18. KAPITEL

Zentrum von L.A.

Wenige Minuten später

Gabriel rannte los, als er die Explosion hörte. Ausgelöst durch die Dunkelheit und den Lärm blitzten Erinnerungen an seine Albtraumvision durch seinen Kopf. Die Wut durchströmte ihn wie bittere Galle. Er kämpfte dagegen an, auch wenn er nicht sicher war, ob seine Entscheidung richtig war. Als er so nahe an die Lärmquelle herangekommen war, dass er direkt vor sich Schritte auf dem Kies und harte Stimmen hören konnte, beugte er sich keuchend vor und rang nach Luft.

Der Druck war einfach zu groß. Er durfte nicht versagen. Menschenleben hingen von ihm ab. Würde er zu spät kommen und nur noch hilflos mitansehen können, wie etwas geschah, das er sowieso niemals hätte aufhalten können? War alles nur von seinen Entscheidungen abhängig? Vielleicht war seine grauenhafte Vision nur dadurch wahr geworden, dass er hier aufgetaucht war! Vielleicht machte er alles nur noch schlimmer!

Der Zweifel lähmte ihn. Zu viel Verantwortung lastete auf seinen Schultern.

„Was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Rayne kniete sich vor ihn und berührte ihn am Arm. Als er ihr nicht antwortete, sagte sie: „Atme ganz ruhig. Du musst deinen Herzschlag beruhigen.“

Er folgte ihrem Rat und ging neben ihr in die Knie. Die grausamen Männer, die lärmend Jagd auf die Kinder machten, ließen ihm keine Ruhe. Er konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und atmete langsam und tief, bis er Raynes sanfte Stimme hörte. Sie erinnerte ihn an die wunderschönen Bilder, die sein Onkel ihm in seinem Ruheraum gezeigt hatte. Als Gabriel bereit war, kam seine Mutter zu ihm, und die Erinnerungen an sie erfüllten ihn mit Wärme.

„Deine Mutter ist jetzt bei dir, oder?“, flüsterte Rayne. „Ich weiß es, weil ich meine Mom auch spüren kann. Und meinen Vater. Oh, Gabe, danke!“

Rayne stand wieder auf, und Hellboy hob eine Pfote, als Gabriel sich ebenfalls erhob und in die Dunkelheit starrte. Der Zorn war noch in ihm, aber jetzt schenkte ihm auch die Liebe seiner Mutter Kraft. Sie war sein neues Fundament geworden, die Wurzel seiner Fähigkeiten. Als er die Arme ausstreckte und die Fäuste ballte, strahlten die Muskeln in seinem Körper eine immer stärker werdende Hitze ab.

Er spürte, wie seine Kraft wuchs. Sie erschütterte ihn so wie in der Museumsbibliothek, ein Beben, über das er nur zu leicht die Kontrolle verlieren konnte. Es fühlte sich an, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen werden. Als die Zellen in seinem Körper zerbarsten, aber keinen Platz hatten, um sich auszubreiten, stöhnte Gabe vor Schmerzen auf. Er hielt durch, hatte Angst, loszulassen. Befürchtete, dass er wieder die Kontrolle verlieren würde.

„Ich … schaffe das nicht.“

„Doch, du kannst das. Halt durch, Gabriel! Vertraue auf deine Instinkte! Das hier ist, was du bist!“

Raynes Stimme bahnte sich durch seinen Schmerz, gab Gabe die Kraft, sich noch mehr zu bemühen. Erinnerte ihn daran, warum er hier war und was auf dem Spiel stand.

Plötzlich zerbarst sein Körper und sein ganzes Sein fegte durch die dunklen Tunnel, raste von ihm fort. Gabe schrie auf, so süß, so wunderbar waren die Qualen, die er durchlitt. Er war zu einer Million Seelen geworden – vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen Seelen. Er zog Stärke aus dieser Seelenkolonie, ließ den Sog ihrer Kraft seine eigene verstärken. Er hatte noch nie etwas Ähnliches empfunden, und doch ergab plötzlich alles einen Sinn. Er musste etwas tun, was er noch nie getan hatte: Vertrauen schenken. Als er andere Seelen spürte, die so waren wie er, erschien es ihm auf einmal nicht mehr unmöglich, zu vertrauen. Am stärksten fühlte er Lucas und Kendra. Die beiden spielten ihm eine rasende Abfolge von Bildern zu. Sie zeigten ihm die Gesichter der Männer, die sie verletzt hatten und jagten. Das schenkte Gabriel weitere Kraft. Er konnte seine Wut jetzt auf diejenigen richten und loslassen, die sie verdient hatten.

