20. KAPITEL

Als die Kinder Raphael den Weg zu Kendra durch den Gemeinschaftsraum freimachten, berührten sie einer nach dem anderen den Kopf des toten Jungen. Rafe trug Benny so, als würde er nur schlafen. Dabei sah er selber so aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Vor Kendra blieb er stehen, und sie legte eine zitternde Hand an Bennys Wange.

Seine Haut war kalt.

Sie wollte das Blut von ihm abwaschen, Leben in seine kleinen Lungen hauchen und hören, wie sein Herz wieder sanft zu schlagen begann. Doch es war zu spät. Sie dachte an sein kurzes Leben, das jene, die ihn hätten lieben sollen, zu einem Leidensweg gemacht hatten – und nun das.

Als sie sah, dass Rafe noch immer sein Armband trug, umklammerte sie das Gegenstück in ihrer Hand fester – das Geschenk, das er Benny gemacht hatte. Raphael sah mit wut- und schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr herab.

Ihr fehlten die Worte, um ihn zu trösten.

„Wir k-können ihn … nicht h-hierlassen.“ Raphael musste sich jedes Wort einzeln abringen. „Das hier ist n-nicht mehr unser Zuhause.“ Er schüttelte den Kopf und blickte auf Bennys Gesicht. „Ich weiß nicht, wie ich ihn bestatten soll.“

Raphael brach vor ihr in die Knie und klammerte sich an Benny fest. Als Kendra ihn, den Leichnam des kleinen Mannes zwischen ihnen, festhielt, begann er zu schluchzen. Rafe war verletzt, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Seine innere Verbindung zu ihr und den anderen musste durchtrennt worden sein, als er verletzt wurde. Deswegen hatte sie ihn nicht mehr spüren können und gedacht, dass er tot war. Im ersten Moment, als sie Raphael – lebendig – in den Gemeinschaftsbereich hatte laufen sehen, war sie unendlich froh gewesen, dass er nicht ums Leben gekommen war. Doch nachdem sie begriffen hatte, wen er im Arm trug, war ihr klar geworden, dass er nur zu gerne die Stelle des Jungen eingenommen hätte.

Der Tod hatte mehr eingefordert als einen kleinen Jungen.

„Ich bin schuld daran. Ich habe ihn alleingelassen. Ich hätte vorsichtiger sein müssen.“ Jetzt strömten die Worte nur so aus ihm heraus. „Sie sind Benny hierher gefolgt. Er hatte so eine Angst.“

„Nein, du hast versucht, mich davor zu warnen, zu viel Aufsehen zu erregen. Aber ich habe nicht auf dich gehört.“

Kendra hörte Schritte hinter sich. Erst als sie auch die dazugehörige Stimme hörte, wusste sie, wer es war.

„Was mit diesem Jungen passiert ist … und dem Zuhause, das ihr euch aufgebaut habt … all das ist ihre Schuld. Trauert um den Jungen, aber gebt euch nicht die Schuld an seinem Tod.“ Gabriel Stewart sprach ganz offen zu ihnen. „Es gibt einen Ort, an dem wir ihn würdevoll beerdigen und um ihn trauern können.“ Gabriel sprach jetzt so laut, dass alle ihn hören konnten. „Meine Mutter ist dort ebenfalls begraben.“

„Und wo?“, fragte Kendra.

„Nicht weit von hier. Wer mich dorthin begleiten will, ist herzlich eingeladen.“

„Sind wir dort in Sicherheit? Wenigstens für eine Nacht?“, fragte sie. „Wir haben viele Verletzte. Auch Raphael ist verwundet. Er ist so blass. Ich befürchte, dass er viel Blut verloren hat.“ Sie drehte sich zu Rafe um, der völlig benommen wirkte. Falls er verletzt war, spielte das für ihn gerade keine Rolle. Sie musste sich um die beiden kümmern, um Raphael und um den toten Benny. „Wir brauchen medizinische Versorgung, und die Kinder müssen essen. Sie brauchen …“

Als Gabriel neben ihr und Raphael in die Knie ging, hörte sie auf zu reden. Er legte seine Hände auf ihre Schultern.

„Ich weiß, dass du mich nicht kennst, aber ich will euch helfen. Du musst das hier nicht alleine durchstehen.“ Er blickte auf Benny und strich dem toten Jungen über den Kopf. „Ihr braucht Zeit, um zu heilen … eure Körper und eure Seelen. Bitte nehmt meine Hilfe an.“

Mit Tränen in den Augen nickte Raphael, und Kendra folgte seinem Beispiel. Doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie hörte die Worte über Rafe und die Verwundeten und Essen für die Kinder aus ihrem Mund kommen, als würde jemand anderes sprechen. Sie klang viel stärker, als sie sich fühlte.

Wem machte sie etwas vor? Sie war ein Kind, das nichts besaß, und jetzt hatte sie sogar noch weniger als nichts.

Burbank

Einige Stunden später

O’Dell hatte den Vormittag in der Notaufnahme eines Krankenhauses verbracht, wo er hatte erklären müssen, wie es dazu gekommen war, dass er sich selbst in den Fuß geschossen hatte. Der Vorfall wurde polizeilich gemeldet. Die Kirche sah das sicher gar nicht gerne. Ganz egal, wie oft er den Augenblick reiner Panik im Auto in Gedanken durchspielte, er kam sich jedes Mal wieder vor wie ein Idiot. Die Schlangen waren im Bruchteil einer Sekunde verschwunden. Einfach weg! Er hatte sich die ganze Sache eingebildet, doch er wusste nicht, wie und warum. Nach dem Schuss hatte er, geblendet vom Mündungsfeuer, geschrien wie am Spieß.

Und geblutet wie ein abgestochenes Schwein.

Danach wartete er nicht ab, bis Boelens ihm Bericht erstattete, sondern fuhr los, ehe er verblutete. Jetzt, Stunden später, befanden sich mehrere Nachrichten auf seinem verschlüsselten Handy. Der Einsatz, der eigentlich ein Klacks hätte sein sollen, war zu einem absoluten Desaster geworden – eine Schande, die ihn vielleicht mehr als nur seinen Job kosten würde. Boelens war auf dem Weg zum Bunker. Er würde jede Minute eintreffen. Bis dahin ignorierte O’Dell das Handy, das der Big Boss ihm gegeben hatte, obwohl es alle fünf Minuten klingelte.

