Kapitel 1: Ausstieg
„Nun klettere schon heraus!”, wies eine Männerstimme mich an. Sie war so heiser, als litte der Eigentümer schon lange an einer schweren Erkältung. Die er mit Eis behandelte. „Oder willst du da liegen bleiben?“
Der Deckel meines Kokons hatte sich bereits vor einer geraumen Weile geöffnet, aber ich brachte nicht die Kraft auf, ihn zu verlassen und in die reale Welt zurückzukehren. In dem Raum, in dem ich mich befand, flimmerten fluoreszierende Lichter. Die waren Standard in allen Büros. Und eben auch, wie in diesem speziellen Fall, in der Anlage, in der die Gefangenen in ihren Strafkapseln untergebracht waren. Noch immer starrte ich ins Leere, als wäre es die Unendlichkeit. In meinem Kopf herrschte ein solches Durcheinander, dass ich mich nur auf die einzige Sache konzentrieren konnte, von der ich wusste, dass sie der Wahrheit entsprach. An sie klammerte ich mich wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Ich war frei! Ich, Daniel Mahan, der ich mir den Zorn meiner Heimatstadt zugezogen hatte, konnte endlich wieder meine Freiheit genießen! Ich hatte es geschafft, acht Jahre Freiheitsstrafe gegen elf Monate in einer Spielewelt einzutauschen.
Doch diese Erkenntnis machte mich nicht glücklich.
„Du bist jetzt nutzlos für uns.“ Dieser Satz, den Anastaria mir um die Ohren gehauen hatte, wollte mich nicht loslassen. Erneut versuchte ich, einen klaren Kopf zu bekommen, doch die letzte halbe Stunde, die ich in Barliona verbracht hatte, drängte sich in meinem Bewusstsein immer wieder nach vorn.
„Hey, du da! Bist du... ich meine... lebst du noch?“ Eine gewisse Besorgnis hatte sich in die Stimme geschlichen. Jetzt tauchte vor mir ein bärtiges Gesicht auf. Ein Bandana verdeckte das rechte Auge und einen Teil der Narbe, die sich von der Stirn wie ein Zickzackblitz bis hin zum Kinn zog. „Okay, du scheinst in Ordnung zu sein. Aber warum stehst du nicht auf? Die meisten Gefangenen, die freigelassen werden, stürmen sofort heraus wie eine Kugel aus dem Pistolenlauf und küssen voller Dankbarkeit den Erdboden. Aber du steckst immer noch in der Kapsel. Ist dir etwas zugestoßen?“
„Analyse der Körperfunktionen des Patienten abgeschlossen“, verkündete nur wenige Sekunden später eine roboterhafte Stimme. „Der Organismus des Patienten funktioniert normal. Es wurden keine Störungen festgestellt. Der physische Zustand liegt bei 88 % des Nominalzustands.“
„Jetzt hör mal – was auch immer dein Problem ist, ich habe keine Zeit, mich damit herumzuschlagen. Mir stehen heute noch ein Dutzend Freilassungen bevor. Also reiß dich zusammen und beweg dich! Du wurdest vor Ablauf der eigentlich vorgesehenen Zeit freigelassen. Also wird dich in einer halben Stunde jemand abholen kommen. Du musst solange im Empfangsraum warten. Hey! Hörst du mich? Oder bist du taub? Sag gefälligst irgendetwas!“
„Ich höre dich, ich höre dich“, murmelte ich und versuchte weiter, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ich wollte mich mit dem Kerl nicht streiten. Sein Leben schien auch so schon anstrengend genug zu sein. Also wartete ich, bis die Rückhaltestange zurückgeglitten war, und setzte mich mit einem tiefen Seufzen auf. Sofort drehte sich alles um mich herum, und merkwürdige Flecke tanzten vor meinen Augen. Doch ich zwang mich dazu, meine aufrechte Haltung beizubehalten. Ich hatte genug davon, schwach zu sein. Es wurde Zeit, endlich erwachsen zu werden!
„Die Duschen findest du geradeaus und dann links“, erklärte der Mann und trat vom Kokon zurück. „Da liegt auch Kleidung für dich bereit. Ansonsten – ich bin nicht dein Kindermädchen. Alles andere musst du schon selbst herausfinden. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen – ich gratuliere! Eine Freilassung vor Ende der Strafzeit, das ist wie ein neues Level im Spiel. Oder sogar zwei, würde ich mal behaupten.“
Nach diesen Worten drehte der Techniker sich um und marschierte davon. Ich hob meine Beine aus der Kapsel auf den Fußboden und tat meinen ersten Schritt in Richtung der Tür, die er mir gerade gezeigt hatte. Für einen zweiten fehlte mir unglücklicherweise die Kraft.
Ich konnte nicht einmal erklären, was genau passierte, aber kaum, dass ich zum zweiten Schritt ansetzte, gaben meine Beine unter mir nach. Ein rasender Schmerz ergriff meinen Körper, meine Muskeln verkrampften sich, und in meinem Kopf gingen Hunderte kleiner Feuerwerke los. Was einen merkwürdigen Gedanken in mir auslöste: „Achievement verdient: Du hast deine Kapsel verlassen. Das ist zwei neue Level wert!“ Na toll! Und wo blieb jetzt das enorme Glücksgefühl?
Während der elf Monate, die ich im Spiel verbracht hatte, war die Gewöhnung an das Hochgefühl beim Erreichen neuer Meilensteine in Bezug auf Level oder Fähigkeiten so stark geworden, dass ich es praktisch schon gar nicht mehr bemerkte, wenn es passierte. Nur bei ganz besonderen Erfolgen – zum Beispiel, als meine Fähigkeit im Juwelierhandwerk gleich um mehrere Punkte angestiegen war – brach ich noch in süßer Ekstase zusammen und bereitete meine Hände dabei insgeheim bereits auf die Erschaffung des nächsten Meisterwerks vor. Dieses enorme Vergnügen besaß für einen Gefangenen wie mich eine besondere Bedeutung.
Stattdessen brach ich jetzt mit einem dumpfen Stöhnen zusammen. Meinen Körper konnte ich kaum noch spüren. Das Verlangen nach dem überwältigenden Glücksgefühl war so intensiv, dass es alles andere auslöschte.
„Ist dir etwa schlecht?“, spottete der Techniker. Seine Worte drangen sogar durch den Nebel, der mich umgab. „Das hat alles seine Ordnung. Warte ein bisschen. Gleich wird es dir besser gehen. Das machen alle durch.“
Meine Muskelkrämpfe entlockten mir ein stöhnendes Wimmern. Der brennende Wunsch nach der Ekstase wurde noch stärker. Plötzlich ging mir auf, dass der Techniker an meinem Zustand schuld war! Er hielt das Glücksgefühl zurück, er verwehrte es mir! Er hatte mich aus der Kapsel gezwungen, er...
Knurrend und ächzend kroch ich auf ihn zu. Nebulös plante ich, ihm mit den Zähnen das Bein auszureißen. „Dich hat es ja richtig schlimm erwischt“, bemerkte er und klang überrascht. „Also gut – ich verpasse dir noch eine Dosis. Schaden kann es schließlich nicht. Genieße es, solange du noch kannst.“
Einem scharfen Schmerz in meiner Schulter folgte eine warme, immens angenehme Welle des Vergnügens, die über mir zusammenschlug. Meine Muskeln entspannten sich, meine Knochen hörten auf zu knirschen, und mein Bewusstsein nahm die Welt wieder wahr. Ich ließ mich auf den Rücken fallen. Dabei war es mir schnuppe, dass ich nackt auf dem kalten Fußboden lag. Mein Blick erreichte die weiße Decke mit den bereits erwähnten fluoreszierenden Lichtern. Doch jetzt waren es keine Lichter mehr, sondern fröhlich galoppierende Einhörner, die hin und wieder stehen blieben, um Blumen zu pflücken. Komisch – ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Ishni Arme gehabt haben sollte. Diese Einhörner wirkten mehr wie Zentauren mit einem Horn auf der Stirn...
„Ich dachte, du hättest bloß ein Jahr in der Kapsel verbracht. Wie hast du es denn in so kurzer Zeit geschafft, so abhängig von dem Zeug zu werden?“ Das verbliebene Auge des Technikers legte sich vor den Zentauren, der gerade ein Liedchen angestimmt hatte.
„Der Grad der Realitätswahrnehmung liegt bei 35 %. Der Patient befindet sich derzeit auf Abhängigkeitslevel Schwarz. Empfohlene Dauer der Rehabilitationsphase: 2 Monate und 15 Tage“, fasste die medizinisch geschulte künstliche Intelligenz meinen Zustand zusammen. Ich fantasierte über einen Flirt mit einem Geist...
„Level Schwarz?“ Das Auge des Technikers weitete sich und nahm nun mein gesamtes Sichtfeld ein. Ich kam mir vor, als würde ich einem Zyklopen gegenüberstehen. Tja, das hatte man davon, wenn man den Worten eines NPCs Glauben schenkte! Hatten die mir nicht alle erklärt, dass die Zyklopen längst ausgerottet waren? Aber da war doch einer, direkt vor mir! „Weißt du was, Kumpel? Ich wüsste ja zu gern, was dir zugestoßen ist.“
Der Zyklop trat beiseite, und endlich konnte ich meinen glücklichen Zentauren weiter beobachten. Dann wurde er jedoch niedergestreckt – der Meister war erschienen, der Beherrscher des Himmels, ein schwarzer Drache.
Die Schläge seiner riesigen Flügel setzten die Luft um ihn herum in Bewegung. Die Kraft und Schönheit des Drachens schlugen mich in ihren Bann. Sein Körper war ein Abbild der Stärke. Er war der wahre Meister dieser Welt, und nichts und niemand konnte ihn von seinem Thron stoßen. Nicht einmal die Sirenen.
Die Sirenen...
Anastaria...
Barliona...
Ich bin Daniel Mahan, ein ehemaliger Strafgefangener ...