Doch am wichtigsten war, dass Gabriel sich plötzlich frei fühlte. Er hatte eine Barriere durchbrochen, hinter der sich die Lebenden und die Toten zusammenfanden. Ihre gesammelte Lebenskraft schoss auf ihn zu und wurde von ihm gebündelt und zurückgeworfen, als würde er Licht reflektieren. Sie prallte in alle Richtungen von ihm ab, und eine erwachende Macht strömte durch seinen Körper. Auf einmal tat sie ihm nicht mehr weh. Er hatte die Fähigkeiten all dieser Seelen angezapft und verstärkte ihre Kräfte, als könne er sie voll und ganz kontrollieren.

Er war der gemeinsame Kanal für das Indigokollektiv geworden.

„Es ist … wunderschön!“, rief er. „Ich spüre … alles.“

Kendra rannte mit Lucas weiter in einen Tunnelabschnitt, der in ein Labyrinth aus schmalen, steilen Wegen überging. Sie ließen sich nur von ihren Instinkten leiten. In diesem Teil der Tunnel war sie noch nie gewesen. Nur Rafe kannte sich hier aus. Als sie an ihn dachte, hätte sie sich fast wieder übergeben müssen. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, und als die Gedankenverbindung zu ihm abgebrochen war, war ihre Existenz zu einem dunklen Ort geworden.

Du weißt nicht, was passiert ist. Jedenfalls nicht wirklich.

Lucas hatte ihre Gedanken gelesen. Sie war erschöpft und hatte ihren Schutzwall nicht aufrechterhalten. Bei allem, was gerade vor sich ging, hatte sie keine Kraft mehr dafür übrig. Er war nicht in ihre Privatsphäre eingedrungen. Ohne ihren inneren Schild strömten die Gedanken so ungehindert aus ihr heraus, als würde sie bewusst Botschaften versenden. Sie tat ihr Bestes, ihre Energien umzulenken, um den Schutzwall wiederaufzubauen. Doch sie war nicht so stark wie Lucas.

Wahrscheinlich hatte er im Fieber deswegen ihre Vergangenheit sehen können. Während sein Körper gegen die Gehirnerschütterung ankämpfte, hatte er plötzlich Zugang zu einem Bereich seines Gehirns gehabt, über den sie noch mehr würden herausfinden müssen. Der Gedanke machte Kendra Angst. Denn er bedeutete, dass niemand Geheimnisse vor Lucas haben konnte. In der neuen Welt, von der sie ein Teil sein wollte, würde man Regeln für Menschen wie Lucas aufstellen müssen, damit sie ihre Fähigkeiten nicht zügellos nutzten.

Lucas war ihre Zukunft, Lucas und andere, die so waren wie er.

Und Kendra gehörte nicht zu ihnen.

„Spürst du das?“, flüsterte Lucas. Seine echte Stimme zu hören erschreckte sie.

„Nein. Was denn?“

Lucas blieb stehen und drehte sich um in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er verhielt sich ganz ruhig. Zu ruhig. Ihm zuzusehen machte ihr Angst.

„Jemand kommt.“

„Von wo?“ Kendra hatte das Gefühl, nutzlos für ihn zu sein.

„Von … überall.“

Sie schloss die Augen, um ihre letzte Kraft auf das zu richten, was Lucas wahrnahm. Als sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten und sie eine Gänsehaut bekam, schnappte sie nach Luft.

„Oh, mein Gott. Was ist das?“ Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Sie konnte es ebenfalls spüren. „Wer ist das?“

Lucas antwortete ihr nicht.

Er sagte nur: „Komm, er braucht unsere Hilfe.“

Kendra konnte nicht alles spüren, was Lucas wahrnahm. Doch sie fühlte die Anwesenheit von jemandem, der sehr stark war. Wer auch immer es war, er hatte sich in ihren Kopf eingeklinkt, und es schien ihm noch leichterzufallen als Lucas während seines Fiebers. Sie hatte keine Ahnung, wer „er“ war, aber sie vertraute auf Lucas – besonders, als sie sein Lächeln sah.

