Der heulende Wind in den Tunneln machte es Boelens unmöglich, sich zu konzentrieren, während er mitansehen musste, wie seine Mission aus dem Ruder lief. Seine Männer waren desertiert. Die kleinen Psychofreaks lagen bewusstlos und erntebereit vor ihm auf dem Boden. Jeder von ihnen war für Boelens bares Geld wert, doch es gab Dinge, die ihm wichtiger waren als der schnöde Mammon. Rache zum Beispiel. Dass er noch immer von den albtraumhaften Dämonen der Männer, die er getötet hatte, verfolgt wurde, war ihm gleich. Denn er war sich sicher, dass er das Theater mit einem einzigen Todesschuss beenden konnte – und Kendra Walker war in Sichtweite.
Aber etwas ließ Boelens zögern. Eine Bewegung, die er im Augenwinkel wahrnahm.
„Waffe fallen lassen … oder ich schieße.“ Ein kleines Stimmchen, das versuchte, tapfer zu klingen.
Boelens spähte in die Dunkelheit. Ein Mädchen trat ins Mondlicht. Ihre Haare und Kleider flatterten im Wind, und ihre Hände zitterten, als sie ihre Pistole auf ihn richtete.
Er lächelte.
„Du hast nicht mal entsichert“, rief er laut genug, damit sie ihn auch über den Wind hinweg hören konnte. „Leg die Waffe weg, ehe du jemandem wehtust.“
Das Mädchen blinzelte und schluckte schwer.
„Rayne, was machst du denn hier?“, rief der Darby-Junge dem Mädchen zu. „Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht nach mir suchen sollst!“
Boelens wusste sofort, wer sie war.
„Aber ich musste es tun, Luke.“ Das Mädchen umklammerte die Waffe fester und behielt Boelens im Blick.
„Wer ist sie?“, fragte Kendra.
„Sie ist meine Schwester, und sie ist nicht wie ich. Bitte tun Sie ihr nicht weh.“ Der Junge flehte ihn an, seine Schwester am Leben zu lassen. Echt rührend.
Ganz plötzlich legte sich der starke, heiße Wind, und eine gespenstische Ruhe klingelte in Boelens’ Ohren. Er drehte sich um und sah, wie sich die Dämonen einer nach dem anderen in Luft auflösten. Verdammt. Aus der Ferne hörte er Schritte durch die Dunkelheit näher kommen. Als sie lauter wurden, richtete er sein Gewehr auf die Schatten.
Ein groß gewachsener Junge in Jeans, Wanderstiefeln und einem schwarzen Dead-Gone-Wrong-T-Shirt löste sich aus dem Dunkel. Mit seinem langen, dunklen Haar wäre er auf den Straßen L.A.s als Rockstar durchgegangen, nur dass er das Gesicht eines Chorknaben hatte. Sein Blick war intensiv, und er nutzte ihn wie eine Waffe.
„Hallo“, sagte der Junge.
Er warf Kendra und Darby einen Blick zu. Einen Moment lang feierten die drei eine total schräge Glotzparty, dann richtete der Junge seine Aufmerksamkeit wieder auf Boelens und lächelte.
„Na, machst du einen kleinen Spaziergang?“ Boelens lachte. Der Junge hatte Eier, das musste man ihm lassen. „Du wirst dir noch wünschen, du hättest eine andere Abkürzung genommen.“
„Ganz im Gegenteil, ich bin genau da, wo ich sein will. Können Sie dasselbe auch von sich behaupten?“
Der Junge hatte einen leichten britischen Akzent, aber das war es nicht, was Boelens’ Aufmerksamkeit packte. Die Kontrolliertheit in der Stimme des Jungen überraschte ihn. Boelens sah ihn scharf an.
„Dann bist du also so ein Freak wie die?“, fragte er.
„Ein Freak? Nein. Haben Sie es noch gar nicht mitbekommen? Wir sind das neue Normal. Sie sind hier in der Minderheit. Beunruhigt Sie das gar nicht? Das sollte es nämlich.“ Der Junge erwartete keine Antwort. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen. „Rayne, tu mir bitte den Gefallen und nimm die Waffe runter. Wir werden sie nicht brauchen.“
„Aber …“, stammelte sie und sah ihn erstaunt an. „Nicht mal als kleine Absicherung?“
„Ich dachte, du vertraust mir.“
Das Mädchen schluckte schwer, tat aber, worum er gebeten hatte, bückte sich und legte die Waffe auf den Boden. Dann ging die Kleine auf den Rocker-Typen zu. Du überheblicher kleiner Bastard. Boelens grinste. Langsam wurde die Sache interessant. Und alles entwickelte sich zu seinen Gunsten.