Noch einmal schlug der Drache mit den Flügeln, dann verschwand er. Zurück blieb eine leere, weiße Decke.
Die künstliche Intelligenz reagierte sofort: „Der Grad der Realitätswahrnehmung liegt bei 85 %. Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Gelb erreicht. Empfohlene Dauer der Rehabilitationsphase: 15 Tage.“
Der Techniker räusperte sich. „Kannst du mir vielleicht mal erklären, was hier vor sich geht? Erst Schwarz, dann Gelb... Ach, egal – in zehn Minuten wird ein Arzt eintreffen, soll der sich mit dir herumschlagen. Die Dusche ist geradeaus und dann links. Dort findest du auch Kleidung. Ich habe schon selbst mehr als genug Probleme...“
Ruckartig setzte ich mich auf. Diesmal wurde mir nicht schwindelig. Ich spürte keine Übelkeit, keine Schwäche und kein Verlangen nach einer weiteren Dosis. In diesem Augenblick beherrschte nur ein einziges Gefühl mein Bewusstsein – Hass. Nie hätte ich gedacht, dass ich diese schreckliche Emotion empfinden könnte, doch jetzt war sie wie ein massiger Kolben, der meinen des gewohnten Glücksgefühls beraubten Körper vorwärtstrieb. Der Hass, der mich erfüllte, war so intensiv - wäre jetzt Stacey vor mir aufgetaucht, ich würde nicht einmal eine Sekunde nachdenken, sondern sie... Obwohl, nein – ich hatte nicht die geringste Lust, in die Minen zurückgeschickt zu werden. Ich musste wohlüberlegt handeln. Und ich musste... Ich musste mich rächen! Und dabei sehr genau darüber nachdenken, welche Form meine Rache einnehmen sollte. Damit würde ich mich eingehender befassen, sobald ich die Rehabilitation abgeschlossen hatte.
„Der Grad der Realitätswahrnehmung liegt bei 100 %. Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Grün erreicht. Empfohlene Dauer der Rehabilitationsphase: 5 Tage.“
„Das ist vollkommen unmöglich!“, rief die Ärztin aus, nachdem sie meine medizinischen Unterlagen auf einem Tablet-PC studiert hatte, den sie vorsichtig zwischen ihren dünnen Fingern hielt. Wahrscheinlich lag das an ihren langen und sehr aufwendig dekorierten Fingernägeln. Immer wieder sah sie mich zwischendurch so überrascht an, als dürfte ich eigentlich gar nicht existieren. Ihr weißer Kittel konnte ihre ausgesprochen wohlgeformte Figur kaum verbergen. Das deutete darauf hin, dass sie entweder zu lange in einer Kapsel oder in einem Fitnessstudio verbracht hatte. Ich tippte eher auf eine Kapsel. Fitnessstudios waren inzwischen ziemlich unmodern geworden. „Daniel, wie fühlen Sie sich?“
„Soweit es mich angeht, trifft die Diagnose der künstlichen Intelligenz voll ins Schwarze.“ Ich zuckte mit den Schultern. Auf eine unnötige Diskussion wollte ich mich nicht einlassen. Und ich hatte nicht die geringste Lust, ihr zu erklären, wie ich es geschafft hatte, so schnell in die Realität „zurückzukehren“. Das war eine Sache, die ausschließlich den Clan Phönix und mich betraf, und niemanden sonst. Während ich geduscht und mich angezogen hatte, war in mir ein eherner Entschluss gewachsen – ich würde mich rächen. Es spielte keine Rolle, wann diese Rache stattfinden würde. Das würde ich dann schon herausfinden. Fest stand jedenfalls: Die Handlungen von Phönix und meinen sogenannten Freunden konnten nicht ungestraft bleiben. Sonst konnte ich ebenso gut gleich damit aufhören, mich selbst als Menschen zu betrachten.
„Nun ja, die habe ich gelesen, aber...“, stammelte die Ärztin und schaute mich mit ihren blauen Augen ungläubig an. „Es ist unmöglich, Level Schwarz aus eigener Kraft zu verlassen! Das ist mir bisher noch nie untergekommen. In meinen ganzen zwölf Jahren im Beruf nicht.“
„Es gibt immer ein erstes Mal“, bemerkte ich philosophisch und wechselte das Thema. „Sagen Sie, Frau Doktor, werden meine Haare wieder wachsen? Oder muss ich jetzt den Rest meines Lebens kahlköpfig herumlaufen?“
„Nennen Sie mich doch bitte Lucia.“ Sie seufzte. Ihr war wohl klargeworden, dass sie zumindest im Augenblick keine weiteren Informationen aus mir herausbekommen würde. „Ja, Ihre Haare werden wieder wachsen, da machen Sie sich mal keine Sorgen. In der Kapsel hat man Ihnen eine spezielle Flüssigkeit zugeführt, die das Haarwachstum unterdrückt hat. Daniel, ich möchte noch eine kleine Untersuchung vornehmen, bevor wir uns zur Rehabilitationsklinik begeben. Ich brauche allerdings Ihre Zustimmung zum Auslesen Ihrer Gehirnsignale im Wachzustand. Sie haben doch nichts dagegen, oder?“
„Ich habe nichts zu verbergen.“ Ich nickte großzügig. Zu Beginn unserer Unterhaltung hatte ich Lucia unwillkürlich mit Stacey gleichgesetzt und auf den Haken an der Sache gewartet. Doch inzwischen kam es mir so vor, als würde ich die Ärztin schon ewig kennen, und ich wollte sie auf keinen Fall mit einer Weigerung enttäuschen. Außerdem war sie schließlich ein Doktor – und wer konnte zu denen schon „Nein“ sagen? Höchstens Leute, die sehr krank waren.
Mir wurde erklärt, dass wir die 200 Kilometer Fahrt zwischen dieser Anlage mit ihren Strafkapseln und dem Rehabilitationszentrum in nur einer Stunde zurücklegen würden. Unterwegs beschrieb die Ärztin mir die sieben farbcodierten Level der Abhängigkeit von der Ekstase beim Leveln im Spiel. Am höchsten war die Abhängigkeit auf Level Schwarz und am geringsten auf Level Grün. Bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass das entsprechende Reha-Zentrum umso weiter entfernt war, je geringer sich das Abhängigkeitslevel erwies. Davon abgesehen versuchte Lucia, eine Unterhaltung über den Sinn des Lebens und meinen zukünftigen Platz in dieser Welt in Gang zu bringen, doch ich klinkte mich aus, starrte aus dem Fenster auf die vorbeirauschenden Bäume und richtete meine Aufmerksamkeit auf meinen Racheplan.
Also...
Zuerst einmal musste ich meinen Schamanen zurückbekommen. Auch wenn man ihn dafür wahrscheinlich von den Servern des Gefängnisses abziehen und auf die öffentlichen Server übertragen musste. Mit einem solchen Kraftpaket zu meiner Verfügung hatte ich keine Lust, wieder von vorn anzufangen.
Zum Zweiten musste ich mich sofort nach meiner Rückkehr ins Spiel nach Anhurs begeben und eine Audienz beim Imperator oder der Hohepriesterin verlangen. Wer auch immer von den beiden für Eheschließungen zuständig war. Von dem- oder derjenigen würde ich die Scheidung von Anastaria verlangen, nebst der Rückgabe meines persönlichen Eigentums – und das betraf alles, was sie aus meinem Beutel genommen hatte. Vorher ließ ich mich am besten von einem barlionischen Anwalt beraten. Waren die aus dem Inventar genommenen Gegenstände womöglich als Beute zu betrachten? Falls nein, würde ich Anastaria für den Diebstahl zur Rechenschaft ziehen. Falls ja... Darüber dachte ich jetzt lieber nicht nach. Es wäre zu schmerzhaft, das Schachspiel zu verlieren!
Zum Dritten musste ich irgendeine Regelung für meinen Clan finden. Von Nutzen war der mir nun nicht mehr – und ich hatte weder die Zeit noch die Lust, ihn zu verwalten. Die Verantwortung für eine Gruppe, und wenn sie auch nur aus zehn Mitgliedern bestand, erlegte mir eine Bürde auf, die ich nicht gebrauchen konnte. Nach meiner nächsten Anmeldung im Spiel würde ich mich also von allen verabschieden, die übriggeblieben waren, und den Clan offiziell schließen. Obwohl, nein – ich konnte ihn bestehen lassen, mit mir als einzigem Mitglied. So verhinderte ich den Verlust der Projektionen.
Zum Vierten musste ich mich um meine beiden wichtigsten Vermögenswerte kümmern, die Burg Altameda und den Riesigen Tintenfischdelfin. Beides würde sehr schnell an meinen Ressourcen zehren und mich zu Boden ziehen. Nachdem der geniale Manager und Behüter des Budgets, Leite, ja nicht länger Mitglied des Clans war, blieb mir nichts anderes übrig, als mich selbst um die Geldangelegenheiten zu kümmern. Gelang mir das nicht, blieb mir nur eine unliebsame Möglichkeit: Altameda einem anderen Clan zu verkaufen. Eine andere Lösung sah ich nicht.
Dabei fiel mir ein – ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld mir noch zur Verfügung stand. Ich erinnerte mich daran, dass ich kurz die Zahl 140 Millionen hatte aufblitzen sehen, bevor ich das Spiel verlassen hatte. Vor anderthalb Jahren hätte ich von einer solchen Summe nicht einmal zu träumen gewagt, doch jetzt... Allein an die 100 Millionen davon hatte ich für meine Freilassung ausgegeben! Von dem Rest würde ein guter Teil für die Gehälter der verbliebenen Clanmitglieder draufgehen, bis ich sie alle losgeworden war. Dennoch sollten mir anschließend noch um die 30 Millionen bleiben. Verlassen wollte ich mich darauf allerdings nicht. 30 Millionen... Vielleicht sollte ich das Geld in die Realität transferieren, mir davon ein tolles Haus kaufen und mir ein schönes Leben machen, ohne einen weiteren Gedanken an Barliona zu verschwenden? Ich konnte ein Studium aufnehmen, mir einen Job suchen und ohne Anastarias, Ehkillers und Phönixe friedlich und zufrieden leben. Und was sprach dagegen, sie alle zur Hölle zu schicken?