Rayne stolperte von Gabriel weg. Tränen flossen über ihre Wangen, und Hellboy winselte zu ihren Füßen. Gabe hätte ihr nicht sagen müssen, wie gut er sich fühlte, denn er strahlte ein blendendes Licht aus. Es kam aus seinem Inneren, aus seinen Augen und seinem Mund, den er zum Schrei geöffnet hatte. Das intensive Licht schien ihn zu verschlingen wie eine weiße Feuerkugel. Rayne sah seinen Körper in dieser Masse reiner Energie, doch sein Gesicht war nicht richtig zu erkennen.

Als der Boden unter ihren Füßen zu beben begann, wollte sie fortlaufen, doch etwas zwang sie zu bleiben. Sie würde Gabriel nicht im Stich lassen. Sie spürte eine neue Energiewelle von ihm ausgehen. Ihr Inneres prickelte vor Hitze, als würde sie in einer Mikrowelle gegrillt werden. Gabriel war zu etwas Größerem geworden, und sie wusste nicht, ob er jemals zu ihr zurückkehren würde.

Was auch immer die Kontrolle über ihn gewonnen hatte – es erschreckte sie fast zu Tode.

Welle über Welle sprangen wahrgewordene Albträume aus den Schatten hervor, als wären sie aus der Dunkelheit geboren worden. Die Schreie geisterhafter Wesen hallten durch die dunklen Gänge, näherten sich den Männern, die die Indigokinder angriffen. Wie aus dem Nichts erschienen knurrende Pitbulls, die in demselben Blau wie Hellboy glühten. Gabriels Legion der Toten war ins Reich der Lebenden gekommen. Schlangen glitten aus dem Boden empor wie sprießendes Unkraut, und dann gerieten die Wände in Bewegung, und Kakerlaken krabbelten hervor wie eine Plage und purzelten auf den Betonboden. Ihre Körper glänzten in Gabriels Licht.

Die Kreaturen, die er heraufbeschworen hatte, suchten die Dunkelheit, mieden Rayne und Gabriels Licht. Als er den Gang entlanglief, folgten ihm seine höllischen Horden. Er würde sie auf Männer loslassen, die diese Rache verdient hatten. Rayne schlang ihre Arme fest um ihren Körper. Sie war zu fassungslos, um ihm zu folgen. Gabriel war auf dem Weg zu den Männern, die Menschen wie ihn jagten, und er war mit Fähigkeiten bewaffnet, die über alles hinausgingen, was diese Ungeheuer jemals gesehen hatten. Doch die Männer hatten Sprengstoff und Waffen. Rayne war sich nicht sicher, ob Gabriel und seine neu entdeckten Fähigkeiten wirklich gegen sie ankommen würden. Was, wenn sie schon zu spät waren?

Als sie sich schließlich in Bewegung setzte und seinem Licht und dem makabren Schwarm toter Geschöpfe folgte, fühlte sie sich wie betäubt. Doch dann hörte sie im Dunklen eine Stimme beten, kaum mehr als ein weit entferntes, schwaches Flehen. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Stimme ihre eigene war.

Rayne betete für Gabriel … für sie alle.

Lucas nahm Kendras Hand, und vorsichtig schlichen sie weiter. Sie hielten sich in den Schatten und drückten sich gegen eine Wand, näherten sich schrittweise der Lärmquelle. Als Kendra schließlich sah, was Lucas schon vorher gespürt hatte, biss sie die Zähne zusammen, um vor Entsetzen nicht laut aufzuschreien.

Nur wenige Meter vor sich sah sie ihre Kinder. Uniformierte Männer trugen sie wie Säcke über ihren Schultern und warfen sie in der Nähe des Tunneleingangs achtlos auf den Boden. Ihre kleinen Körper schimmerten im Mondlicht. Sie schienen tot zu sein.

Sie fühlte sich, als würde ihr Herz verbluten. Jedes einzelne Gesicht brachte Erinnerungen in ihr hoch. Wie sie die Kinder gefunden hatte. Ihr Lächeln. Ihr Humor. Was sie zum Weinen gebracht hatte. Jetzt konnte Kendra nicht mehr sagen, ob sie tot oder lebendig waren. Sie wusste nicht, was die Believers ihnen angetan hatten.