Was zur Hölle sollte O’Dell denn sagen?

Auch der Bericht von Boelens erwies sich nicht als große Hilfe.

„Was ist denn mit dir passiert?“ Der Mann starrte auf O’Dells verbundenen Fuß, den er auf einem Stuhl hochgelegt hatte, und die Krücken, die an seinem Schreibtisch lehnten.

„Du kannst dich nicht erinnern?“, fragte er. Als Boelens den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Intensiver Fronteinsatz. Ich hab eine Kugel für einen von deinen Männern eingefangen. Aber ich werd’s überleben.“

Boelens warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

O’Dell versuchte weiter, ihm etwas über die letzte Nacht zu entlocken, doch dabei kam nichts heraus. Was gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht war. Schlecht, weil er so niemals erfahren würde, warum alles aus dem Ruder gelaufen war. Gut, weil er die gesamte Schuld jemandem in die Schuhe schieben konnte, der sich nicht einmal an die Ereignisse erinnern konnte. Eines der Privilegien, wenn man die Verantwortung hatte.

Obwohl O’Dell seinen Mann ordentlich ins Kreuzverhör nahm, hatte Boelens nichts weiter hinzuzufügen. Nur auf einem Punkt beharrte er: Er hatte eine Nachricht für den Big Boss und ließ sich nicht davon abbringen, sie persönlich überbringen zu müssen. O’Dell war nur bereit, Mr Roboter anzurufen, weil sich ihm so eine Möglichkeit bot, Boelens vor den rollenden Zug zu werfen.

Er zog das verschlüsselte Telefon hervor, seine geheime Hotline zum Big Boss. Sein Anruf wurde beim ersten Klingeln angenommen.

„Wo sind Sie gewesen? Warum haben Sie meine Anrufe nicht beantwortet?“ Der mechanische Klang der Stimme am anderen Ende der Leitung machte O’Dell echt wahnsinnig.

„Ich bin angeschossen worden. Hab für das Team eine Kugel mitgenommen, aber das wird schon wieder. Danke der Nachfrage.“

„Ich habe nicht nachgefragt.“

O’Dell ignorierte ihn.

„Mein Mann Boelens sagt, dass er eine Nachricht hat. Für Sie … von diesen Kindern.“

Schweigen. Der Mann brauchte so lange für seine Antwort, dass O’Dell schon dachte, die Verbindung sei unterbrochen worden.

„Holen Sie Boelens an den Apparat“, sagte er schließlich.

„Nicht diese Art von Botschaft. Er sagt, dass er sie Ihnen persönlich überbringen muss.“

O’Dell hörte ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung und wartete angespannt, wie der Mann reagieren würde.

„Ich schicke einen Wagen. Aber Sie kommen auch mit.“

Er legte auf. Der Big Boss ließ ihm keine andere Wahl. Er hatte ihm befohlen zu kommen. O’Dell hoffte, dass er von diesem Ausflug lebend zurückkehren würde.

Zwei Stunden später

Durch das Beobachtungsfenster sah Alexander Reese zu, wie drei seiner Leute O’Dell und Boelens in den nüchternen Raum unter ihm führten. Die beiden Männer trugen schwarze Säcke über den Köpfen, eine Sicherheitsmaßnahme, um die Lage der Zentrale geheim zu halten. Alexander brauchte O’Dells Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, welcher von beiden er war, denn der Mann lief auf Krücken.

Diesmal hatte er sich nicht die Mühe gemacht, Drogen einzusetzen. Dazu war keine Zeit. Sobald er alles arrangiert hatte, hatte er Fiona angerufen. Nachdem seine Bodyguards die beiden Männer alleingelassen hatten, war sie die Einzige, die sich bei ihm hinter der Spiegelscheibe befand. Er setzte sein Headset auf und sprach ins Mikrofon.

„Nehmen Sie die Kapuzen ab und erzählen Sie, was passiert ist.“

Fiona trat näher an die Scheibe heran und hielt ihren Blick auf die Männer gerichtet, die auf zwei Metallstühlen Platz genommen hatten. Beide rutschten unruhig hin und her und konnten die Hände nicht stillhalten, während sie unwichtiges Zeug stammelten.

Fiona konnte sich ein hämisches Lächeln nicht verkneifen. Er wünschte, sie hätte weniger Vergnügen daraus gezogen, dass seine Mission gescheitert war. Sobald Alexander begriffen hatte, dass ihm die Männer nichts Neues mehr zu sagen hatten, unterbrach er sie.

„Gentlemen, damit ist mir nicht geholfen.“ Er biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht in Fionas Richtung zu gucken. „Wie lautet die persönliche Botschaft, die Sie mir überbringen sollten, Mr Boelens? Sie haben mich lange genug auf die Folter gespannt.“

„Augenblick, ich habe sie hier.“ Der Mann holte einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Tasche.

„Haben Sie etwas zu der Nachricht zu sagen?“

„Ich habe sie nicht angesehen. Dachte, das würden Sie nicht wollen. Ist zu persönlich, wissen Sie?“

„Lassen Sie den Zettel hier. Sie können dann gehen. Ich melde mich bei Ihnen“, sagte Alexander. „Die Kapuzen, wenn ich bitten darf.“

Er wartete, bis O’Dell und Boelens nach draußen gebracht worden waren, dann schickte er Fiona los, um die Nachricht zu holen. Als sie zurückkam, sah er sich den Zettel genauer an. Seltsam. Auf einer Seite des Papiers befand sich eine detaillierte Karte, der Grundriss eines Konstrukts, das sich in der Innenstadt von L.A. befinden musste. Doch dann begriff er, dass sich die eigentliche Botschaft auf der Rückseite befand. Er erkannte den Stil der Zeichnung sofort. Was ihn allerdings wirklich erschreckte, war das Gesicht, das ihm entgegenstarrte.

Sein Gesicht.

Seine schockierte Miene machte Fiona neugierig. Als sie einen Blick über seine Schulter warf, schnappte sie nach Luft.