Nun ja, zum einen war da die Tatsache, dass meine Gierkröte und mein Hordender Hamster mich dann bis ans Ende meiner Tage nie mehr in Ruhe lassen würden. Jeweils einzeln wurde ich mit meinen Haustierchen schon fertig, doch bei einem Kampf zwei gegen einen war ich machtlos. Außerdem wollte ich auch selbst alles zurückgewinnen, das mir gehörte – und alle bestrafen, die es mir weggenommen hatten. Und da ich dann schon einmal dabei war, wäre es eine gute Sache, bei der Gelegenheit gleich den gesamten Phönix-Clan zu vernichten... Diese Überlegung gab Anlass für gleich zwei Fragen:
Konnte man einen Clan im Spiel überhaupt zerstören?
Und wie konnte ich mich vor Anastarias und Höllenfeuers Zorn im realen Leben schützen? Tatenlos würden die meine Anstrengungen zur Vernichtung ihres Clans nicht hinnehmen, und falls sie im Spiel zu keiner Einigung mit mir kommen konnten (wobei die Wahrscheinlichkeit einer solchen Einigung minimal war), würden sie womöglich versuchen, mich im realen Leben aufzuspüren.
Ob ich mich vielleicht durch eine Unterlassungsverfügung schützen könnte? Ich sah meine Antragsbegründung schon vor mir: „Ich plane, die besten Spieler in Malabar umzubringen, und habe Angst vor deren Vergeltung...“ Bestimmt schickten die mich sofort als modernen Don Quixote in die Klapsmühle. Das war also kein gangbarer Weg. Ich musste jeden Schritt so sorgfältig wie nur irgend möglich abwägen. Was mich zur Ausgangsfrage zurückbrachte: Wie konnte ich einem Clan im Spiel am besten Schaden zufügen?
Natürlich konnte ich alle Mitglieder gemeinschaftlich oder nacheinander zum Respawn schicken. Das war eine verdammt gravierende Strafe, bedachte man, wie viel geringer mein Level gegenüber deren Durchschnittslevel war. Aber wie bitte sollte ich das anstellen? Müsste ich dafür etwa Meuchelmörder anheuern, die die Leute an der Spitze von Phönix wieder und wieder aufspürten und umbrachten? Etwas Unsinnigeres konnte ich mir nur schwer vorstellen. Auch diese Option verwarf ich also zunächst. Aber vielleicht könnte ich sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen.
Der einzige schwache Punkt dieses Clans waren seine Finanzen. Also müsste ich die Geldmittel des Clans vernichten, und anschließend... Bloß, wie sollte ich das anstellen? Das Eigentum, auch an Gold, galt als unverbrüchliches Recht. Wenn ich also die Konten des Clans hackte, würde mich das wieder zurück in die Minen bringen. Natürlich konnte ich auch ihre Legendären Gegenstände stehlen – aber dafür müsste ich jemanden anheuern, der eine solche Aufgabe zu übernehmen bereit war. Nein, nein – ich musste den Clan vollständig auslöschen – aber wie? Schließlich konnte ich ja wohl kaum seine Burgen belagern...
„Was ist los, Daniel?“, fragte die Ärztin besorgt, als ich auf meinem Sitz herumhüpfte und mir beinahe den Kopf an der Decke gestoßen hätte. Sie hielt mir ein Analysiergerät vor die Nase, das jedoch prompt bestätigte, dass meine Realitätswahrnehmung noch immer bei 100 % lag und mein Abhängigkeitslevel bei Grün.
„Es ist nichts, ich habe nur über etwas nachgedacht“, versicherte ich ihr und drehte mich wieder zum Fenster.. Ich musste die Burgen von Phönix nicht belagern – ich hatte doch Altameda!
Momentan beschränkte sich Anastarias Vermögen meines Wissens nach auf ein einziges Schiff auf dem Meer im Wert von zehn Millionen Goldstücken. Doch es wäre Unfug, den Tintenfischdelfin zu aktivieren, um ihr Schiff anzugreifen oder Phönix auf andere Weise auf See Schaden zuzufügen. Die Ausgaben, die das mit sich brachte, allein schon an Steuern, waren die Sache nicht wert. Erst wenn die Spieler im Süden des Kontinents es geschafft hatten, sich bei den Piraten eine positive Reputation zu verdienen, wenn sie mehr und mehr eigene Schiffe besaßen, konnte ich damit rechnen, dass auch Phönix sich massiv auf die Seefahrt stürzen würde. Und bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Nein, eine Rache auf dem Seeweg war unrealistisch – aber ich hatte ja Altameda!
Das Besondere an meiner Burg war, dass sie sich von Standort zu Standort bewegen konnte. Ein solcher Umzug war alle drei Monate kostenlos, und dazwischen kostete er etwa zehn Millionen. Es musste mir nur gelingen, einen Mob von Spielern anzuheuern, die jeden Widerstand niederschlugen, sobald ich mit Altameda auf einer der Burgen von Phönix aufgesetzt hatte, und anschließend die Ruine plünderten, so wie wir es mit der Burg Glarnis gemacht hatten. Soweit ich wusste, verfügte Phönix über insgesamt sieben Burgen. Die davon am besten ausgebaute war auf Level 29, die schwächste auf Level 18. Es brauchte Investitionen in gewaltiger Höhe, um eine Burg so weit zu bringen. Würde es mir also gelingen, alle sieben Burgen auf Level 1 zurückzusetzen... Diese Form der Rache war jedenfalls weitaus vielversprechender, als einen Spitzenspieler nach dem anderen zu jagen und zu töten.
Der Wunsch, meinen Schamanen zurückzuholen, wurde noch stärker. Anastaria hatte mir unvorsichtigerweise eine Kopie ihrer Karte überlassen, und auf der waren die Burgen von Phönix markiert. Auf diese Weise hatte mein Schamane Zugang zu den exakten Koordinaten aller Anlagen – und verfügte damit über eine realistische Methode, seine Rache in die Tat umzusetzen. Jetzt musste ich nur noch Leute finden, die bereit waren, mit mir zusammenzuarbeiten.
Ach nein, da war auch noch das kleine Problem mit meiner Burg... Der Imperator hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich als Eigentümer drei Monate in Altameda verbrachte. Einen Monat lang hatte ich meine Pflicht bereits erfüllt, ehe ich das Spiel verlassen hatte. Jetzt allerdings stand mir erst einmal meine Rehabilitation bevor. Ehe ich die nicht abgeschlossen hatte, konnte ich nicht zurückkehren. Damit hatte ich für meinen barlionischen Anwalt gleich eine weitere rechtliche Frage. Konnte ich die Burg jetzt etwa verlieren, weil ich wegen der zwingenden Rehabilitation nicht wie erforderlich alle 24 Stunden wenigstens einmal in Altameda auftauchte? Man sollte meinen, dass eine Zwangsrehabilitation eine Ausnahme vom Anwesenheitserfordernis begründete, aber ich musste da ganz sicher gehen. Wenn es um solche Dinge ging, durfte ich mir keinen Fehler erlauben.
Ich grübelte weiter über meine Rache nach. Ich musste Phönix auch seiner Quests berauben. Ohne Szenarien keine Beute, aber die Mitglieder wollten dennoch bezahlt werden. Dummerweise konnte ich dieses Ziel nicht allein erreichen. Das Unternehmen brauchte immer einen führenden Clan, auf den es sich verlassen konnte. Also musste ich mit Etamzilat und Undigit zusammenarbeiten. Die Verbesserung der Finanzen des Azurdrachen-Clans war mit Sicherheit ein gewichtiges Argument, das ihnen helfen würde, ihre Abneigung gegen mich zu überwinden.
Was gab es sonst noch für Möglichkeiten? Einen Spielecharakter konnte man weder vollständig zerstören noch dauerhaft schädigen. Aber Moment mal! Der Verfluchte Handwerker... Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass das Verfluchte Schachspiel auf dem Mist des Unternehmens gewachsen war. Man hatte mich jedenfalls gewissermaßen dazu gezwungen, es herzustellen. Zwar hatte man mir keine Gelegenheit gegeben, es zu wiederholen, aber versuchen konnte ich es ja einmal. Falls es mir gelänge, einen Avatar mit einem Gegenstand zu verbinden, der sehr spezielle Anforderungen stellte, wäre das ein weiterer Nagel im Sarg von Phönix.
Was diese Überlegung betraf, musste ich mich mit Kreel treffen und herausfinden, wo er Rogzars Kristall ausgegraben hatte. Wenn ich mich richtig erinnerte, sorgte der für Folgendes: - 75 % Bewegungsgeschwindigkeit; - 50 % für alle Eigenschaften; - 90 % für die Regeneration von Trefferpunkten, Mana und Energie; - 90 % für die gewonnene Erfahrung. Dieser Gegenstand kann nicht verkauft, gedroppt, gestohlen oder zerstört werden. Ein solcher Schatz schrie doch geradezu danach, in Anastarias Inventar zu landen! Oder Barsinas... Oder Leites... Oder im Inventar von verschiedenen anderen Mitgliedern des Clans der Grillhähnchen. Ich musste alle Möglichkeiten ausnutzen, die sich mir boten.
„Wir sind am Ziel.“ Die Stimme der Ärztin riss mich aus meinen angenehmen Racheplänen und holte mich in die Realität zurück. Nun, die Hauptpunkte standen fest. Jetzt musste ich nur noch alles überprüfen, weiterentwickeln und die Optionen eliminieren, die nicht umsetzbar waren. Und natürlich konstant weiter über neue Möglichkeiten nachdenken. Wie hieß es so schön? Rache ist ein Gericht, das man am besten eiskalt serviert...