Sie leben noch. Ich bin mir sicher. Lucas schickte ihr eine Botschaft. Sie hatte ihre inneren Barrikaden aufgegeben. Jetzt war nicht die Zeit für Geheimnisse. Sie musste ihm vertrauen. Denn außer ihm hatte sie niemanden mehr.

Es ist noch nicht vorbei. Lucas drehte sich um und sah ihr in die Augen. Sie erkannte die Entschlossenheit in seinem Blick. Er wirkte stärker als jemals zuvor. Das hätte ihr Kraft geben müssen, doch das tat es nicht. Ihre Kinder waren bewusstlos. Selbst wenn sie diese bewaffneten Männer überwältigen konnten – sie zwei alleine –, wohin sollten sie dann gehen? Wo waren sie vor Männern wie diesen in Sicherheit? Sie hatte Lucas nichts zu sagen. Sie küsste ihn auf die Wange, und eine Träne glitt über ihr Gesicht.

Sie liebte ihn dafür, dass er nicht aufgab.

Hab Vertrauen, Kendra Walker. Du wirst sehen, sagte er.

Als Lucas lächelte, hätte er sie fast überzeugt. Aber nur fast.

„Irgendein Zeichen von Skywalker und Princess?“, fragte Boelens über Funk, doch am anderen Ende war nur ein seltsames statisches Rauschen zu hören. „Hört mich jemand?“

Im nächsten Moment wurde aus dem Knistern Grabesstille. Boelens hielt inne und starrte den Typen neben sich an, der nur mit den Achseln zuckte. Boelens sah auf seine Uhr. Seine Männer wussten, zu welcher Zeit sie den Sammelpunkt zu verlassen hatten. Sie würden ihre Anweisungen auch ohne Funkverbindung befolgen. Als er in einem der Tunnel Schritte hörte, blickte er sich um. Schatten näherten sich. Einer seiner Teamführer und seine Männer brachten weitere Körper.

„Lief alles rund?“, fragte Boelens.

„Wir haben die Kinder gejagt, und sie sind durch einen Riss in der Mauer entkommen, wie Sie vorhergesagt haben. Wir haben Ihren Eisbrecher benutzt.“

„Und? Halt dich kurz“, heischte Boelens ihn an.

„Die Explosion hat den Tunnel zum Einsturz gebracht. Die alten Ziegel haben dem Druck nicht standgehalten. Es gab Tote.“

„Ich hoffe für euch, dass ihr mir keine schlechten Nachrichten zu Skywalker und Princess zu überbringen habt.“

„Nein, Sir. Wir hatten im Blick, wer getroffen wurde. Die beiden waren nicht darunter.“

„Hat es welche von deinen Männern erwischt?“, fragte Boelens.

Der Teamführer schüttelte nur den Kopf. Lebend hätten die Kinder Boelens Geld gebracht, aber wenigstens musste er nicht die Leichen seiner eigenen Männer entsorgen. Das hätte nur Zeit gekostet.

„Kollateralschaden.“ Boelens zögerte nicht. „Die Cops finden die Leichen hier unten wahrscheinlich nie. Und falls doch, dann sind wir schon längst über alle Berge, bis sie herausgefunden haben, dass die Wände mit ein bisschen Hilfe eingestürzt sind.“

Seine Männer hatten diese Freaks völlig überrumpelt. Sie hatten schnell und hart zugeschlagen, wie er es geplant hatte. Jetzt brauchte er nur noch die Zielpersonen einzusammeln, die sie lebendig erwischt hatten, und sie in den Bunker zu transportieren. Ein One-Way-Ticket für die Kinder, ein dickes Bündel Scheine für ihn.

Aber ganz egal, wie viele von diesen Irren er ablieferte – der ganze Einsatz war eine Pleite, wenn er den Darby-Jungen nicht erwischte. Für Operations war er das Einzige, was wirklich zählte.

Boelens lief die Zeit davon.

„Du verschaffst dir einen Überblick über die Todesopfer.“ Er wies auf einen seiner Männer. Zu einem anderen sagte er: „Und du versuchst, die anderen Teams zu erreichen. Ich muss wissen, ob sie Skywalker gefunden haben.“

„Bin dabei, Sir.“

„Der Rest verlädt die Zielpersonen, die noch leben, in den Transporter“, befahl er.