„Da ihr beide so entgegenkommend seid, könntet ihr uns auch einfach begleiten“, sagte Boelens. „Ich kenne da ein paar Leute, die euch liebend gerne in die Finger bekommen würden. Im Truck ist noch Platz. Was sagt ihr? Wird eine richtige Party.“
„Wie ich Ihnen versichern kann, würde sich die Church of Spiritual Freedom sogar ganz außerordentlich darüber freuen, mich zu sehen.“ Bei diesen Worten des Rocker-Jungen wechselten Darby und Kendra einen überraschten Blick. Auch Boelens war erstaunt, den Namen der Kirche zu hören.
„Allerdings habe ich nicht die Absicht, Sie zu begleiten … oder zuzulassen, dass Sie sonst jemanden mitnehmen. Sieht ganz so aus, als müssten wir einen Weg finden, uns zu einigen, bevor Sie diesen Ort verlassen.“
„Soll mir das Angst machen?“
„Ja, das sollte es, aber das hängt natürlich ganz davon ab, wie klug Sie sind.“
Boelens knirschte mit den Zähnen und verstärkte seinen Griff um das M4. Er war kurz davor, den Abzug zu drücken.
„Das Gewehr werden Sie nicht brauchen“, sagte der Junge. „Bitte legen Sie es weg.“
Boelens lachte schnaubend, doch als seine Hände anfingen zu brennen, als wäre die Waffe aus Säure, sah er nach unten. Das M4 glühte wie geschmolzene Lava.
„Scheiße!“ Er schleuderte das Gewehr von sich und warf dem Jungen einen hasserfüllten Blick zu. „Ich brauche keine Waffe, um dich umzulegen.“
Rocker-Junge zuckte nicht mal mit der Wimper. „Ich auch nicht.“
Das ließ Boelens innehalten.
„Ihre Männer sind nirgends zu sehen“, fuhr der Junge fort. „Sie haben kein Gewehr, und ich werde nicht zulassen, dass Sie meine Familie mitnehmen. Aber mit leeren Händen müssen Sie trotzdem nicht gehen.“
Darby und das Walker-Mädchen traten an seine Seite. Die Schwester auch. Boelens stand vor einer Wand aus Ablehnung.
„Ich höre.“
„Was, wenn ich Ihnen im Austausch gegen unsere Freiheit etwas geben würde, das einen großen Wert für Sie hat? Sie müsste einfach nur fortgehen und uns in Ruhe lassen. Ein temporärer Waffenstillstand.“
„Und das ist alles?“
„Nun ja, eigentlich nicht. Danke, dass Sie fragen. Ich würde Sie außerdem bitten, eine Nachricht für mich zu überbringen, aber darüber werden wir später sprechen. Das macht Ihnen doch nichts?“
Boelens schüttelte den Kopf.
„Und was hast du kleiner Klugscheißer, das ich wollen könnte?“
„Ich spüre etwas in Ihnen.“ Der Junge kam näher, ohne Boelens aus den Augen zu lassen. „Seelenfrieden lässt sich nicht einmal mit dem größten Bonus aller Zeiten kaufen, sind wir uns da einig?“
„Wovon redest du da?“
„Ein sehr kluges und liebenswertes Mädchen hat mich einmal gefragt, ob ich mein Leben ändern würde, wenn ich es könnte. Und jetzt stelle ich Ihnen dieselbe Frage. Was würden Sie dafür tun, auch nur eine einzige Nacht lang ruhig zu schlafen?“
Boelens starrte den Jungen verwirrt an, bis er endlich begriff, wovon er sprach.
„Du. Du warst das“, spie er hervor. „Wie hast du das gemacht? Ich habe nie jemandem von meinen Albträumen erzählt. Du grausamer Bastard.“
„Kommen Sie schon.“ Der Junge grinste. „Das war doch nur ein kleiner Vorgeschmack. Ich habe eine Menge Wes-Craven-Filme gesehen, und Saw 3D ist ein echter Klassiker! Ich könnte viel schlimmere Dinge heraufbeschwören, glauben Sie mir.“ Ehe Boelens auch nur den Mund öffnen konnte, fuhr der Rocker-Junge fort: „Aber wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen, mache ich reinen Tisch für Sie. Sie könnten sich nicht einmal mehr an das Grauen erinnern, das Sie im Namen Gottes und dieses Landes und des allmächtigen Dollars verrichtet haben. Ich könnte Ihnen einen Neuanfang schenken. Was halten Sie davon?“
Boelens sagte nicht Ja, aber er sagte auch nicht direkt Nein.