Das Gebäude, das ich nun betrat, ein Rehabilitationszentrum zu nennen, wäre stark übertrieben. Ich hatte mir ein beeindruckendes Bauwerk vorgestellt, mit Stacheldraht umgeben und mit verbarrikadierten Fenstern – schließlich war es sein Zweck, die Gefangenen im Zentrum zu halten und zu verhindern, dass sie es verließen. Doch die Wirklichkeit erwies sich als weit weniger beeindruckend. Ich sah ein kleines, sehr ordentliches Wäldchen vor mir, einen gepflegten Rasen, kleine, gemütliche Häuschen und etliche Leute in weißen Kitteln, die es sich auf dem Gras bequem gemacht hatten. Vögel zwitscherten, die Sonne schien – es war das reinste Idyll. Jetzt fehlten nur noch Roboter, die von Patient zu Patient flitzten, allen zu essen und zu trinken brachten und sich um alle anderen körperlichen Bedürfnisse bemühten, damit niemand sich um irgendetwas kümmern musste.
Als wir uns näherten, entdeckte ich die Tennisplätze zwischen den Gebäuden, auf denen mehrere Patienten Tennis spielten. Andere schwammen in einem Swimmingpool, und wieder andere arbeiteten in kleinen Werkstätten, stellten Dinge aus Holz und Keramik her. Ganz am Ende der Reihe der Gebäude entdeckte ich sogar einen Schmied, der kraftvoll ein Stück Metall behämmerte. Hören konnte ich die Schläge allerdings nicht. Ein Kraftfeld verhinderte, dass andere durch den Lärm gestört wurden. Auch die Sportanlagen waren von einem solchen Kraftfeld umgeben. So konnten all diejenigen, die sich lediglich entspannen wollten, eine friedliche Ruhe genießen.
„Hier werden Sie die nächsten fünf Tage verbringen“, erklärte Lucia mir mit einem Lächeln. „Bitte folgen Sie mir. Wir müssen Ihre Ankunft eintragen, Ihnen ein Überwachungsgerät implantieren und einen Schlafplatz für Sie finden. Außerdem werden wir Ihnen die Zusammenstellung vorbeugender Behandlungen erläutern, die das Analyseprogramm für Sie festgelegt hat. Mit den detaillierten technischen Erklärungen werde ich Sie verschonen. Die Hauptsache ist, dass Sie sich entspannen und erholen und sich darum bemühen können, wieder ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden.“
* * *
Am Ende meines zweiten Tages im Reha-Zentrum hätte ich vor Langeweile schreien können. Ich konnte mich nicht einmal an einzelne Stunden während des gesamten letzten Jahres erinnern, in denen ich nicht zumindest irgendetwas gemacht hätte. Eine Ausnahme galt lediglich für die Zeiten, in denen ich schlief. Es hatte immer etwas zu tun gegeben – einen Dungeon abschließen, mein Juwelierhandwerk verbessern, Quests erledigen. Deshalb war die gesamte Zeit, die ich in Barliona verbracht hatte, wie im Flug vergangen, wie in einem Zeitraffer. Hier hingegen...
Ich faulenzte auf dem Rasen, schlief, unterzog mich diversen Prozeduren, faulenzte erneut auf dem Rasen, schlief erneut, und wieder der Rasen... Mehrfach versuchte ich, mich mit sportlichen Übungen zu beschäftigen, doch mit Tennis oder Fußball hatte ich nie viel anfangen können, deshalb brachte mir das nichts. Also gönnte ich mir ein weiteres Nickerchen und faulenzte noch ein Weilchen auf dem Rasen, absolvierte ein paar weitere Behandlungen und kehrte zum Rasen zurück... Schon der bloße Gedanke, dass ich noch weitere drei Tage derart untätig verbringen musste, trieb mich fast zur Verzweiflung. Ich brauchte irgendeine Beschäftigung!
„Die Schmiede ist besetzt!“, blaffte der Schmied mich an, ohne mich auch nur anzusehen. „Es gibt hier nur eine, und die werde ich nicht verlassen. Wende dich an die Krankenwärter, wenn du damit ein Problem hast.“
„Ich brauche die Schmiede nicht“, erwiderte ich. Die Hitze ließ mir den Schweiß ausbrechen. Ich hatte mit der Ärztin geredet, ihr mein Problem geschildert und einen guten Rat von ihr erhalten. Sie hatte vorgeschlagen, ich sollte doch irgendetwas erschaffen, so wie ich es in Barliona gemacht hatte. Daher hatte ich mich am darauffolgenden Morgen zur Schmiede begeben, denn hier befanden sich alle Materialien, die ich brauchte. Und jetzt wollte der missgelaunte Kerl mir den Zutritt verbieten!
„Dann hau ab! Was für verrückte Leute hier herumlaufen...“
Ich ignorierte ihn und schaute mich auf den Regalen um. Ja, da war tatsächlich ein Werkzeugsatz für Juweliere! Er sah genauso aus wie der aus meinem Inventar in Barliona. Wenn man einmal vom Gewicht absah. Ich griff mir das Etui und floh hinaus in die frische Waldluft. Zum Glück hielt das Kraftfeld nicht nur den Lärm zurück, sondern auch die Hitze. Der Schmied war mit Sicherheit ein Masochist, der seine Wut über die in Barliona verbrachten Jahre an einem Stück Eisen auslassen musste. Ich bezweifelte, dass sich jemand diese Rehabilitationsform antun würde, der weniger als ein Jahr in den Minen verbracht hatte.
Ich setzte mich unter die erstbeste Ulme und öffnete das Werkzeug-Etui. Wie ein scharfer Schmerz überfiel mich Nostalgie. Zwar hatte ich erst vor wenigen Tagen etwas geschaffen - die letzte Schachfigur -, aber mit den Werkzeugen hatte ich schon eine Weile nicht mehr gearbeitet. Ich konnte mich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern.
Bisher hatte ich noch nie real einen Spanndorn, einen Schmelztopf und die anderen Werkzeuge meines Handwerks in Händen gehalten. Jetzt nahm ich die Spule mit Kupferdraht und wickelte mit raschen, geübten Bewegungen meinen ersten Ring. Ich brauchte nicht einmal den Spanndorn dafür. Stirnrunzelnd betrachtete ich die Früchte meiner Arbeit und legte den Ring sofort wieder beiseite. Es war nichts als ein billiges Kinkerlitzchen, ohne auch nur eine einzige besondere Eigenschaft. Bestimmt war ich besser dran, wenn ich mich in den Design-Modus versetzte...
Sofort umgab mich von allen Seiten die vertraute Dunkelheit, und vor mir erschien der Draht. Normale Ringe waren wirklich langweilig. Daher flocht ich den Draht. Und wie wäre es mit einem Edelstein? Ein durchsichtiger Stein, der sich im Etui mit den Werkzeugen befunden hatte, tauchte neben dem Ring auf. So, und wenn dieser Ring anschließend keine besonderen Eigenschaften aufwies, wusste ich es auch nicht mehr! Dann musste ich mich womöglich zum Meisterhandwerker begeben und ihn fragen, was ich falsch machte. Aber zuerst brauchte ich einen hübsch geflochtenen Zopf. Wozu hatte ich schließlich sonst all diese Fertigkeiten gelernt?
„Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Schwarz erreicht!“ Kaum hatte ich den Ring fertiggestellt und mich am Ergebnis erfreut, durchdrangen merkwürdige Geräusche, die sich ständig wiederholten, die Dunkelheit um mich herum. „Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Schwarz erreicht! Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Schwarz erreicht!“
Das ging mir so sehr auf die Nerven, dass ich die Augen öffnete. Das helle Licht, das von meinen Händen ausströmte, ließ mich wie üblich blinzeln. Ja, ich hatte ein weiteres Meisterwerk geschaffen! Gleich würden mich die Benachrichtigungen über neue Level und gewonnene Punkte erreichen... Vor mir standen staunend ein paar Charaktere. Da waren der Zwerg, der mich vorhin aus der Schmiede geworfen hatte, zwei Trolle, die versuchten, mich mit ihren Wurfpfeilen zu treffen, ein riesiger Ork, der sich nachdenklich den Kopf kratzte, und ein kleiner Gnom, der an seinem Arm alle möglichen Knöpfe drückte. Es war eine kleine Versammlung von Spielern, die zweifellos mein neues Meisterwerk begutachten wollten.
„Shargak larange!“, sagte der Gnom zu mir. Wenigstens glaubte ich, dass er mit mir redete. Ich schüttelte den Kopf, um ihm klarzumachen, dass ich seine Sprache nicht verstand. Das wollte ich ihm gerade auf Malabarisch, Kartossianisch und in einigen anderen Sprachen von Barliona erklären, von denen ich ein wenig aufgeschnappt hatte, doch plötzlich sah ich unter den Bäumen sie – die Sirene! Das zwei Meter große Biest versuchte nicht einmal, sich zu verstecken. Ganz offen richtete sie mit einem teuflischen Grinsen ihren Dreizack auf mich. Sie wusste, dass die Umstehenden keine Gefahr für sie bedeuteten. Nur ein wahrer Drache konnte Anastaria besiegen!
Ähm... Welche Anastaria bitte?
Ein weiterer Ansturm von Gefühlen überfiel mich und löste eine Gänsehaut aus. Dieselbe Anastaria, die...
„Der Patient hat das Abhängigkeitslevel Grün erreicht!“, meldete sich das Analysegerät, und im Wald breitete sich Schweigen aus. Ich war so voller Hass gegenüber den Sirenen, besonders gegenüber dieser einen speziellen Sirene, dass ich das Zittern meiner Hände nicht unterdrücken konnte. Der Ring entglitt meinen Fingern. Ich bebte am gesamten Leib. In meinem Kopf brauste es wie ein Wirbelsturm, und dennoch konnte ich langsam wieder die Realität wahrnehmen. Ohne Gnome, Orks und Sirenen... Grrrr! Diese hinterlistige, durchtriebene Hexe umzubringen, reichte mir nicht!