Boelens knirschte mit den Zähnen. Wenn er Darby nicht fand, war alles umsonst gewesen. Doch dann hörte er hinter sich Schritte, und plötzlich sah er alles in einem anderen Licht. Denn der Typ hinter ihm trug keine Uniform. Trotzdem kam er Boelens bekannt vor. Genauso wie das Mädchen an seiner Seite.

„Suchen Sie uns?“ Lucas Darby stand direkt vor ihm wie ein Geschenk unterm Weihnachtsbaum. Und Princess hatte er gleich mitgebracht. Besser konnte es nicht werden.

Boelens lächelte. Also würde er seinen Bonus doch kassieren!

Lucas gab sich alle Mühe, nicht wie ein durchgeknallter Irrer zu wirken, als er vor dem Mann stand, der ihm erst vor wenigen Tagen den Schädel eingeschlagen hatte. Dem Mann, der niemals zwinkerte.

Kendra hatte ihn aufhalten wollen, als er aus den Schatten trat. Er wusste, dass sie mit seiner Entscheidung nicht einverstanden war. Aber sie war ihm, mutig bis zum bitteren Ende, trotzdem gefolgt und stand jetzt neben ihm. Als der Typ den Befehl gegeben hatte, die Kinder nach draußen zu schleppen, hatte Lucas gewusst, dass ihm die Zeit davonlief. Er musste den Mann hinhalten, auch wenn er nicht genau wusste, warum.

Wenn nicht bald etwas geschah – wenn sich die große Kraft, die er in den Tunneln gespürt hatte, nicht bald materialisierte –, hatte Kendra jedes Recht, ihn für einen Idioten zu halten. Denn dann würden sie beide alles verlieren. Lucas hatte nur seinen Glauben – in einen Fremden, den er noch nie gesehen hatte.

„Na, wollt ihr mitfeiern? Schön, dass ihr meine Einladung angenommen habt.“ Der Mann lachte in sich hinein. „Ihr seid nämlich die Ehrengäste.“

„Wir können nicht zulassen, dass Sie die anderen mitnehmen.“ Lucas bemühte sich um eine ruhige, feste Stimme.

„Ach, wirklich? Und wer soll mich aufhalten? Ihr etwa?“ Er grinste. „Hast du gar keine Angst vor einer Wiederholung unserer kleinen Auseinandersetzung? Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat meine Faust ganz schöne Abdrücke auf deinem Gesicht hinterlassen.“

„Ich glaube nicht an Gewalt. Jedenfalls war das so, bis ich Ihnen begegnet bin.“

Als er den amüsierten Ausdruck auf G.I. Joes Gesicht sah, kam Lucas sich vor wie David vor dem Kampf mit Goliath – nur dass er keine Steinschleuder hatte.

„Schätze, da haben wir unüberbrückbare Differenzen. Kannst dich hinter meinen Exfrauen anstellen. Nicht, dass es mich interessieren würde, aber wenn du nicht daran glaubst, für deine Freiheit zu kämpfen, woran glaubst du dann überhaupt? Was in deiner lächerlichen Welt ist dir einen Kampf wert, Junge?“

„Ich glaube, das werde ich gleich herausfinden“, sagte Lucas. „Und das habe ich nur Ihnen zu verdanken.“

Der uniformierte Mann warf ihm einen scharfen Blick zu, und sein Lächeln verschwand.

„Das war’s, wir sind fertig hier. Sag Gute Nacht, Junge.“

Lucas stand einfach nur da. Was auch immer jetzt kommen mochte, er war bereit dafür. Sein blindes Vertrauen kostete ihn all seinen Mut. Er war sich nicht ganz sicher, ob er durchhalten würde, aber das würde er gleich herausfinden. Als G.I. Joe den Taser auf ihn richtete, biss er die Zähne zusammen und wartete auf den Schmerz. Doch ein bedrohliches Donnern kam ihm zur Rettung. Alle drehten sich zu dem blassen Glühen um, das auf sie zukam.

Was sie sahen, war das pure Grauen.

„Was zum Teufel …?“ Der Mann tauschte den Taser gegen eine Handfeuerwaffe ein, und seine Männer legten die Sturmgewehre an.