„Wer hat …?“ Doch sie beendete ihren Satz nicht. Denn auch sie hatte das Werk dieses Künstlers schon einmal gesehen. „Wie kann er von Ihnen wissen? Wir waren so vorsichtig.“

Fiona war verblüfft, doch als sie sich die Details der Zeichnung genauer ansah, erkannte sie schließlich das wahre Problem. Sie hielt die Zeichnung hoch, um den Hintergrund zu vergleichen, und sah Alexander mit großen Augen an.

„Wie konnte er wissen, wo genau Sie sich aufhalten würden … und was Sie anhaben?“, fragte sie.

Alexander Reese knirschte mit den Zähnen, riss ihr die Zeichnung aus der Hand und starrte erneut darauf. Er hatte nicht vor, ihre Frage zu beantworten.

Bristol Mountains

Drei Tage später

Wie Gabe erwartet hatte, gewährte Onkel Reginald den Indigos ohne zu zögern Unterschlupf. Tatsächlich war er sogar gerührt, dass sein Neffe ihn um Hilfe bat. Obwohl vielen der Kinder ein eigenes Zimmer angeboten worden war, wollten sie lieber gemeinsam in einem Raum schlafen. So waren sie es gewöhnt. Sie teilten sich Betten und machten es sich auf dem Boden gemütlich, taten alles, um nicht allein sein zu müssen. Die Nächte waren besonders hart. Wenn Gabe nachts durch die Flure lief, hörte er leises Schluchzen und wie sich die Kinder gegenseitig trösteten, wenn sie Albträume hatten. Sie kümmerten sich umeinander.

Schlimm genug, dass all das überhaupt nötig war.

Sein Onkel hatte ein paar alte Gefallen eingelöst, um die Verwundeten medizinisch versorgen zu lassen und Benny zu einer angemessenen Beerdigung zu verhelfen. Bei den Vorbereitungen achtete er stark darauf, ihre Anonymität zu wahren. Wenn jemand verstand, dass die Indigokinder Privatsphäre brauchten, dann er. Sie zu schützen war für ihn ganz selbstverständlich. Es lag in seiner Natur.

Auch Frederick trug seinen Teil dazu bei, dass sich die unerwarteten Gäste wohlfühlten. Abgesehen von Gabe und seinem Onkel konnte nur Rafe den Butler sehen, wenn er sich nicht absichtlich zeigte. Frederick empfand es als seine persönliche Aufgabe, Rafe begreiflich zu machen, dass er etwas Besonderes war. Er kümmerte sich um den Jungen und wachte selbst in seinem unruhigen, gequälten Schlaf über ihn.

Wenn Rafe wach war, warf er mit Blicken um sich, die töten konnten, und weigerte sich beharrlich, die Existenz des Geisterbutlers anzuerkennen. Aber Gabe war sich absolut sicher, dass Frederick den Kampf schließlich gewinnen würde.

Nach Einbruch der Dunkelheit

Rafe hatte kein Wort mehr gesprochen, seit er Benny in den Gemeinschaftsbereich getragen und Kendra alles Nötige erzählt hatte. Er tat, was man ihm sagte, aber eigentlich war er nicht wirklich anwesend. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, doch es war der Verlust von Benny, der jedes Gefühl in ihm abgetötet hatte. Selbst als Kendra den Verband um die Schusswunde in seiner Seite wechselte, die er sich zugezogen hatte, nachdem einer von diesen elenden Bastarden mit einer Kugel auf seinen Baseballschläger reagiert hatte, hatte er nichts zu sagen. Ein Gewitter war aufgezogen und blieb. Das Rumpeln des Sturms und das unaufhörliche Regengeprassel verstärkten seine Trauer und gaben ihm das Gefühl, einsamer zu sein als jemals zuvor, obwohl Kendra bei ihm war.

Nur in Jeans lag er auf einem ungemachten Bett und ließ sich von ihr behandeln. Sie befürchtete, ihm wehzutun, aber das war gar nicht mehr möglich. Alles in ihm war tot. Kendra erzählte ihm Geschichten über die anderen, doch er hörte gar nicht zu, bis sie sagte …

„Morgen beerdigen wir Benny.“ Sie gab ihm Zeit, doch er schaffte es einfach nicht, ihr zu antworten.

Er richtete seinen Blick auf sie. Wollte ihr erklären, wie er sich fühlte, dass er es hätte sein sollen, der starb, nicht Benny, aber er brachte kein Wort heraus. Es fühlte sich nicht real an, dass sie Benny nun für immer unter die Erde bringen würden. Wenn er schon die Fähigkeit besaß, die Toten zu sehen, warum konnte er dann Benny nicht mehr spüren? Warum verfolgte ihn der Geist des kleinen Mannes nicht, nicht mal für ein Weilchen? Vielleicht wollte er die Antwort gar nicht kennen.

Schließlich ließ Kendra ihn wieder alleine in dem Zimmer, das so groß war, dass sie alle gemeinsam darin hätten schlafen können. Er bekam nicht mal mit, dass sie fort war. Er konnte nur an Benny denken. Er wusste nicht, wie er sich am nächsten Tag von ihm verabschieden sollte. Die Leute würden erwarten, dass er etwas sagte. Aber er hatte keine Ahnung, was. Worte hatten keine Bedeutung mehr für ihn.

„Verzeihen Sie mein Eindringen.“ Eine leise Männerstimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Kaum mehr als ein Flüstern.

Als Rafe sich umdrehte, sah er Frederick. Schweigend starrte er den Geist finster an. Den toten Butler zu sehen erinnerte ihn nur daran, wie sehr er sich wünschte, dass ihm auch Benny erscheinen würde … für den Rest seines Lebens.

„Schon in Ordnung, Sie brauchen nichts zu sagen. Ich bin nur gekommen, um Ihnen mitzuteilen, wo sich Benny befindet. Ich dachte, ehe der Sarg versiegelt wird, würden Sie gerne …“

Mühsam setzte Rafe sich auf. Er hatte nur ein Wort für Frederick übrig, ein Wort, das ihn selbst überraschte. „Ja.“

Rayne fühlte sich immer ruheloser, je stärker das Unwetter um das Anwesen toste. Der Klang von Regen und Donner machte sie nervös, aber das war nicht alles, was ihr Sorgen bereitete. Nachdem sie geholfen hatte, das Essen an die Kinder auszuteilen und die Kleinsten ins Bett zu bringen, war ihr aufgefallen, dass sie Gabriel seit Stunden nicht mehr gesehen hatte.