„Nicke, wenn du mich hören kannst“, forderte ein kleingewachsener Mann mich auf, den ich für einen Gnom gehalten hatte.
„Ich bin doch keine Wackelfigur, die auf Befehl nickt!“, knurrte ich. „Wie lange war ich denn weggetreten?“
„Etwa fünf Minuten“, antwortete der Schmied. „Dein Analysegerät war so laut, wir mussten eine Kuppel über dich werfen, sonst wären sofort die Ärzte angelaufen gekommen.“
Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns innerhalb einer Kraftfeld-Kuppel befanden, die alle Geräusche blockierte.
„Danke!“, stieß ich hervor. Eines war mir klar – wenn die Ärzte mich gerade eben erlebt hätten, stünden mir weit mehr als nur noch drei weitere Tage hier bevor. Bestimmt würden die mich gleich in ein Krankenhaus einweisen und die nächsten zwei Monate mit allen möglichen Untersuchungen verbringen.
„Wenn du hier herauskommen willst, solltest du während deiner restlichen Zeit nichts mehr machen“, erklärte der Schmied. „Schlaf einfach! Ansonsten – jeder hat hier den einen oder anderen Rückfall, aber wir verpetzen uns untereinander nicht. Wenn die Ärzte etwas davon mitbekommen, schicken sie dich sofort in ein Zentrum für Level Gelb. Und dort ist es weitaus schlimmer, das darfst du mir gern glauben. Also gut – wir sehen uns!“ Das Kraftfeld verschwand, und die Menge zerstreute sich, als ob nichts gewesen wäre. Und schließlich war auch nichts weiter passiert, als dass jemand in Abhängigkeitslevel Schwarz gestürzt war und aufgehört hatte, diese Ebene der Realität wahrzunehmen. In dieser Anlage kam das wahrscheinlich jeden Tag vor.
Ich hob den Ring auf, den ich hergestellt hatte. Ohne ihn weiter zu begutachten steckte ich ihn in die Tasche und dachte nach. Ich hatte jetzt bereits zweimal die Grenze der Realitätswahrnehmung überschritten und keine Ahnung, wieso das passiert war. Ohne die letzte halbe Stunde in Barliona, die einen solch immensen Hass in mir ausgelöst hatte, wäre ich vermutlich nicht in der Lage gewesen, vor Abschluss einer langwierigen Behandlung in den Normalzustand zurückzukehren. Mir fiel nur eine plausible Erklärung ein: Mein Verstand zog die Welt von Barliona vor, und daher versuchte ich nun, die reale Welt in dessen Form zu zwingen.
Diese Erklärung gab Anlass zu einer unangenehmen Frage: Was wäre mit mir, wenn ich Anastaria nicht so abgrundtief hassen würde? Ich musste mir ja nur einmal vorstellen, ich hätte es aus eigener Kraft geschafft, mich freizukaufen, zum Beispiel durch den Verkauf meiner Burg, des Schachspiels und des Auges der Dunklen Witwe. Hätte die intensive Zeit, die ich im Spiel verbracht hatte, es mir auch dann gestattet, so rasch in die Realität zurückzukehren? Oder hätte ich dann mein Dasein als hirntoter Junkie fristen müssen, der nur noch den Wunsch hatte, in Ruhe gelassen zu werden? Die Antwort auf diese Frage war extrem unangenehm. Nein, in dem Fall hätte ich mich an meiner Drachen-Fähigkeit zu fliegen ergötzt und an irgendwelche blöden Sirenen keinen einzigen Gedanken verschwendet. Eine weitere Hasswelle überschwemmte meinen Körper und presste meinen Brustkorb zusammen wie ein Schraubstock. Nun sah sich das einer an – jetzt musste ich diesem Monster womöglich auch noch dafür dankbar sein, mir die Chance verschafft zu haben, ein Mensch zu bleiben? Oh, nein – nicht mit mir!
Die verbleibende Zeit im Reha-Zentrum verbrachte ich damit, den perfekten Patienten zu spielen. Ich vermied alle plötzlichen Bewegungen, unnötigen Worte, Gefühlsschwankungen und Konflikte mit den anderen. Ich war ganz Sonnenstrahlen, Gänseblümchen und Schmetterlinge und all der andere Schnickschnack, der die Ärzte glauben ließ, dass ich mich hervorragend an meine neue Realität anpasste. Zum Glück erlitt ich keine weiteren Fantasie-Anfälle. Allerdings gestattete ich es dem rotglühenden Hass, den ich Anastaria gegenüber empfand, auch nicht, nachzulassen. Ständig rief ich mir meine letzten 30 Minuten in Barliona ins Gedächtnis zurück.
Meine Rachepläne mussten allerdings erst einmal warten. Mir war klargeworden, dass ich momentan ohnehin nichts als kindischen Unfug zustande brachte. Selbst der Plan, den Clan Phönix mithilfe meiner Burg anzugreifen, war kompletter Schwachsinn. Schließlich konnte mir niemand garantieren, dass ich Altameda auf Level 24 halten konnte. Die Programmierer würden einem einzelnen, gewöhnlichen Spieler niemals die Macht einräumen, einen gesamten Clan zu ruinieren. Vor allem nicht den führenden Clan. Wahrscheinlich würden sie Altameda schon beim ersten Angriff zerstören. Immerhin war ich ein Spieler und kein Engel wie Urusai. Dem hatte man gestattet, Glarnis auf diese Weise zu vernichten, doch diesen Erfolg konnte ich garantiert nicht wiederholen.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte meine Ärztin mich bei meiner Freilassung. Das Analysegerät hatte gemeldet, dass die Rehabilitationsphase der Person mit dem Namen Daniel Mahan nun beendet war und er unbesorgt in die Wildnis entlassen werden konnte.
„Ich fühle mich sehr gut, danke“, versicherte ich ihr. Lucia hatte die gesamte Zeit in meiner Nähe verbracht und sich bemüht, Anzeichen von Aggression oder einem Anfall oder von irgendetwas zu entdecken, das es ihr gestattet hätte, mich länger hier festzuhalten, doch ich war ruhig geblieben. Die Lady konnte einfach nicht kapieren, wie ich es geschafft hatte, so schnell das Abhängigkeitslevel Schwarz zu verlassen. Offensichtlich ging sie von einem Fehler aus – entweder der künstlichen Intelligenz oder der Leute, die mich freigelassen hatten. Ich konnte nur hoffen, dass es sich um Ersteres handelte.
„Ich habe ein Geschenk für Sie“, wechselte ich das Thema. „Es soll Sie in Zukunft an einen Ihrer Patienten erinnern.“
Ich holte den Drahtring aus der Tasche. Inzwischen hatte ich meine Arbeit mehrfach betrachtet. Das ungläubige Staunen der Ärztin überraschte mich daher nicht. Ich hatte ihr einen zierlichen Ring aus geflochtenem Draht mit überall im Geflecht verteilten Pailletten überreicht. Hätte mich jemand gebeten, eine Kopie davon zu erstellen, ich hätte ihn nur verwirrt angeschaut. Nur mithilfe seiner Hände konnte niemand einen solchen Ring herstellen. Dazu brauchte es schon ziemlich komplizierte Hilfsmittel, die im Etui mit den Juwelierwerkzeugen nicht zu finden gewesen waren. Dennoch lag nun dieser Ring vor mir, entstanden in einem Zustand des vollständigen Eintauchens ins Spiel, der meine Hände geführt und sie dazu gebracht hatte, auf unerklärliche Weise dieses Meisterwerk zu erschaffen. In Barliona hätte ich mir damit bestimmt ein oder zwei Punkte für mein Handwerk gesichert...
„Bitte unterschreiben Sie hier, hier und hier, Daniel“, wies der Krankenpfleger mich an, der mich aus meinem Zimmer geholt hatte. Er gab mir meine Besitztümer zurück, einschließlich des Schlüssels zu meiner Wohnung. „Sehr gut“, nickte er befriedigt, nachdem ich wiederholt meinen Friedrich Wilhelm aufs Dokument gesetzt hatte. „Ich hoffe, wir sehen uns im realen Leben nicht wieder. Eine Gefängnisstrafe ist wirklich für niemanden gut.“
* * *
Ich blickte dem Wagen mit dem Logo des Unternehmens nach, der sich immer weiter von mir entfernte. Als ich ihn nicht mehr sehen konnte, schaute ich mich mit einem tiefen Seufzen um. Im Laufe des letzten Jahres hatte sich hier kaum etwas verändert. Da war der kleine Park mit dem Kinderspielplatz. Mütter mit Kinderwagen schwadronierten über die letzte Folge ihrer Lieblingsserie, und ältere Damen mit unfreundlichen Gesichtern musterten misstrauisch jeden Fremden, der vorbeikam. Ja, genau so hatte ich mein Zuhause in Erinnerung! Jetzt fehlte nur noch Sergei, der im fünften Stock wohnte. Zu dieser Tageszeit lag er meistens längst besoffen unter einem Busch oder mäanderte im Zickzack durch die Straßen. Ausgedehnte Arbeitslosigkeit und wiederholte Vorladungen der Imitatoren hatten diesen einstmals guten Menschen aufgerieben, und nun lebte er von der Sozialhilfe. Oder vielmehr, statt zu leben verbrachte er seine Tage mit Saufen und Schlafen. Die Behörden hatten ein waches Auge auf Leute in seinem Zustand. Schon beim kleinsten Anzeichen von Aggressivität schickte man sie in die Minen. Sergei allerdings ging seinem Lebensstil auf die denkbar harmloseste Weise nach.
„Hallo, Daniel”, sagte ein junger Mann, der auf einer Bank vor meinem Haus saß. „Ich bin Alexander. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?”
Verwundert starrte ich den Kerl an, der kaum 20 war und wie geleckt aussah. Trotz des warmen Wetters trug er einen Anzug. Auch jemand, der weder aufmerksam noch misstrauisch war, konnte das Abzeichen auf seinem Jackett kaum übersehen, das mir verriet: Er war beim Unternehmen beschäftigt.