Ein heißer Wind, der an Heftigkeit zunahm, fegte durch die Gänge. In Südkalifornien verhießen Wüstenwinde niemals etwas Gutes. Wie in Vollmondnächten ereigneten sich seltsame Dinge, wenn sie wehten. Lucas packte Kendras Hand und wappnete sich innerlich. Das Licht wurde heller und blendete ihn. Er schirmte seine Augen ab, und Kendra tat dasselbe. Als die heiße Luft gegen seinen Körper prallte, zog er Kendra in seine Arme, schob sie gegen eine Wand und schirmte sie mit seinem Körper ab. Er spürte, was als Nächstes kommen würde.

Ein schrilles Heulen, das sich durch das Echo noch verstärkte, hallte durch den Tunnel. Als Lucas das entfernte Bellen eines Hundes hörte, hob er vorsichtig den Blick. Zornentbrannte Geister wanden sich durchs Dunkel, ihre gespenstischen Gesichter verzerrt vor Qualen. Das reine Böse. Im ersten Augenblick wusste Lucas nicht, wer sie waren. Er spürte nur einen Bruchteil des Leides, das sie für die Ewigkeit würden erdulden müssen. Sie waren eines gewaltsamen Todes gestorben waren und hatten dieses Schicksal auch verdient. Da erst begriff Lucas, was es mit diesen Todesbringern aus der Hölle auf sich hatte.

Sie alle waren von der Hand der Soldaten in den Tunneln gestorben.

Viele Menschen hielten den Tod für das Schlimmste, das ihnen widerfahren konnte. Doch aus Lucas’ Sicht war es viel schlimmer, einem anderen das Leben zu nehmen. Und die Männer, die nun gegen einen Feind kämpfen mussten, den sie doch eigentlich schon längst getötet hatten, gewannen vermutlich gerade eine ganz einzigartige Perspektive auf beide Seiten der Medaille.

Die Soldaten zitterten so sehr, dass ihre Gewehre wackelten. Einige ließen ihre Waffen fallen und rannten schreiend davon. G.I. Joe mit seinem lidlosen Starren brüllte ihnen Befehle zu. Er schien nicht zu begreifen, dass einige der Dämonen nur seinetwegen hier waren.

„Stehen bleiben! Das ist ein Befehl!“, schrie er. „Nichts davon ist real. Sie spielen mit euren Gehirnen, das ist alles. Sofort stehen bleiben!“

Lucas wusste nichts über die mächtige Kraft, die tote Feinde heraufbeschwören konnte. Aber so boshaft der Gerechtigkeitssinn des Fremden auch sein mochte – er wusste ihn zu schätzen.

Einige Sekunden später

„Was zur Hölle ist da los?“

O’Dell hörte Boelens’ Schreie über die Funkanlage. Wegen der anderen Stimmen und des Hintergrundlärms war es fast unmöglich, ihn zu verstehen. Seine Worte waren ein verzerrtes Kuddelmuddel, nichts weiter als Schreie. Irgendetwas war da unten gründlich schiefgelaufen.

O’Dell saß in der trüben Finsternis in seinem Auto. Nur das Mondlicht, das durch die Windschutzscheibe fiel, sorgte für etwas Helligkeit und spielte seinen Sinnen Streiche. Und die Schreie, die durch seinen Wagen hallten, machten die Sache nicht unbedingt besser.

„Was ist los? Sprich mit mir!“, brüllte er Boelens an. „Hör auf, wie ein Mädchen zu kreischen!“

Zu seinem Missfallen nahm er die Panik in seiner eigenen Stimme wahr. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten und zuckte zusammen. Nervös spähte er in die Dunkelheit. Das Alleinsein und die Schreie der Männer, die an seinen Nerven zerrten, weckte sonderbare Gedanken in ihm. Er überlegte, in die Tunnel hinabzusteigen. Er war bewaffnet. Vielleicht konnte er helfen.

„Klar, sicher“, murmelte er finster.

Die gruseligen Geräusche, die aus dem Funkgerät drangen, machten ihn echt fertig. Als er dann auch noch spürte, wie sich unter seinen Ärmeln etwas bewegte, hätte er fast selbst gekreischt.

„Heilige Scheiße!“

Er öffnete seine Manschettenknöpfe, zerrte die Ärmel hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Grauen, das sich auf seinen Armen abspielte. Seine Schlangentattoos glitten aus seiner Haut. Sie waren lebendig geworden, als wäre er gerade auf einem schlechten Acid-Trip. Schlange um Schlange schälte sich aus seiner Haut und glitt in den Fußraum des SUVs. Die Viecher wanden sich um seine Beine, sammelten sich zu seinen Füßen. Er schlug um sich und versuchte, sie zu zertreten, aber es wurden immer mehr.