Sie suchte die dunklen Gänge des Herrenhauses ab und sah auch in seinem Zimmer nach, fand ihn aber nicht, bis sie Licht im Ruheraum entdeckte. Als sie die schwere Tür aufdrückte, blendete sie das Kuppelzimmer fast mit seiner wilden Schönheit. Der Klang des Donnergrollens vibrierte durch das Amphitheater, und riesige Blitze zuckten über das Innere der Kuppel. Die Projektion spiegelte das tosende Gewitter draußen wider – und alles für einen einzigen Zuschauer.

Gabriel saß alleine in den Stuhlreihen. Reglos. Er starrte an die Decke, die ihn in lebhafte Farben tauchte. Als Rayne sich neben ihn setzte und ihre Hand in seine schob, richtete er seine schönen Augen auf sie. Einen Moment lang vergaß sie zu atmen.

„Regen erinnert mich an meine Mutter.“

Trotz des Donnerns des Gewitters nahm seine Stimme sie gefangen, als wäre sie das einzige Geräusch im Raum.

„Sie hat Regen geliebt, in all seinen Formen. Prächtige wilde Stürme, sanften Frühlingsregen. Sie hatte nie Angst vor ihm. Meine Mutter respektierte seine Fähigkeit, zu reinigen und zu erneuern.“ Er drückte ihre Hand. „Sie hat ihre Liebe zum Regen mit mir geteilt und mir beigebracht, in ihm zu tanzen.“

Er lächelte ohne echte Freude. Etwas Dunkles schien seine Seele fest im Griff zu haben.

„Meine Mutter ist in ihrem Wagen gestorben. Es hatte geregnet.“ Er seufzte tief. „Sie hatte nur ein paar Erledigungen gemacht und war auf dem Weg, um mich in dem Motel abzuholen, in dem wir gerade wohnten. Wir wollten eine kleine Auszeit vom Zirkus nehmen und uns den Grand Canyon ansehen. Aber es war nicht das schlechte Wetter, das sie umbrachte. Es war mein Vater.“

„Was? Was ist passiert?“ Sie hielt seine Hand ganz fest und drückte einen Kuss darauf.

„Er hatte herausgefunden, was wir sind, und ein paar Männer geschickt, die mich mitnehmen sollten. Sie wusste, was das bedeutete, und dass sie mich niemals wiedersehen würde, wenn er mich schnappte. Und das konnte sie nicht zulassen.“ Eine Träne rann über seine Wange. Er wischte sie nicht fort. „Sie hat mich von ihrem Wagen aus angerufen. Ich hatte kaum Zeit, unsere Sachen zusammenzupacken und mich zu verstecken. Sie hatte recht gehabt. Sie kamen, aber wir hatten einen geheimen Treffpunkt ausgemacht. Doch wir haben uns niemals wiedergesehen. Ich habe übers Fernsehen von ihrem Tod erfahren.“

„Wie schrecklich! Es tut mir so leid.“ Rayne wusste, wie es sich anfühlte, alles zu verlieren. „Und was hatte dein Vater mit dem Unfall zu tun?“

„Es war gar kein Unfall. Die State Troopers sagten, dass sie von der Straße abgekommen sei. An ihrer hinteren Stoßstange befanden sich Lackspuren von einem anderen Fahrzeug. Sie haben sie über eine Klippe gedrängt. Meiner Meinung nach wurde sie ermordet, Rayne. Die Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis, es gab nicht einmal Verdächtige. Mein Vater hatte natürlich ein Alibi, aber trotzdem kann er jemanden damit beauftragt haben.“

Was als Kluft zwischen Vater und einem Sohn, den er nicht verstand, begonnen hatte, war zu Hass und Bitterkeit geworden. Gabriel starrte auf die Bilder, die über seinen Kopf hinwegglitten, und atmete tief durch, bis er wieder sprechen konnte.

„Deswegen erinnert mich Regen immer an meine Mutter. Daran, wie sie gelebt hat und wie sie gestorben ist. Ich bin hergekommen, um sie noch einmal bei mir zu spüren.“

Bennys Tod hatte Rayne genauso tief berührt wie ihn, weil er sie beide daran erinnerte, was sie verloren hatten. Die Trauer zeigte sich auf die unterschiedlichsten Weisen. Doch Gabriel sah so aus, als hätte er mehr vor, als alte Wunden wiederaufzureißen. Als er ihre Wange berührte und sie unter dem virtuellen Sturm küsste, wusste sie, dass er ihr gleich mehr erzählen würde.

„Lucas und Kendra haben mich um ein Treffen vor Bennys Beerdigung morgen gebeten. Die anderen werden auch kommen.“

„Und was wollen sie? Haben sie das auch gesagt?“

„Sie haben Fragen. Verdammt, und ich auch! Wir alle brauchen Antworten.“

Er zuckte mit den Achseln und starrte auf den klaren Himmel einer Welt, die vom Regen reingewaschen worden war. Der unechte Sturm hatte sich gelegt. Gabriel hatte den Sturm im Ruhezimmer heraufbeschwört, um seiner Mutter näherzukommen. Er war gekommen, weil er ihren Rat suchte.

„Morgen wirst du mehr wissen.“ Diesmal war Raynes Lächeln echt. „Und es ist an der Zeit, dass du ihnen reinen Wein einschenkst, Gabriel. Was auch immer als Nächstes passiert, du musst die Last nicht alleine auf deinen Schultern tragen. Überlass ihnen selbst die Entscheidung. Dann geht ihr den nächsten Schritt vielleicht gemeinsam.“

Rayne wusste bereits, was sie tun würde. Sie war Gabriel wegen Lucas über den Weg gelaufen. Und aus demselben Grund würde sie bleiben und kämpfen. Niemand hatte das Recht, diese Kinder zu jagen und wie Tiere zu behandeln.