„Ja, warum nicht?“ Ich zuckte mit den Schultern. Es ergab ohnehin keinen Sinn, mich zu verstecken, und wenn jemand unbedingt mit mir reden wollte, war es am besten, darauf einzugehen. „Sollen wir uns hier unterhalten oder in meiner Wohnung?“
„Ich würde Ihre Wohnung vorziehen – hier draußen ist es ziemlich heiß“, entschied Alexander. Er lockerte seine Krawatte und bewies mir damit, dass die Angestellten des Unternehmens Menschen waren und keine Roboter, auch wenn sie oft so wirkten.
Meine Wohnung begrüßte uns mit Schweigen und einer Staubschicht, die nahezu jede Oberfläche bedeckte. Das Luftfiltersystem hatte ich abgestellt, bevor ich mich auf den Weg zu den Minen begeben hatte. Damals war ich noch davon ausgegangen, dass ich mich nicht sehr lange im Spiel aufhalten würde. Entsprechend trostlos und trübsinnig sah nun alles aus. Es war keine zentimeterdicke Schicht, aber jede Berührung von irgendetwas würde Fingerabdrücke hinterlassen.
„Setzen Sie sich doch.“ Ich holte ein Bettlaken aus der Kommode und warf es über das Sofa, also über den Staub dort. Anschließend schaltete ich das Luftfiltersystem ein. Sobald Alexander gegangen war, musste ich mich um einen Reinigungsdienst kümmern. Allein wurde ich mit diesem Zustand sicher nicht fertig. „Kann ich Ihnen ein Glas Wasser beschaffen?“
„Oh, da sage ich nicht nein.“ Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des jungen Mannes aus, so schüchtern, als wäre es selbst höchst verwundert darüber, seinen Weg in diese maskulinen Züge gefunden zu haben.
„Gut, ich bestelle das sofort.“ Alexander sagte auch nicht nein, als ich ihm darüber hinaus etwas zu essen anbot. Ich bestellte also ein Mittagessen für zwei. Wie wahre Diplomaten verschoben wir das eigentliche Gesprächsthema bis nach dem Essen und sprachen stattdessen über die momentane Hitze, Autos und Barliona.
„Danke für das Mittagessen“, erklärte Alexander schließlich. „Bei meiner Arbeit habe ich oft keine Zeit zum Essen.“ Er zeigte sich nun vollkommen menschlich und hatte den letzten Anschein aufgegeben, eine Art Maschine zu sein. „Daniel, sagen Sie mir doch bitte, welche Pläne Sie für die nächsten Jahre haben.“
„Über einen solch langen Zeitraum habe ich noch nicht nachgedacht.“ Ich grinste. „Momentan weiß ich nicht einmal, was ich morgen machen werde, und Sie wollen wissen, was ich mir für die nächsten Jahre vorstelle?“
„Dann formuliere ich die Frage anders. Haben Sie vor, den Charakter beizubehalten, den Sie im letzten Jahr in Barliona gespielt haben?“
„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie die Begriffe ‚Gefängnisstrafe‘ und ‚Minen‘ vermieden haben“, bemerkte ich spöttisch. Doch die Verlegenheit, die sich daraufhin in seinem Gesicht zeigte, ließ mich beschämt innehalten. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass ich in den Minen gelandet war. „Tut mir leid – das ist mir so herausgerutscht. Ich war davon ausgegangen, dass man mir solche Fragen im Rahmen der Rehabilitation stellt und nicht erst, wenn ich wieder zu Hause bin.“
„Da haben Sie recht, aber in Ihrem Fall gibt es ein kleines Hindernis, eine Fehlfunktion der Ausrüstung. Das hat dazu geführt, dass, aus welchem Grund auch immer, falsche Daten an das Überwachungssystem übermittelt wurden. Der Fehler ist, um genau zu sein, sogar recht bemerkenswert. Unserem System zufolge haben Sie sich beim Verlassen der Kapsel auf Abhängigkeitslevel Schwarz befunden, sind jedoch aus eigener Kraft innerhalb kürzester Zeit auf Level Grün gelandet. Das Level Schwarz verbleibt als dauerhafte Kennung im System. Daher hätten Sie das Reha-Zentrum an sich nicht vor dem Ablauf von drei Monaten verlassen dürfen. Die fehlende Synchronisierung unserer Systeme hat Sie bereits jetzt entlassen. Daher bestand keine Gelegenheit, mit Ihnen Dinge wie Ihren Avatar und die im Spiel erworbenen finanziellen Mittel zu besprechen. Aber dafür bin ich jetzt hier.“
„Ich verstehe. In dem Fall kann ich Ihnen die Frage beantworten – ich möchte, dass das Unternehmen mir den Charakter zurückgibt, den ich während meiner Strafzeit in Barliona gespielt habe, und zwar mit derselben Klasse, mit demselben Namen, denselben Achievements und derselben Reputation. Ist das möglich?“
„Selbstverständlich. Es gibt dafür ein Standardverfahren. Das Konto wird auf die öffentlichen Server übertragen.“ Alexander seufzte erleichtert und holte einen Tablet-PC hervor. „Sie müssen nur hier unterschreiben, und hier, und schon beginnt der Prozess der Überführung.“
„Hervorragend!“ Das zweite Mal an diesem Tag kritzelte ich meine Unterschrift und gab Alexander das Tablet zurück. „In dem Fall danke ich Ihnen sehr für Ihren Besuch.“
„Sagen Sie, sind Sie der Schamane Mahan?“
„Was meinen Sie mit ‚der‘?“
„Der Schamane, der die Hauptrolle in zwei Filmen gespielt hat und einer der bekanntesten Spieler in ganz Barliona war“, erklärte Alexander errötend und fügte hinzu: „Derjenige, der seinen Clan aufgelöst hat...“
„Was?“ Ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen. „Was meinen Sie damit, ich hätte meinen Clan aufgelöst?“
„Nun ja... Sie... Ich meine... Alle wissen, dass es die Legenden von Barliona nicht mehr gibt... Es ist jetzt schon eine Woche her... Sie haben alle Spieler aus dem Clan entfernt, bis auf sich selbst und Plinto, hinter dem der Clan Phönix her ist.“
„Darf ich erfahren, woher Sie diese Informationen haben?“, wollte ich wissen. Ich kapierte nicht, was hier los war. Wie kam der Kerl nur auf solche Schnapsideen? Wie hätte ich denn etwas auflösen können, das ich mit so viel Liebe aufgebaut hatte?
„Auf Anastarias Webseite wurde ein Interview mit ihr veröffentlicht, und darin hat sie berichtet, dass... Aber warum erzähle ich Ihnen das? Sie können sich das doch selbst anschauen! Sie haben einen Computer, oder etwa nicht?“
„Hallo Anastaria“, begrüßte der Gastgeber der Show die Sirene. Das Ganze war ersichtlich in Barliona gefilmt worden – über den Köpfen aller schwebten Namen und Clan-Symbole. „Ich möchte dir gern die Frage stellen, die momentan die meisten Spieler beschäftigt – warum bist du zum Clan Phönix zurückgekehrt? Es wissen ja nun alle, dass die Legenden von Barliona mit Phönix eng verbunden waren, aber eine so massive Abwanderung von den Legenden zu Phönix hat niemand erwartet. Kannst du uns schildern, was passiert ist?“
„Nun, es gab einen Konflikt zwischen Mahan und mir, und infolgedessen wurde der Clan aufgelöst. Wir haben seine strategischen Ressourcen veräußert. Mahan hat allerdings den größten Teil der vorhandenen Geldmittel für private Zwecke verwendet und uns den Zugang zur Burg des Clans verwehrt. Du hast absolut recht – die Legenden waren eng mit Phönix verbunden. Deshalb habe ich allen, die mit Mahans Vorgehensweise ebenfalls unzufrieden waren, die Chance gegeben, zu Phönix zu wechseln. Mahan selbst ist verschwunden. Ich vermute einmal, er hat alles, was in der Clan-Kasse war, in die Realität übertragen und macht sich nun ein schönes Leben. Natürlich kann ich mich da auch irren. Jedenfalls, er selbst, alles Gold, die Ressourcen und die Burg sind weg. Also hat der Clan effektiv aufgehört zu existieren. Und weiter möchte ich über dieses Thema nicht sprechen. Es ist eine für mich schmerzhafte Angelegenheit. So sehr bin ich seit Langem nicht mehr von jemandem verraten worden...“
„Das ist eine höchst unerwartete Erklärung! Also gut – beenden wir das Thema der Legenden von Barliona. Sag mir, warum hast du dieses Jahr nicht am Schönheitswettbewerb teilgenommen?“
„Nun, ich wollte den anderen Frauen auch einmal eine Chance geben...“
Anschließend verkündete Anastaria ihre Liebe zur Menschheit und ihr Verlangen, den weniger vom Glück bedachten Spielern zu helfen, doch ich hörte nicht mehr zu. Was für eine hinterlistige Schlange! Genau betrachtet hatte sie keine einzige Lüge von sich gegeben, doch die Art und Weise, wie sie die Sache geschildert hatte! Ich sah, dass sich im Laufe der letzten fünf Tage bereits mehr als 30 Millionen Leute dieses Video angesehen hatten. Damit war der Grund für den Untergang der Legenden von Barliona in der öffentlichen Meinung längst zu einer Tatsache geworden. Was auch immer ich jetzt erwiderte, welche Zeugen auch immer ich anschleppte oder welche Videos ich zeigte – die Spieler waren nun auf der Seite von Anastaria und Phönix. Diese verdammte Schlampe!