„Nein, nein!“ Egal, wie sehr er sich auch wehrte, Schlange um Schlange glitt aus seinen Armen. O’Dell versuchte, die Fahrertür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Er rüttelte am Griff, hämmerte auf das Schloss ein, aber die Tür bewegte sich nicht. Panisch probierte er es mit den anderen Türen, doch keine ließ sich öffnen. Als er den Zündschlüssel umdrehte, um die Fenster herunterzulassen, gab der Motor keinen Laut von sich.

Das Schlangenmeer reichte ihm jetzt bis zu den Knien, und es wurden immer mehr. Sie krochen über ihn, ließen ihre Zungen hervorschnellen und zischten. Er spürte ihr Gewicht auf seiner Brust, zwischen seinen Beinen, auf seinen Schenkeln. Kleine und große Leiber verknoteten sich überall auf seinem Körper zu wimmelnden Bündeln. Als ein großes Exemplar von der Rückbank auf den Beifahrersitz gekrochen kam und sich neben ihm niederließ, blieb O’Dell die Luft weg.

Eine Python. Zentimeter um Zentimeter schob sie sich nach vorn, das Tier schien gar kein Ende zu nehmen.

O’Dell blieb keine Wahl. Er war in seinem SUV gefangen, die Schlangen glitten über ihn, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Als der Riesenpython auf seine Brust zu glitt, zog er seine Glock aus dem Holster. Er wusste, wie Pythons töteten. Sie zerquetschten ihre Opfer und fraßen sie dann in einem Stück. Er wollte nicht als Schlangenscheiße enden.

Reptilien waren O’Dells größter Albtraum. Sich die Schlangen, die eine Sache, vor der er panische Angst hatte, auf die Arme tätowieren zu lassen, war eine Herausforderung gewesen. Ein verdammter Witz. Aber jetzt war ihm ganz und gar nicht nach Lachen zumute. Als sich der Python um sein Bein wickelte, zielte er und drückte ab.

Das Mündungsfeuer blendete ihn, und der Schuss machte ihn taub, doch den stechenden Schmerz, der durch seinen Körper schoss, spürte er noch. O’Dell schrie wie ein Mädchen.

West Hollywood

Fiona gab den Versuch zu schlafen auf. Stundenlang hatte sie an die Schlafzimmerdecke gestarrt und ein Gespräch mit Alexander durchgespielt, zu dem es niemals kommen würde. Mittlerweile hatte ihre Wut ein fast unerträgliches Ausmaß erreicht. Alexander Reese, ein Mann, der sie ihrer Meinung nach für ebenbürtig gehalten hatte, hatte sie absichtlich aus einer höchst wichtigen verdeckten Operation ausgeschlossen. O’Dell hatte das Privileg erhalten, den Darby-Jungen zu entführen – ihre Entdeckung.

Es war einfach nicht fair.

Sie schaltete die Nachttischlampe ein und griff nach der Akte, die sie über den neuen Jungen angelegt hatte – den anderen. Hasserfüllt starrte sie sein Foto an. Ein gut aussehender Junge, den sie bald kennenlernen würde, daran hatte Fiona keinen Zweifel.

„Verlass dich drauf“, flüsterte sie und rieb sich mit dem Fuß ihren Unterschenkel, der unangenehm kribbelte. Sie studierte das vergrößerte Überwachungsfoto, das beste von dem Jungen, das sie hatte. Während sie sich weiter am Bein kratzte, prägte sie sich jede Facette seines hübschen Gesichts ein. Diese Augen würde sie niemals vergessen.

Als sie leises Flügelsurren hörte, zuckte ihr Blick zu ihrer Nachttischlampe. Ein Schatten krabbelte über das Licht, und Fiona setzte sich ruckartig auf und rollte die Akte zusammen. Das war eindeutig der größte Käfer, den sie jemals gesehen hatte, und gleich hatte sein letztes Stündlein geschlagen.

Sie verabscheute Insekten.

