Zentrum von L.A.
5:00 Uhr
Der Verkehr war um diese Uhrzeit schwach, und so hatten sie für ihre Rückkehr in die Stadt nicht viel Zeit gebraucht. Rayne fuhr in der Nähe eines Tunnels auf den Seitenstreifen der Autobahn. Abseits der Straße folgte sie dem Weg bis zu einem kleinen Wäldchen, in dem sie ihr Motorrad abstellen konnte. Der Eingang zu dem Tunnelsystem, in dem sich das Wandgemälde befand, das sie in dem Buch aus der Museumsbibliothek gesehen hatte, musste irgendwo in dem Autobahntunnel liegen. Sie war schon viele Male hinurchgefahren, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass es dort geheime Zugänge geben könnte, die unter das Zentrum von Los Angeles führten.
Sie stellte den Motor ab, nahm ihren Helm ab und wartete darauf, dass Gabriel etwas sagte. Doch er starrte nur mit seinem Helm in der Hand in den Tunnel, so konzentriert, als würde er etwas sehen, das ihr entging. Sie hätte gedacht, dass er etwas spüren würde, doch sein besorgter Gesichtsausdruck besagte etwas anderes.
Sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.
„Das ist der Ort, von dem ich gelesen habe“, sagte sie. „Hast du eine Ahnung, wo genau wir jetzt suchen sollen?“
„Ja, vielleicht.“
Natürlich, dachte sie. Muss ja so sein. Immerhin hatte er Hellboy und das Dritte Auge, oder etwa nicht? Wahrscheinlich waren seine Fähigkeiten noch viel größer, als ihr bewusst war. Daran wollte sie jedenfalls glauben, doch sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst – um Lucas und um Gabe.
Als sie abstieg und nach ihrer Taschenlampe angelte, sagte Gabe: „Oh, nein, ich gehe alleine dort hinein. Es gibt so schon genug, worauf ich aufpassen muss, und …“ Er beendete seinen Satz nicht. Stattdessen seufzte er tief und strich ihr über die Wange. „Ich würde mir die ganze Zeit Sorgen um dich machen.“
Sie wusste, dass er recht hatte. Eine Last war das Letzte, was sie für ihn sein wollte. Doch die ganze Fahrt nach L.A. über hatte sie mehr als genug Zeit gehabt, an Lucas zu denken und sich all die schrecklichen Dinge auszumalen, die ihm vielleicht widerfahren würden – oder schon widerfahren waren. Nur eins konnte sie sich nicht ausmalen: ihn erneut im Stich zu lassen.
„Ich habe meinen Bruder hängen lassen. Als Mia ihm das einzige Zuhause weggenommen hat, das er jemals hatte, und ihn in die Hände von Fremden gegeben hat, habe ich nichts getan, um sie aufzuhalten.“ Sie kämpfte gegen die Schuldgefühle an, die sie immer zu überwältigen drohten, wenn sie an Lucas dachte. „Du sagst, dass ich eine gute Schwester bin, aber das stimmt nicht. Doch ich will die Chance nutzen, zu einer zu werden. Ich hoffe, dass das überhaupt noch möglich ist.“
Gabriel sah ihr so tief in die Augen, als würde er ihre Gedanken lesen. Wenn jemand wusste, wie wichtig Familie war, dann er.
„Vielleicht läuft da unten alles schief“, sagte er. „Vielleicht werde ich dich nicht schützen können … dich oder irgendwen.“
„Keine Versprechungen. Kein Bedauern.“ Sie nickte und nahm seine Hand. „Ich verstehe das.“
Sie hätte einwerfen können, dass dieser Kampf von Anfang an ihrer gewesen war. Dass sie Gabe nur gebraucht hatte, um Lucas aufzuspüren. Und Rayne brauchte keine übersinnlichen Fähigkeiten, um zu wissen, dass sie genau das bald tun würde. Doch nun war auch Gabe in die Sache involviert. Lucas und diese Kinder waren wie er. Sie standen über ihre Gedanken und Gefühle in Kontakt miteinander und hatten Dinge miteinander geteilt, die Rayne niemals erleben oder auch nur verstehen würde.
Rayne liebte ihren Bruder, aber sie begriff auch, dass sie niemals ein echter Teil seines Lebens werden würde. Ihre Liebe würde ihr nicht helfen können, zu begreifen, was es wirklich hieß, in seiner Haut zu stecken. Doch sie würde ihr helfen, Lucas und andere wie ihn so zu akzeptieren, wie sie waren.
„Dann los … lass uns ein paar Arschtritte verteilen!“, sagte er. Sein britischer Akzent hätte sie fast zum Lächeln gebracht. Aber eben nur fast. Gabriel lächelte ebenfalls nicht.
Rayne sicherte ihr Motorrad und schnappte sich die Taschenlampe. Hand in Hand betraten Gabe und sie den Straßentunnel. Die Zementwände waren dick, und Rayne konnte keinen Eingang entdecken, der nach unten führte. Fast wäre sie panisch geworden, doch dann zeigte Gabriel nach vorn.