„Wie nett!“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sagen Sie, Alexander, kann ich mir die Aufnahmen meiner letzten halben Stunde in Barliona beschaffen? Die müssten ja eindeutig beweisen, wer hier in Wirklichkeit wen verraten hat!“
„Natürlich“, antwortete Alexander. „Sie müssen nur eine Mail schreiben, in der Sie... Warten Sie – wollen Sie etwa behaupten, Anastaria hätte gelogen? Und es hätte sich nicht alles so abgespielt, wie sie es beschrieben hat?“
„Das ist es ja – sie hat... Nein, lassen wir das. Wenn Sie nichts weiter Geschäftliches mit mir zu besprechen haben, wäre ich jetzt gern allein. Ich muss über das nachdenken, was ich gerade gesehen habe.“
Je mehr ich über das Video nachgrübelte, desto stärker wurde mein Hass auf Anastaria. Dabei hatte ich schon gedacht, der ließe sich unmöglich weiter steigern! Es hatte ihr nicht gereicht, dass sie mich beraubt und aus dem Spiel gezwungen hatte – jetzt musste sie auch noch die öffentliche Meinung gegen mich manipulieren! Sie ließ es so aussehen, als hätte ich die Clan-Mitglieder ausgenutzt, um mir meine Freiheit zu verschaffen. Oder noch schlimmer: mich persönlich zu bereichern. Es wussten ja nicht alle, dass ich ein Gefangener gewesen war. Selbst wenn es mir gelang, nachzuweisen, dass Phönix mich die ganze Zeit verarscht hatte, war da immer noch die Sache mit den Clan-Geldern, und das würde verhindern, dass die Spieler mir in Zukunft wieder vertrauten. Wer wollte schon mit jemandem zusammenspielen, der die Mittel des Clans veruntreut hatte? Ich brauchte wirklich dringend eine rechtliche Beratung!
Also begab ich mich im Internet auf die Suche nach einem Rechtsanwalt.
* * *
„Ich muss Ihnen leider sagen, dass niemand in der Lage sein wird, Ihnen zu helfen.“ Bedauernd schüttelte einer der führenden Anwälte unserer Stadt, der sich auf Computerspiele spezialisiert hatte, den Kopf.
Ich hatte praktisch alles Geld, das ich vor dem Antritt meiner Strafe besessen hatte, für diese Beratung ausgegeben, in der Hoffnung, Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Zum Beispiel auf die Frage, wie ich mir meine gestohlenen Gegenstände von Anastaria zurückholen konnte.
Der Anwalt hatte sich meinen Bericht angehört, sich nach ein paar Einzelheiten erkundigt, die Protokolle vom Unternehmen angefordert – wie sich herausstellte, war das einem Rechtsberater mit Zustimmung seines Mandanten möglich –, sie eingehend studiert, und mir dann erläutert, dass er nichts machen könnte. Anastaria hätte sich, so erklärte er, im Rahmen der Spielregeln bewegt. Also hatte ich das Geld und einen gesamten Tag darauf verschwendet, zu erfahren, dass am Ende tatsächlich ich der Dumme war.
Niemand hatte mich gezwungen, der Sirene den Zugang zu meinem Inventar zu gestatten. Es war eines der fundamentalen Prinzipien von Barliona, dass alles, das sich ein Spieler unter den Nagel riss, ohne gegen die Regeln zu verstoßen, zu seinem rechtmäßigen Eigentum wurde. Das verlockte ja so viele, sich im Spiel herumzutreiben. Hätte ich meinen Beutel verschlossen gehalten, wäre es Diebstahl gewesen, etwas herauszunehmen. Das Auge, das Schachspiel und alles andere waren mein Eigentum. Programmierer oder Hacker konnten sich zwar daran vergreifen, aber anschließend konnte ich sie verklagen. Doch indem ich Anastaria Zugangsrechte eingeräumt hatte, hatte sie gewissermaßen als zweiter Eigentümer ebenfalls ein Recht auf alle Objekte erlangt. Und dabei hatte ich freiwillig gehandelt. Niemand hatte irgendwelchen Druck auf mich ausgeübt, niemand hatte mich gezwungen. Ja, ich war in der Tat der Dumme...
Auch gegen das, was Anastaria im Interview gesagt hatte, war ich machtlos. Rechtsmittel dagegen standen mir nicht zu. Hatte ich die Mittel des Clans für private Zwecke verwendet? In der Tat. Waren die Ressourcen des Clans verkauft worden? Oh, ja. Waren die Spieler zu Phönix gewechselt? Allerdings. Verdammt! Ich konnte dem Biest keinerlei Verleumdung oder Falschdarstellung nachweisen. Sie hatte ihre Worte sehr geschickt gewählt.
Der Anwalt konnte mir nur eine einzige gute Nachricht übermitteln. Wenn ein Spieler gegen seinen Willen in die Realität zurückkehrte und dort festgehalten wurde, war nach den Gesetzen von Barliona sein Anwesenheitserfordernis an bestimmten Orten – zum Beispiel in meiner Burg – bis zu seiner Rückkehr vorübergehend aufgehoben. Sollte ich also ins Spiel zurückkehren und feststellen, dass Altameda nicht mehr mir gehörte, konnte ich eine gerichtliche Verfügung beantragen, die mir das Eigentum wieder verschaffte.
Einen Präzedenzfall für ein solches Verfahren hatte es allerdings bislang noch nicht gegeben. Normalerweise achtete das Unternehmen sehr genau darauf, sich an seine eigenen Gesetze zu halten. Weiter versicherte der Anwalt mir, dass ich auch der vorrangige Eigentümer blieb, vor meiner Ehefrau und meinem legalen Bruder, also vor Anastaria und Plinto. Das war aber auch der einzige Sonnenstrahl in der Düsternis der Informationen, die auf mich einstürzten.
„Hallo Daniel!“ Alexanders Anruf erreichte mich, als ich wieder zu Hause eingetroffen war. „Ich habe gute Nachrichten für Sie – die Übertragung Ihres Charakters ist abgeschlossen. Sie können ins Spiel zurückkehren, wann immer Sie möchten. Und als Entschädigung für die jüngsten Probleme mit Ihrem Konto möchte das Unternehmen Ihnen ein kleines Geschenk machen, das sich auf das Spielen selbst natürlich nicht auswirkt. Aber es wird Ihre Erfahrung im Spiel verbessern. Es geht um die Projektionen – ab sofort kann jedes Ihrer Clan-Mitglieder sich seine Projektion selbst aussuchen und ist nicht darauf angewiesen, die Projektion zu akzeptieren, die der Imitator bestimmt. Das wird Ihnen und allen zukünftigen Mitgliedern bestimmt gut gefallen.“
„Danke, das ist sehr nett“, knurrte ich. Was für ein „großzügiges“ Angebot! Vor allem, wenn man die Tatsache bedachte, dass der Clan der Legenden von Barliona derzeit gar keine Mitglieder mehr hatte! Und für mich selbst war das Angebot, meine Drachen-Projektion gegen etwas anderes einzutauschen, so nützlich wie ein Fahrrad für einen Hund. Ich meine, theoretisch könnte ein Hund vielleicht sogar tatsächlich lernen, Fahrrad zu fahren. Aber auf seinen vier Pfoten war er doch immer besser dran.
„Wenn Sie weitere Fragen haben, können Sie mich oder meine Kollegen aus der Anpassungsabteilung jederzeit anrufen“, fuhr Alexander fort. „Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg bei Ihrer Eroberung von Barliona!“
Das Handy piepte und zeigte mir damit an, dass meine Unterhaltung mit dem Unternehmen beendet war. Ich war rehabilitiert, nach Hause zurückgekehrt, man hatte mir ein Geschenk gemacht, und nun konnte man den Fall offiziell schließen. Ab sofort war ich auf mich allein gestellt.
Während ich mich in der Anwaltskanzlei aufgehalten hatte, war der Reinigungsdienst über meine Wohnung hergefallen und hatte sie wieder in einen zivilisierten Zustand versetzt. Alles blitzte und blinkte, und selbst meine Wände waren mit einem neuen Anstrich versehen worden. Nichts erinnerte mehr an die Vernachlässigung, die nahezu ein Jahr gedauert und alles in die schlimmste Junggesellenhöhle verwandelt hatte. Wobei – eine Junggesellenhöhle war meine Wohnung immer noch, wenn man es genau nahm...
Ich erledigte alle anstehenden Aufgaben, setzte mich aufs Bett und starrte auf die Spielekapsel, die daneben auf mich wartete. Einerseits konnte ich es kaum erwarten, nach Barliona zurückzukehren und herauszufinden, was im Laufe der letzten Tage mit meinem Clan passiert war. War meine Burg noch immer vorhanden und unbeschädigt? Und wie viele Leute waren noch auf meiner Seite? Über welche Mittel verfügte ich? Andererseits gab es ein ernsthaftes Problem – wieder im Spiel konnte ich Anastarias Gedanken „hören“, wenn sie es wollte und mich zu erreichen versuchte. Ich bezweifelte stark, über die Kraft zu verfügen, auf ihre Stimme in meinem Kopf angemessen zu reagieren, und ein Ausflippen wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Nein, zuerst musste ich das unmittelbar anstehende Problem lösen und einen Plan aufstellen, wie ich Phönix seinen Verrat heimzahlen konnte. Ich musste denen eine Lektion erteilen – ungestraft konnte man so nicht mit mir umspringen! Allerdings würde ich eine Weile brauchen, mir einen gangbaren Weg dafür auszudenken.
Die Kapsel konnte mir bei meiner Entscheidung nicht helfen, ob ich gleich wieder ins Spiel eintauchen oder lieber noch abwarten sollte. Also fuhr ich meinen Computer hoch und holte erst einmal meine E-Mails ab. Obwohl ich mich inzwischen bereits seit zwei Tagen meiner Freiheit erfreute, war ich dazu bisher noch nicht gekommen. In der Vergangenheit hätte ich mir eine solche Lässigkeit niemals gestattet – schließlich gab es für die meisten Projektausschreibungen und Wettbewerbe eine Anmeldefrist, und wenn ich nicht rechtzeitig reagierte, war die Chance verpasst.
Hallo Daniel!