Gabriel atmete tief durch und grinste. Dann zog er sie auf seinen Schoß und hielt sie fest, wiegte sie, als wäre sie etwas sehr Zerbrechliches. Sie sog den Duft seiner Haut ein und fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar.

„Du bist genial“, flüsterte er.

Wie immer jagte seine Stimme kleine Schauer über ihre Haut. Als er das Kinn hob, um sie zu küssen, spürte und hörte sie das ferne Donnern des vorbeiziehenden Sturms.

Doch in Wahrheit zog der Sturm erst auf.

Frederick schwebte durch die schattigen Korridore des Herrenhauses, ohne sich nach Rafe umzudrehen, der ihm folgte. Er gab seinem Körper keine feste Form, wie es manche Geister taten, sondern wirbelte wie eine entfernte Fata Morgana durch die Flure, kaum mehr als feiner Dunst. Er führte Rafe zu einem Raum unten im Erdgeschoss, in der Nähe vom Haupteingang. Vor der verschlossenen Tür zu einem Zimmer, das nicht größer als eine Kammer zu sein schien, drehte er sich um und wies auf den Türknauf.

„Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, mein Junge.“ Frederick wartete die Antwort nicht ab, sondern verschwand von einem Augenblick auf den anderen.

Rafe wusste, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartete. Ehe er die Hand nach dem Knauf ausstreckte, schloss er die Augen und holte tief Luft. Durch sein T-Shirt und die Jeans spürte er ein Frösteln, das nichts mit dem Gewitter draußen zu tun hatte. Er öffnete die Augen und stieß die Tür auf.

Ein kleiner Sarg in der Farbe von schimmerndem Kupfer stand mit geöffnetem Deckel mitten im Raum. Benny lag darin. Sein Körper war in weiße Stoffbahnen gehüllt, und er trug einen Anzug. Einen echten Anzug. Dutzende von Kerzen brannten und warfen einen sanften Schimmer auf Bennys kleines Gesicht. Es sah fast so aus, als wäre er lebendig, als würde er nur schlafen.

Jetzt, wo er mit Benny alleine war, konnte Rafe endlich die Tränen fließen lassen. Er konnte gar nicht mehr aufhören.

„Hey, kleiner Mann.“

Er bückte sich und küsste den Jungen auf die Wange. Alle Zweifel, was er über den einzigen kleinen Bruder, den er jemals haben würde, sagen sollte, waren verschwunden.

Der nächste Tag – Nachmittag

Am Tag von Bennys Beerdigung legte sich Stille über das Herrenhaus. Jeder trauerte auf seine eigene Weise um ihn. Gabe fühlte sich nicht als Teil der anderen, obwohl sie ihn nicht ausschlossen. Er war ein Außenseiter, der einiges zu erklären hatte. Seit dem Angriff in den Tunneln hatten Lucas und Kendra Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was sie gesehen hatten.

Sie hatte um ein Treffen vor der Beerdigung gebeten, und nun stand er vor ihnen im Hauptzimmer, unter dem Plakat, das seine Mutter zeigte. Er würde ihre Kraft brauchen. Lucas und Kendra fragten ihn, wie er sie gefunden hatte. Was auch immer er ihnen jetzt erzählte, sie würden ihn so lange auf die Probe stellen, bis sie ihm vertrauten. Für einen Typen mit Geheimnissen würde das nicht leicht werden.

Zum ersten Mal war er jemandem Rechenschaft schuldig.

„Wir haben gesehen, was du getan hast“, sagte Lucas. „Keiner von uns ist so stark wie du. Wie hast du das gemacht?“

„Das habe ich nicht. Wir haben es getan.“ Seine Antwort war einfach. Zu einfach.

„Was redest du da?“ Kendra stand mit verschränkten Armen vor ihm. „Ich habe noch nie etwas Ähnliches erlebt.“

Gabe seufzte. Er war sich nicht sicher, wie er etwas erklären sollte, das er selbst nicht richtig verstand. Aber er musste es versuchen.

„Ich habe die Kraft von euch allen geborgt. Eure Fähigkeiten sind zu meinen geworden, aber sie wurden verstärkt. Es war … unglaublich.“ Er sah ihnen an, dass seine Erklärung noch immer nicht ausreichte. „Zusammen sind wir stärker als allein. Etwas Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich weiß nicht, ob nur ich die Fähigkeit besitze, die Kräfte anderer zu bündeln, oder ob wir alle dazu in der Lage sind. Aber ein weiser Mann hat einmal zu mir gesagt, dass unsere Fähigkeiten wie ein Muskel sind. Wir müssen sie trainieren.“

Er wies auf Kendra und sagte: „Du hast die erstaunliche Fähigkeit, andere aufzuspüren, die so sind wie wir. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ist der Grund dafür, dass meine Visionen stärker geworden sind. Die Zwillinge können die größten Ängste anderer Menschen anzapfen und lösen Heißhunger auf Pizza aus. Echt cool, Jungs.“ Die Zwillinge grinsten ihn an. „Und Raphael hat so wie ich eine starke Verbindung zu den Toten.“

Als Gabe beobachtete, wie Frederick Raphael zuwinkte, wäre er fast aus dem Konzept gekommen. Rafe rollte nur mit den Augen.

„Und du, Lucas. Meine Verbindung zu dir war am stärksten. Niemand hat mir so viel Kraft gegeben wie du.“

Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit der anderen. Sie warfen sich Blicke zu, und ihr Geplapper füllte seinen Kopf an, bis Kendra ihr Kreuzverhör fortführte.

„Du kanntest den Namen der Kirche. Woher? Welche Verbindung gibt es da?“, fragte sie.

Er war es nicht gewöhnt, anderen auf Fragen antworten zu müssen, die er als persönlich empfand. Doch jetzt würde er sich daran gewöhnen müssen. Wie Rayne gestern im Ruheraum gesagt hatte, war er von nun an nicht mehr allein. Doch obwohl es gut tat, die Last zu teilen, war sein Leben dadurch auch komplizierter geworden.