Dann spürte sie etwas an ihren Knöcheln, schrie auf und riss ihre Decke weg. Hunderte von Kakerlaken krabbelten über ihren ganzen Körper, unter ihr Nachthemd, auf ihrer bloßen Haut. Sie waren überall! Fiona sprang aus dem Bett, doch die Insekten knackten unter ihren Füßen, und sie rutschte aus. Sie waren in ihrem Haar, in ihrem Gesicht, an Orten, an die sie nicht einmal denken wollte. Es war unerträglich.

Fiona schrie, durchkämmte hektisch ihre Haare mit den Fingern und kratzte sich die Haut blutig. Die Laken bewegten sich, und mehr und mehr Kakerlaken krabbelten unter dem Bettzeug hervor.

Sie hielt es nicht mehr aus und riss sich das Nachthemd vom Leib. Dann rannte sie ins Badezimmer, doch die grauenhaften Käfer verfolgten sie. Es gab kein Entkommen. Sie riss die Tür zur Duschkabine auch, doch auch aus dem Abfluss quollen Kakerlaken. Es gab keinen Ort, an dem sicher war.

Aus schierer Verzweiflung rannte sie aus dem Haus – nackt und schreiend wie am Tag ihrer Geburt. Hunde kläfften. Außenlampen sprangen an. Ein Mann, der im Pyjama den Müll nach draußen brachte, starrte sie an, als sie schreiend den Hügel hinab und direkt auf ihn zu lief. Er tat nichts, um ihr zu helfen, sondern hob nur sein Handy, um ihre Entwürdigung auf Video aufzuzeichnen.

Fiona würde der nächste YouTube-Hit werden. Aber abgesehen davon, dass ihr Hintern dank Pilates in Bestform war, leider nicht in einer ihrer Sternstunden.

Zentrum von L.A.

Boelens spürte, wie sich die Angst immer tiefer in sein Gehirn vorarbeitete, und er konnte nichts dagegen tun. Blendendes Licht stach in seinen Augen, und immer lauter werdendes wildes Geheul schallte durch die Gänge. Bildete er sich die Schatten der Pitbulls, die vor dem Licht vorbeihuschten, nur ein? Ihre Schädel waren blutverschmiert und sie fletschten die Zähne, als hätten sie bereits einen Kampf hinter sich. Er betete, dass sie nur Hirngespinste waren, aber einen Irrtum konnte er sich nicht leisten.

Er schnappte sich sein Sturmgewehr und zielte auf die rasenden Hunde, aber ehe er den Abzug betätigen konnte, hörte er seinen Namen. Ein heiseres Flüstern streifte sein Ohr. Blind schlug er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und riss seinen Kopf herum, doch da war niemand. Als er seinen Namen erneut hörte, wirbelte er mit schussbereitem Gewehr auf dem Absatz herum.

Was er sah, raubte ihm den Atem.

Er starrte direkt in die anklagenden Gesichter eines Heers von Toten. Ihre Körper waren brutal behandelt worden, alles Wunden, die Boelens ihnen zugefügt hatte. Kopfschüsse, aufklaffende Kehlen, Verstümmelungen, die er niemals vergessen würde. Es waren Männer, die er getötet hatte. Er konnte sich an jeden einzelnen erinnern – wie sie gestorben waren, wie ihre letzten Atemzüge geklungen hatten, wie sie ihn im Moment ihres Todes angesehen hatten. Er hatte es niemals jemandem erzählt, aber diese Gesichter suchten ihn nachts heim.

Sie waren der Preis dafür, dass er noch am Leben war.

Niemand wusste von seinen wiederkehrenden Albträumen – seinen dunkelsten Ängsten. Aber Kendra Walker hatte schon einmal ihren Weg in seinen Kopf gefunden. Er war ihr zum Opfer gefallen, und diesen Übergriff würde er niemals vergessen. Der Gedanke an sie schenkte ihm Kraft, denn er machte ihn wütend. Er brauchte keine Erlaubnis, um ihren Arsch zu pulverisieren. Eigentlich wollte O’Dell doch nur Skywalker. Princess war diesmal zu weit gegangen. Soweit es sie betraf, war es ihm scheißegal, was die Kirche wollte. Sie war kein Mensch.

„Nichts davon ist real“, sagte er. „Nur Skywalker und Princess.“

Boelens zielte jetzt auf Kendra Walker. Er wusste, dass er die Toten nicht noch einmal töten konnte. Aber er konnte sich an den Lebenden rächen.