„Der nächste Mann, den Sie töten, geht dann allerdings wieder auf Sie.“ Der Junge zuckte mit den Achseln. „Auf meine Arbeit gibt es keine Gewährleistung.“
Sah ganz so aus, als hätte Boelens noch einen Irren gefunden, den er aufrichtig hassen konnte. „Schätze, ich wäre wahnsinnig, wenn ich dein Angebot ablehne.“
„In dieser Hinsicht sind wir uns absolut einig.“
„Aber genau das werde ich tun. Kein Deal.“ Er hätte gedacht, dass der Junge erstaunt sein würde über die Abfuhr, doch so war es nicht.
„Tut mir leid. Habe ich den Eindruck erweckt, dass ich um Ihre Erlaubnis bitte?“ Rocker-Junge grinste. „Mein Fehler.“
Als diese Spinner auf ihn zukamen, wollte Boelens nach seinem Messer greifen, musste aber feststellen, dass er sich nicht bewegen konnte. Er konnte nicht einmal blinzeln.
Für Rayne war es schockierend, mitanzusehen, wie Gabe diesen Mann im Griff hatte, der sie wohl zu Tode erschreckt hätte, wenn sie ihm alleine begegnet wäre. Und dann half Luke ihm auch noch, ohne dass die beiden ein Wort darüber verloren hätten! Es war, als wüssten die zwei, was der jeweils andere gerade dachte. Was sie daran erinnerte, dass sie anders war als sie und es für immer bleiben würde.
Sie konnte sich eine Zukunft voller Menschen wie Lucas und Gabriel vorstellen und fand den Gedanken sogar ziemlich cool. Aber was, wenn nach ihnen andere kamen, die dieselben Kräfte hatten, aber keine guten Absichten verfolgten? Sie musste zugeben, dass diese Vorstellung verdammt Angst einflößend war.
Nachdem Gabriel sein Voodoozeug mit dem Typen veranstaltet und ihm einen Zettel mit der Botschaft überreicht hatte, die er überbringen sollte, begleitete er den Mann zusammen mit Kendra nach draußen, um sicherzugehen, dass er Truck und Autoschlüssel daließ. Und so blieb Rayne alleine mit Lucas zurück.
Bei ihren Besuchen im Krankenhaus waren sie immer beobachtet worden, und so konnte sie sich nicht erinnern, wann sie Lucas zum letzten Mal für sich gehabt hatte, ohne dass sein Gehirn von Medikamenten umnebelt war.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du gekommen bist, um mich zu holen“, sagte er.
In Raynes Hals bildete sich ein dicker Kloß. Lucas sah müde aus, aber in seinen Augen leuchtete ein Feuer, das sie noch nie an ihm gesehen hatte. Es gefiel ihr. Sie wollte ihm alles erklären, sich entschuldigen, sofort ihr ganzes Herz ausschütten. Endlich hatte sie ihren Bruder vor sich, aber Luke ließ sie nicht zu Wort kommen. Er eilte zu ihr, zog sie in seine Arme und wirbelte sie herum, bis ihr ganz schwindelig war. Sie schloss die Augen und hielt ihn fest, verdrängte all die Besuche im Krankenhaus, bei denen er sie nicht erkannt hatte, weil die Medikamente ihren kleinen Bruder gestohlen hatten.
Rayne konnte nicht anders. Sie weinte. Und Lucas weinte auch. Sie spürte sein lautloses Schluchzen und wusste, dass es einem ganzen Leben aus Reue und Trauer entsprang, das sie miteinander geteilt hatten.
„Ich liebe dich, Luke.“
„Daran habe ich nie gezweifelt.“
Ihre Zukunft war mehr als unsicher. Alles, was sie gehabt hatten, war fort, aber dafür bekamen sie die Chance, noch einmal von vorne anzufangen. Und sie hatten einander.
Das war schon mal ein Anfang.
Eine Stunde später – Sonnenaufgang
Nach dem Angriff ging die Sonne genauso auf wie immer und badete Kendras Garten in ihrem frühmorgendlichen Licht. Doch diesmal schenkte ihr der Anblick der Pflanzen keine Freude. Er erinnerte sie nur daran, dass das Leben weiterging, obwohl ihre Welt – ihrer aller Welt – zerschmettert worden war.