„Sie haben nach mir gesucht. In der Nacht im Tunnel bin ich zum ersten Mal seit Langem wieder auf der Bildfläche erschienen. Und jetzt werden sie wieder hinter mir her sein.“ Als er fortfuhr, sah er Rayne an. „Ich bereue nicht, was ich getan habe. Wir müssen den Kampf mit ihnen aufnehmen. Die Kirche jagt uns im Geheimen und kommt damit davon, weil wir sie nicht anzeigen können. Sie bestechen Menschen in Machtpositionen. Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können.“

„Er hat recht“, sagte Kendra. „Die Kirche bei der Polizei zu melden würde uns nur in noch größere Schwierigkeiten bringen. Wir würden im Scheinwerferlicht stehen, und das müssen wir um jeden Preis verhindern. Aber wir können auch nicht zulassen, dass sie uns jagen, ohne dass wir uns wehren. Wir sind in der Minderheit, und wir werden immer weniger.“

„Aber sie haben Waffen und Männer, die bereit sind, sie auch einzusetzen“, warf Lucas ein.

„Auch wir haben Waffen … in uns. Wir können unsere Fähigkeiten hier trainieren, aber niemand wird dazu gezwungen. Jeder von euch entscheidet für sich“, sagte Gabriel. Er klang selbstsicherer, als er sich fühlte. Rayne hatte recht gehabt. Was auch immer sie als Nächstes taten, sie mussten die Entscheidung gemeinsam treffen.

„Sie haben ihre Armee“, erklärte er. „Und wir haben unsere … und wir können weitere Mitglieder rekrutieren.“

Das Stimmengewirr in seinem Kopf wurde fast unerträglich laut. Die Diskussion tobte, alle Kinder hatten Ängste und Fragen. Auf so tief greifende Weise in das Kollektiv eingebunden zu sein ließ einen Adrenalinschub durch seine Adern pumpen. Er hatte so etwas noch nie erlebt, und Rayne wirkte völlig verloren. Für sie herrschte Grabesstille. Sie sah ihn an, als hätte er ihr einen Witz erzählt, den sie nicht verstand.

Er liebte sie dafür, dass sie trotzdem Verständnis zu haben schien. Er lächelte ihr zu und zuckte mit den Achseln.

„Wenn die Kirche ein Geheimnis aus ihrer Tätigkeit macht, wie kann es dann sein, dass du so viel darüber weißt?“, fragte Lucas.

Gabe hatte damit gerechnet, dass seine Verbindung zur Kirche ein Thema werden würde. Doch was nun kam, hatte er nicht erwartet.

„Du stellst seine Verbindung zur Kirche infrage? Und was ist mit deiner eigenen?“ Zum ersten Mal ergriff Raphael das Wort. „Deine Schwester arbeitet für diese Bastarde. Warum hast du niemandem etwas davon erzählt, Goldjunge?“

Alle Augen richteten sich auf Lucas.

„Ist das wahr?“, wollte Kendra wissen.

Ehe Lucas etwas erwidern konnte, sprang Rayne für ihn in die Bresche.

„Mia ist unsere ältere Schwester. Ja, sie arbeitet für die Kirche. Aber sie hat Lucas in eine Nervenklinik einweisen und unter Drogen setzen lassen. Er ist von dort geflohen. Jeder von euch hätte dasselbe getan. Es gibt keine Verschwörung.“

„Ich weiß nur, dass alles gut für uns lief, bis sie gekommen sind, um ihn zu holen“, warf Rafe ein. „Jetzt ist Benny tot und wir haben kein Zuhause mehr.“

„Ich will mich ja nicht einmischen“, sagte Onkel Reginald. „Aber ihr könnt hier leben, solange ihr wollt. Ganz gleich, ob ihr eure Fähigkeiten trainieren möchtet oder nicht, ihr habt hier ein Zuhause.“

Raphael starrte Gabes Onkel an, als hätte er Chinesisch gesprochen. Es fiel ihm schwer zu vertrauen. Gabe wusste, wie sich das anfühlte. Als Rafe tief durchatmete, wusste Gabe, dass er das Thema für den Moment fallen lassen würde, aber nicht damit abgeschlossen hatte.

Er spürte Raphaels Wut und verstand sie.

„Als Rayne mir von ihrer Schwester erzählt hat, bin ich auch ausgerastet“, gab Gabe zu. „Wir alle reagieren so auf Menschen, die eine Verbindung zu dieser sogenannten Kirche haben. Sie macht uns Angst, aber wir alle sollten wissen, wie sie bei der Jagd auf uns vorgeht. Die Einsätze in Nordamerika werden von einem einzelnen Mann geleitet. Alexander Reese. Er ist hier in Los Angeles. Die Männer im Tunnel arbeiten für ihn, da bin ich mir sicher.“

„Wie kommt es, dass du seinen Namen kennst?“, fragte Kendra.

„Es zahlt sich aus, seinen Feind zu kennen. Und ich denke, dass ihn alle, die ihn bekämpfen wollen, genauso gut kennen sollten wie ich“, sagte er. Es wurde wieder still im Raum. Als das Summen in seinem Kopf erstarb, verkündete die Standuhr die volle Stunde. Jeder wusste, was das bedeutete.

Es war Zeit, sich von Benny zu verabschieden.

„Es ist so weit. Bitte folgt mir“, sagte Onkel Reginald und wies ihnen den Weg.

Rayne wusste nicht, wie es im Himmel wohl aussah. Aber die wunderschönen Bilder, die über die Kuppel des Ruheraums glitten, kamen ihrer Vorstellung so nahe wie möglich. Schillernde Lichter und wunderschöne Fotografien zogen langsam über den kleinen Sarg hinweg.

Onkel Reginald hatte eine berührende Trauerfeier für Benny vorbereitet, und er war auch der Erste, der sprach.

„Kein Fuß ist so klein, dass sein Abdruck auf dieser Welt einfach ausgelöscht werden könnte. Ich hatte nicht das Vergnügen, Benny kennenzulernen. Aber ich wünschte, ich hätte es gehabt. Ich sehe, wie sehr ihr alle ihn geliebt habt. Eure Liebe zu ihm erfüllt diesen Raum. Ich kann sie spüren. Benny wird in euch weiterleben.“

Onkel Reginalds Worte kamen aus seinem Herzen. Sein volltönender Bariton war ein würdiger Beginn für Bennys Trauerfeier. Danach standen andere auf, um etwas zu sagen. Einige erzählten niedliche, lustige Geschichten, andere brachten mit ihren Reden alle zum Weinen.