„Ich sehe ihn. Komm schon.“ Er nahm Tempo auf und zog Rayne mit sich.
Eingelassen in eine Wand und fast unsichtbar führte eine Metalltreppe in die Tiefe. Es war zu dunkel, um viel erkennen zu können.
„Ich zuerst. Wenn ich was entdecke, rufe ich zu dir hoch“, sagte er.
Sie nickte, kniete sich neben die Leiter und beobachtete, wie er hinabkletterte. Als er von der Dunkelheit verschluckt wurde, verlor sie ihn aus dem Blick. Jetzt hörte sie nur noch das Geräusch seiner Hände an den Leitersprossen und dann seine Schritte, die auf Dreck knirschten, als er den Boden erreicht hatte.
„Und?“ Ihre Stimme hallte. „Was ist da unten?“
Ein Auto fuhr vorbei, und bei dem Gedanken, dass jeder sie sehen konnte, wurde Rayne ganz nervös. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein Cop, der zufällig vorbeifuhr.
„Ich glaube, wir sind hier richtig. Komm runter!“, rief er aus der Tiefe. „Aber sei vorsichtig.“ Nachdem sie die Taschenlampe in den Bund ihrer Jeans geschoben hatte, machte sie sich daran, die Leiter hinabzusteigen. Die Tunnelbeleuchtung wurde schwächer, bis Rayne schließlich von absoluter Finsternis umschlossen wurde. Als sie nicht einmal mehr erkennen konnte, wie weit sie noch klettern musste, bekam sie eine Heidenangst. Doch dann spürte sie Gabes Hände an ihren Hüften, und plötzlich erschauderte sie aus einem ganz anderen Grund.
Sie schaltete die Taschenlampe ein und erhaschte einen Blick auf ihn. Doch sie hätte auch so gewusst, dass er gerade rot wurde. Trotz allem, was ihnen bevorstand, musste sie lächeln.
„Der Rest ist abgeriegelt, aber ich denke, wir können uns durch die Absperrung durchquetschen, wenn du dabei bist“, sagte er.
Sie richtete den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, in die Gabe wies, und sah, was er meinte. Ein Metalltor mit einem Kettenschloss. Die untere Hälfte war allerdings hochgebogen, so als wären sie nicht die Ersten, die diesen Weg nahmen.
„Ja, los geht’s.“
Sie kam problemlos durch die schmale Öffnung, aber Gabe musste sich ziemlich anstrengen. Er jammerte und mühte sich eine Weile, bis er es endlich geschafft hatte. Es sah aus, als würde es wehtun. Auf der anderen Seite des Tors führte eine Treppe in die Tiefe, und der schmale Durchgang dahinter mündete in einem Gang, der sich gabelte.
„Und was jetzt? Sollen wir eine Münze werfen?“, fragte sie.
„Ab jetzt übernehme ich. Ich bin die Münze.“
Er wurde ganz ruhig, und Rayne leuchtete in seine Richtung, um ihn beobachten zu können. Er atmete tief und schloss die Augen. Sekunden später spürte sie, wie Hellboy ihre Beine streifte. Vor ein paar Tagen hätte sie das plötzliche Auftauchen des Hundes noch in Panik versetzt. Doch jetzt empfand sie nichts als Erleichterung darüber, dass er seinem Herrchen zur Seite stand.
„Hallo, mein Junge.“ Sie lächelte, und Hellboy wedelte mit dem Schwanz.
„Von jetzt an solltest du die Taschenlampe nur noch benutzen, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt“, sagte Gabriel. „Wenn hier unten außer uns noch jemand ist, machen wir uns mit dem Licht zur Zielscheibe, und außerdem verdirbt es uns die Nachsicht.“
„Okay.“
An der Oberfläche war die Luft kühl und leicht windig gewesen, doch hier unten roch sie abgestanden, und die Hitze war drückend. Schon jetzt lief Rayne der Schweiß den Rücken hinab. Vor ihnen lag ein meilenlanges unterirdisches Tunnelsystem, und sie hoffte, dass Hellboy ihnen würde helfen können, das Suchgebiet einzuschränken. Gabriel kniete sich neben seinen Hund und flüsterte ihm etwas zu. Rayne verstand ihn zwar nicht, aber Hellboy spitzte die Ohren und schnüffelte nacheinander in Richtung der beiden Tunneleingänge.
Dann bellte er und lief los. Doch nur einen winzigen Augenblick später drang ein lautes Grollen aus den Tiefen der Tunnel. Gabriel zögerte nicht. Er folgte seinem Hund.
„Was war das?“, schrie sie, während sie hinter ihm her hetzte.
„Meine Vision. Es passiert tatsächlich!“
Trotz der klebrigen Hitze lief es Rayne eiskalt den Rücken hinab.
Lucas.