Die Überlebenden hatten sich im Gemeinschaftsbereich versammelt und beobachteten, wie Kendra sich schweigend setzte. Niemand redete. Alle warteten. Jedes Schniefen, jedes Schluchzen war wie ein Dolchstoß in Kendras Herz. Immer, wenn ein Geräusch aus den Tunneln drang, fuhren die Kinder herum, um zu sehen, wer dort kam. Kendra tat dasselbe, doch als die Zeit verstrich, spürte sie die Hoffnung aus ihrer Seele schwinden.
Dort, wo Raphael gewesen war, klaffte ein Loch in ihrem Herzen. Der Schaden, der ihrer Familie zugefügt worden war – und allem, was sie und Raphael gemeinsam hatten aufbauen wollen –, tat ihr in der Seele weh. Sie konnte sich keine Zukunft ohne ihn vorstellen. Die Überlebenden zu sehen war ihr einziger Trost gewesen.
Diejenigen, denen man Betäubungsmittel injiziert hatte, erwachten langsam aus ihrem Schlaf. Lucas’ Schwester Rayne kümmerte sich um sie. Sie hatte um eine Aufgabe gebeten, weil sie eine Beschäftigung brauchte, um sich abzulenken. Lucas und Gabriel hatten sich auf die Suche nach den Vermissten gemacht. Sie waren nur ein einziges Mal zurückgekommen. Lucas hatte in dem Geröll, das die Explosion hinterlassen hatte, ein Unendlichkeitsarmband gefunden und es Kendra gebracht.
Raphael.
Sein Name war die letzte Botschaft, die sie ihnen allen schickte. Luke kniete sich vor sie und küsste ihre Wange. Sie umklammerte das Armband und wiegte sich vor und zurück.
„Du solltest wissen, dass wir ihn vielleicht niemals finden werden. Die Explosion hat großen Schaden verursacht“, flüsterte Lucas und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar, doch sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Alles, was sie sah, war Raphael.
„Wir suchen nach weiteren Überlebenden. Die Zwillinge und noch ein paar andere sind auf dem Weg hierher.“ Gabriel stand in der Nähe ihres zerstörten Gartens und richtete das Wort an alle. „Wir suchen auch dort, wo die Explosion den Tunnel zum Einsturz gebracht hat, aber der Schaden ist gewaltig, und … wir sind hier nicht mehr sicher. Falls einige der Vermissten bei dem Angriff entführt wurden, werden wir vielleicht nie erfahren, was mit ihnen passiert ist.“
Kendra spürte die Vergeblichkeit ihres Vorhabens besonders stark, weil sie wusste, dass die Uhr tickte. Die Believers waren wie Aasgeier. Sie würden sie niemals in Frieden lassen, besonders nicht, solange sie im Vorteil waren. Der Waffenstillstand war nur durch Gabriel zustande gekommen, und sie wusste nicht, wie lange er andauern würde.
Sie blickte auf das schwarze Lederarmband in ihrer Hand. Ihr war klar, dass die Sicherheit der Lebenden an erster Stelle stand, aber bei dem Gedanken, die Toten und Vermissten zurückzulassen, wurde ihr ganz anders. Es fühlte sich falsch an. Noch eine bittere Ungerechtigkeit, die sich auf den wachsenden Berg ihres Versagens häufte. Auch Raphael gegenüber hatte sie versagt.
Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, hätte sie fast die Beherrschung verloren. Doch als sich plötzlich leises Raunen über den Gemeinschaftsbereich legte, drehte sie sich um, um zu sehen, wo alle hinguckten. Was sie sah, nahm ihr das letzte bisschen Selbstbeherrschung. Auf wackeligen Beinen und mit zitternden Lippen stand sie auf.
Den Blick unverwandt auf Kendra gerichtet, betrat Raphael den Gemeinschaftsbereich. Es war totenstill. Sein Gesicht war eine Grimasse des Entsetzens, und jeder Schritt schien ihn zu schmerzen. Auf seiner Jeans schimmerte ein dunkler Blutfleck. Kendra wusste nicht, ob das Blut seines war. Doch was Kendra das Herz zerriss, war etwas anderes. Wenn sie überhaupt noch einen Funken Hoffnung für ihre Zukunft gehabt hatte, dann zersprang er jetzt.
Raphael trug Bennys toten Körper in seinen Armen.