Als es an Raphael Santana war zu sprechen, wurde es mucksmäuschenstill. Langsam ging er auf Bennys Sarg zu, legte seine Hand auf den Deckel und schloss die Augen, um ihm auf seine eigene Weise Lebwohl zu sagen. Als er ein kleines Lederarmband aus der Tasche zog und auf den Sarg legte, wusste Rayne, dass sich gerade jedes Herz im Raum für ihn öffnete, aber sie war nicht sicher, ob auch er es spüren konnte. Lucas hatte ihr erzählt, dass Raphael sich völlig in sich selbst zurückgezogen hatte. Er hatte die Verbindung zu seiner Familie gekappt, und niemand wusste, für wie lange er sich selbst auf diese Weise bestrafen würde.

Raphael war ein wunderschöner Junge, in dem ein zorniges Feuer loderte, das sie traurig machte. Er war der Älteste von ihnen, aber ein Teil von ihm wirkte auf sie, als wäre er ein zerstörtes Kind.

„Ich hatte keinen kleinen Bruder“, sagte er, als er sich zu ihnen umwandte. „Und ich hätte meinen Vater auch keinem anderen Kind an den Hals gewünscht. Aber mit Benny hat Gott einen Volltreffer gelandet.“ Eine Träne rollte seine Wange hinab. „Ich weiß nicht, warum manche Menschen leben dürfen und andere nicht. Was mit Benny geschehen ist, war einfach falsch. Ich kann nicht hier stehen und nette Dinge über ihn sagen, weil … weil ich auf irgendetwas einschlagen will. Ich will, dass jemand dafür bezahlt, was sie mit Benny gemacht haben. Vielleicht werde ich eines Tages an ihn denken können und mich nur an die guten Dinge erinnern, aber nicht heute.“

Als er das Kuppelzimmer verließ, hallten seine Schritte von den Wänden wider. Die Einzige, die ihm folgte, war Kendra.

Sie musste rennen, um Raphael einzuholen. Selbst in seinem geschwächten Zustand lief er noch vor ihren gemeinsamen Dämonen davon. Sie konnte sich das Leid, das er empfinden musste, nur ansatzweise vorstellen. Kendra verlor ihn aus dem Blick, doch als sie seine Jeansjacke auf dem Boden im Flur fand, wusste sie trotzdem, in welche Richtung er lief. Sie fand ihn in einem kleinen Innenhof, der sie an ihren Garten in den Tunneln erinnerte. Das Plätschern von Wasser in einem kleinen Brunnen weckte Erinnerungen an das Leben und das Zuhause, das sie beide miteinander geteilt hatten – Träume und Hoffnungen, die innerhalb einer Nacht zerstört worden waren.

Raphael trug seinen Schmerz in jeder Faser seines Körpers mit sich herum. Er schloss Kendra aus seiner Seele und seinem Herzen aus. Jetzt kehrte er also auch ihr den Rücken zu.

Bitte … schließ mich nicht aus. Ich brauche dich.

Sie zwang ihn, ihr zuzuhören, aber er drehte sich nicht um.

„Du warst gut zu ihm“, sagte sie und berührte seinen Arm, doch er tat so, als würde er sie nicht bemerken. „Du hast ihm etwas gegeben, das er niemals hatte. Benny wusste, dass er geliebt wird.“

Kendra verstand Raphael besser, als er sich vorstellen konnte, und es trieb sie fast in den Wahnsinn, dass er sie nicht an sich heranlassen wollte. Sie konnte ihn nicht mehr fühlen. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte. Seine Sehnsucht nach einer Familie war so groß gewesen, dass er selbst eine aufgebaut hatte. Sie hatte diese Sehnsucht nur zu gut verstanden. Nun hatte er diese Familie verloren, und Kendra hatte ihn verloren, das wusste sie, auch ohne seine Gedanken lesen zu können.

Das verkraftete sie nicht, vor allem nicht jetzt.

„Bitte lass mich nicht mit all dem allein.“

Noch immer würdigte er sie keines Blickes.

„Du hast Lucas. Und die anderen. Du brauchst mich nicht.“

„Da irrst du dich.“ Sie spürte Tränen in ihren Augen brennen. „Gott, du irrst dich so wahnsinnig.“

Sie musste ihm in die Augen sehen, um ihm zu zeigen, wie es um ihr Herz stand. Sie griff nach seiner Hand, und als er sich umdrehte, schlang sie die Arme um ihn. Im ersten Moment reagierte er nicht. Er erwiderte ihre Umarmung nicht, doch das war ihr egal. Sie hielt ihn fest, bis etwas geschah.

Als Raphael sie endlich umarmte, fühlte es sich unendlich gut an, ihn wieder so nah bei sich zu haben. Er gab ihr Kraft, wie er es immer schon getan hatte. Aber als er die Lippen senkte, um sie zu küssen, spürte sie, wie ihr Körper ganz starr wurde. Und doch hielt sie Raphael nicht auf. Ein Teil von ihr ließ es einfach zu. Ein Teil von ihr wollte das hier. Sie erwiderte seinen Kuss, und ihr Körper verlangte nach mehr.

„Oh, Gott, ich kann das nicht. Ich sollte das nicht tun.“ Atemlos hielt sie inne und sah Raphael in die Augen. „Es tut mir leid.“

Sie rannte davon, ehe er etwas erwidern konnte. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. Kendra verstand nicht, was gerade passiert war.

Sonnenuntergang

Nach der Trauerfeier und der Beerdigung verschwand Gabriel. Rayne ging in sein Schlafzimmer, durchsuchte das Haus und die Innenhöfe. Selbst im Ruheraum sah sie noch einmal nach, weil sie hoffte, dass er vielleicht erneut den inneren Frieden suchte, den er dort gefunden hatte. Doch kein Gabe. Erst als das ersterbende Licht der Sonne rot durch ihr Schlafzimmerfenster fiel, versuchte sie erneut, ihn zu finden.

