertrauen in Gabe war unendlich. Er hatte in ihren Augen sehen können, dass sie wirklich daran glaubte, dass er helfen konnte. Wenn er das doch auch hätte glauben können!

Seine Wut war ihm ein Verbündeter gewesen, doch jetzt, wo alles davon abhing, dass er sein Bestes gab, konnte er nicht mehr auf seine Instinkte vertrauen, und das brachte ihn fast um den Verstand. Ein normaler Mensch hätte sich wohl so gefühlt, wenn er nicht mehr auf seine Augen oder sein Gehör vertrauen konnte. Doch Gabriel wusste, dass sein Onkel recht hatte. Wenn er Rayne, Lucas und den anderen helfen wollte, musste er jetzt, wo es drauf ankam, etwas ausprobieren, das völlig neu für ihn war.

Wenn er versagte, würde er keine zweite Chance bekommen.

Doch seine versagenden Kräfte waren nicht seine größte Sorge. Als er in den Badezimmerspiegel blickte und sein noch immer von dem Albtraum gezeichnetes Gesicht sah, fand er endlich Worte für das, was er gespürt, Rayne aber nicht hatte erklären können. Die erdrückende Dunkelheit, die ihm das Atmen so schwer gemacht hatte, hatte den unverwechselbaren Gestank des Todes mit sich getragen. Er wusste nicht, ob er aufhalten konnte, was er gesehen hatte.

Er wusste nur, dass er es versuchen musste.