Diesmal hatte sie Hilfe.

Als sie sah, wie sich der Abendhimmel um das Grundstück des Herrenhauses mit Glühwürmchen füllte und die Kinder unter ihrem magischen Elfenlicht spielten und lachten, wusste sie, dass sie Gabriel ganz in der Nähe finden würde. Er saß auf einen großen Felsbrocken, von dem aus man auf ein üppiges Tal unter den Bristol Mountains blicken konnte. Er war nicht allein. Hellboy war bei ihm. Als sie sich zu ihnen setzte, wedelte der Geisterhund mit dem Schwanz und verschwand.

„Ich glaube, das hier hätte Benny gefallen“, sagte Gabriel, doch er lächelte nicht.

Rayne kuschelte sich in seine Arme und sog seinen Duft ein. Die letzte Sonnenwärme wich der nächtlichen Kühle, und Rayne genoss das Gefühl, zu Hause zu sein, das sie in Gabes Armen immer empfand. Als er ihr Kinn hob und sie küsste, hätte der Augenblick nicht vollkommener sein können.

Schon wieder hatte Gabriel ihr ein Geschenk gemacht, an das sie sich immer erinnern wollte.

„Ich will dir dafür danken, dass du Lucas gefunden hast, aber ich weiß nicht, wie. Nichts fühlt sich … angemessen an.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und sah ihm in die Augen. „Wie dankt man jemandem dafür, dass er alles riskiert hat … für einen Fremden?“

„Ich bin es, der dir etwas schuldig ist.“ Ein zurückhaltendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Onkel Reginald hat mir erzählt, dass du darum gebeten hast, einen weiteren Gast hier unterbringen zu dürfen. Muss ich eifersüchtig auf diesen Typen sein? Und wer heißt denn bitte Floyd? Total retro, der Name.“

„Er ist ziemlich … schweigsam. Schätze, ihr zwei habt viel gemeinsam.“

Sie plauderten ganz unbefangen, berührten und küssten einander, und zum ersten Mal hatte Rayne das Gefühl, dass Gabriel keine Geheimnisse mehr hatte. Sie spürte die Mauern nicht mehr, mit denen er sie bis jetzt von sich ferngehalten hatte. Für einen Moment war sie einfach nur ein Mädchen, das mit einem süßen Typen redete. Aber Gabriel war mehr als das.

„Die Vision, die du hattest, als du den Angriff der Männer auf die Kinder im Tunnel gesehen hast.“

„Ja?“

„Wir waren rechtzeitig da, mehr oder weniger jedenfalls. Ich meine, wir mussten ein paar Stunden lang nach L.A. fahren, aber wir waren rechtzeitig da, als es passiert ist. Dir ist klar, was das bedeutet, oder?“

Er schüttelte den Kopf.

„Es bedeutet, dass du die Zukunft sehen kannst. Du hattest den Traum, und es ist passiert.“

„Ja, aber ich konnte Benny nicht retten. Ich konnte es nicht aufhalten.“

Es tat weh, ihn so reden zu hören.

„Vielleicht gelingt es dir beim nächsten Mal.“ Doch nicht einmal in ihren eigenen Ohren klang sie so, als würde sie daran glauben.

Was Gabriel getan hatte, war absolut unglaublich, und sie wünschte sich für ihn, dass er glücklich wäre über seine Fähigkeiten. Aber wenn er Visionen von der Zukunft hatte, von grauenhaften Dingen, die er nicht aufhalten konnte, dann würde er sein Leben lang leiden.

Das hatte er nicht verdient, doch er hatte keine Wahl – genauso, wie er sich die Zukunft, die vor ihm lag, nicht aussuchen konnte.

„Hast du wirklich gemeint, was du gesagt hast? Darüber, dass du den Kampf mit ihnen aufnehmen willst?“, fragte Rayne, während sie zusah, wie die kleineren Kinder mit dem Elfenlicht spielten, das Gabriel für sie heraufbeschworen hatte. „Ich kann dich gut verstehen, aber die meisten von ihnen sind nur … Kinder.“

„Nein, sie waren Kinder. Die Believers haben ihre Armee. Und wir brauchen ebenfalls eine.“ Die weichen Pastellfarben des verblassenden Sonnenuntergangs umspielten sein Gesicht, auf dem ein gequälter Ausdruck lag. „Onkel Reginald hat deswegen Befürchtungen und ich auch. Aber wir können sie ausbilden. Wir müssen es sogar.“

Der Junge, der einfach nur für sich sein wollte, wo seine Geheimnisse in Sicherheit waren, hatte einen weiten Weg hinter sich. Doch nun schien er eine Entscheidung für seine Zukunft getroffen zu haben. Rayne hatte dieselbe Entschlossenheit, die jetzt in seinem Blick lag, auch in Lucas’ Augen gesehen.

„Uns steht ein Kampf bevor“, sagte er. „Wir haben keine Wahl. Kendra hat recht. Die Polizei einzuschalten bringt uns nur in Schwierigkeiten, und die Kirche wird uns nicht in Frieden lassen.“

„Aber vielleicht ist das nur eine kleine Gruppe von Verrückten. Du hast gesagt, dass dieser Alexander Reese hier in L.A. ist, und dass er für alle Aktivitäten der Kirche in Nordamerika verantwortlich ist. Bist du sicher, dass er weiß, was hier vor sich geht? Vielleicht …“

Gabriel ließ sie ihren Satz nicht beenden. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Er weiß es, Rayne. Er ist es doch, der hinter all dem steckt.“ Er seufzte. „Alexander Reese wird aus dem, was wir getan haben, lernen. Er hat uns einmal unterschätzt, aber diesen Fehler wird er nicht wieder machen. Wir müssen bereit sein.“

„Du hast Lucas’ Frage nie beantwortet. Wenn die Kirche so ein Geheimnis aus ihrer Jagd auf die Kinder macht, wie kann es dann sein, dass du so viel über den Typen weißt, der die Fäden in der Hand hält?“

Er sah sie an, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Sein hypnotisierender Blick ruhte auf ihr, und er berührte ganz kurz ihre Wange. Dann sagte er: „Weil Alexander Reese mein Vater ist.“

– ENDE –