Wir kennen uns nicht, aber wir haben etwas gemeinsam: Phönix. Ebenso wie du wurde auch ich zu einem Opfer dieses Clans, und jetzt dürste ich nach Rache. Diese Mistkerle müssen für das bezahlen, was sie getan haben! Ich habe keine Ahnung, welche Pläne du geschmiedet hast – vielleicht möchtest du gar nicht nach Barliona zurückkehren, nach all dem, was man dir angetan hat. Aber nur für alle Fälle schicke ich dir einen Link zu einem Video. Anschließend wirst du verstehen, wieso Phönix dich in die Minen zurückschicken wollte. Schau dir die Aufnahmen an und denke gründlich darüber nach. Und falls du dich dazu entschließt, ebenfalls einen Rachefeldzug zu beginnen, schlage ich eine Zusammenarbeit vor. Momentan spielt es keine Rolle, wer ich bin und welche Ressourcen ich besitze. Derzeit musst du nur eines wissen: Ich verfüge über die Mittel.
Entscheide dich, Schamane!
Diese höchst interessante Nachricht hatte sich unter den Hunderten von E-Mails mit Informationen über Wettbewerbe und Werbung befunden, die es durch die von mir eingerichteten Filter geschafft hatten. Und am interessantesten war nicht etwa der Text der E-Mail, der ja für sich sprach, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt in meinem Posteingang gelandet war. Diese Person, um wen es sich dabei auch immer handelte, wusste, dass ich der Schamane Mahan war, sie wusste, was man mir angetan hatte, sie kannte meine E-Mail-Adresse und sie wusste vermutlich auch, wo ich wohnte. Die E-Mail-Adresse des Absenders lautete 2233443322@burnermail.vxn – was mir eines verriet: Es war eine Wegwerfadresse, die ausschließlich dem Zweck diente, diese Nachricht zu versenden und eine Antwort darauf zu empfangen. Das war alles äußerst merkwürdig.
Die E-Mail war so faszinierend, dass ich die wichtigste Regel beim Umgang mit E-Mails und Internet vergaß: Klicke niemals auf unbekannte Links. Ich rief das Video auf – und sah die Bilder meiner letzten Minuten in Barliona vor mir. Ich schauderte, als ich erneut Anastarias Stimme hörte, und eine Welle des Hasses durchlief mich. Hass auf sie und Hass auf Leite – sie waren die beiden Hauptakteure beim Verrat an mir. Doch trotz dieser überwältigenden Emotion drang die Szene zu mir durch, die Szene der moralischen Vernichtung des Schamanen. Meiner moralischen Vernichtung. Wäre Anastaria mir in diesem Augenblick über den Weg laufen, ich hätte nicht garantieren können, dass ich sie am Leben ließe. Selbst wenn das bedeutete, den Rest meines Lebens in den Minen verbringen zu müssen. Am Ende beobachtete ich mich selbst, wie ich mich fassungslos auf den Felsen fallen ließ, auf den letzten Countdown wartete und mich schließlich auflöste. Dann gab es den Schamanen Mahan in dem Spiel mit dem Namen Barliona nicht mehr. Wenigstens einstweilen.
Die Kamera schwenkte herum und zeigte, wie sich das Tor zum Grab des Schöpfers öffnete. Die gigantische Steinplatte, gegen die Anastaria nichts hatte ausrichten können, schwang beiseite und gab den Gang zum Grab frei. Doch kaum machten die Spieler Anstalten, ihn zu betreten, fiel ein Stern vom Himmel, der sich beim Näherkommen in zwei Engel verwandelte, einen weißen und einen schwarzen.
„Der Schöpfer hat das Grab geöffnet!“, rief der schwarze Engel laut. Er hatte, was für Barliona ungewöhnlich war, keinen Namen.
„Von jetzt an bis in alle Ewigkeit soll dieser Dungeon über den Status ‚Ursprünglich‘ verfügen“, erklärte der zweite Engel. „Alle an diesem Ort gefundenen Gegenstände sind entweder Einzigartig oder Legendär! Doch dies gilt ausschließlich für den Schöpfer selbst.“
„Wo ist er?“, erkundigte sich der schwarze Engel. „Wo ist derjenige, dem wir den Originalschlüssel übergeben müssen, den Schlüssel zum begehrtesten Ort in ganz Barliona?“
„Er ist nicht hier, Wächter“, erwiderte Anastaria und beugte das Haupt. „Nachdem er das Grab geöffnet hatte, überkamen den Schöpfer maßloser Zorn und Hass auf diese Welt, und er hat sie für immer verlassen. Ihr könnt ihm den Schlüssel nicht geben.“
„Du sprichst die Wahrheit!“, rief der weiße Engel erstaunt aus. „Aber wie konnte denn der Schöpfer die Welt zu hassen beginnen, nachdem er gerade erst den Weg zum Grab geöffnet hatte? Und wem sollen wir jetzt den Schlüssel geben? War etwa alles umsonst?“
„Hier ist jemand, der anstelle des Schöpfers den Schlüssel empfangen kann.“ Anastaria deutete auf Barsina. „Hier ist sie – gebt ihr den Schlüssel! Sie kann den Schöpfer ersetzen!“
„Es ist bestätigt“, nickte der schwarze Engel. „Es ist Barsina gestattet, den Schlüssel entgegenzunehmen. Aber wir sind geduldig. Erst wenn der Schöpfer nicht innerhalb eines Monats vor uns erscheint, werden wir Barsina den Schlüssel überreichen, und dann ist es allen Freien Bürgern gestattet, den Dungeon zu betreten. Doch jeder, der es versucht, vor Ablauf dieser Zeit an uns vorbei zu schlüpfen, wird vernichtet. Wir haben gesprochen!“
„Bitte vergebt mir meine Dreistigkeit“, erwiderte Anastaria, „aber was geschieht, wenn der Schöpfer nicht innerhalb eines Monats vor euch erscheint? Wird der Dungeon dann seinen Status verlieren?“
„Wenn der Schöpfer uns nicht aufsucht, erklären wir Barsina zum agierenden Schöpfer. Der Dungeon behält seinen Status, und es wird 20 empfindungsfähigen Wesen, einschließlich Barsina, der Zutritt gestattet.“
Die Engel stellten sich vor den Eingang, den sie nun mit ihren enormen Gestalten bewachten, und schwiegen. Auf einmal flogen Anastaria und Höllenfeuer, die vor ihnen gestanden hatten, wie von unsichtbarer Hand geschleudert auf sie zu. Man konnte deutlich sehen, dass es gegen ihren Willen geschah. Da war eine unsichtbare Macht im Spiel, und zwar eine, die stark genug war, zwei der besten Spieler in Bewegung zu versetzen.
Plinto!
Mit zwei raschen Bewegungen eines schwarzen und eines weißen Flügels wurden Anastaria und Höllenfeuer aufgelöst und zum Respawn geschickt. Gleichzeitig machte sich der Schurke sichtbar. Er bedachte die schockierten Umstehenden, die sich am Grabeingang versammelt hatten, mit einem blutdürstigen Blick und knurrte: „Also gut, ihr Mistkerle – sollen wir miteinander tanzen?“
So durchgeknallt hatte ich Plinto noch nie erlebt. Mit seinen roten Augen und seinem schwarzen Outfit erinnerte er an den Patriarchen in schlechtester Laune. Gleich darauf löste der Schurke, oder vielmehr der Vampir, sich wieder auf, und schon verschwanden die anderen Spieler, einer nach dem anderen. Plinto hatte mit seiner Vergeltung für das begonnen, was man dem Anführer seines Clans angetan hatte. Dann war das Video zu Ende.
Blicklos starrte ich auf den Bildschirm und versuchte, die Ereignisse zu begreifen. Nach einer Weile stellte ich erstaunt fest, dass meine Hände zitterten. Wie Plinto hatte ich nur einen Wunsch: Ich wollte jeden der Spieler auf der Ebene vor dem Grab persönlich bei der Kehle packen und würgen, bis ihnen die Augen aus dem Kopf traten und ihre Körper mit blutigen, leeren Augenhöhlen zuckend zu Boden sanken. Es war mir gleichgültig, dass es in Barliona kein Blut gab. Ich stellte es mir einfach vor. Für so brutal hatte ich mich bisher nie gehalten, aber das, was Phönix mit mir gemacht hatte, verlangte nach einer solchen Reaktion.
Endlich ließ der Ansturm der Gefühle nach, und ich konnte wieder klar über das nachdenken, was ich zu sehen bekommen hatte.
Anastaria hatte es darauf angelegt, dass ich die Ebene verließ, bevor die Öffnung des Grabs vollständig abgeschlossen war. Natürlich hätte sie mich auf verschiedenste Weisen loswerden können, doch sie hatte sich für die radikalste Methode entschieden. Sie hatte mich so geschickt manipuliert, dass ich aller Voraussicht nach auf sie losgehen und entsprechend anschließend in die Minen zurückgeschickt werden musste. Hätte ich es nicht wider Erwarten geschafft, mich zu beherrschen, hätte ich sie mit hundertprozentiger Sicherheit angegriffen, nachdem sie mich so verraten hatte. Was die Herolde auf den Plan gerufen hätte. Der Plan von Phönix war meisterhaft. Hätte alles so funktioniert wie erhofft, müsste ich mich nun die nächsten sieben Jahre in den Minen herumtreiben und hätte bald nachlesen können, wie die großartigen Spieler von Phoenix den Dungeon des Schöpfers abschlossen. Tja, Pech gehabt!
Ich löste mich kurz von allen Gedanken an Stacey und beschäftigte mich mit einer nicht weniger wichtigen Frage: Wer war der mysteriöse heimliche Beobachter, der das Video aufgenommen hatte? Ich schaute mir alles erneut an, fand jedoch keine Antwort auf die Frage. Alle, an deren Anwesenheit ich mich erinnerte, waren zu sehen – Clutzer, Leite, Magdey und die Raider. Somit könnte der „Kameramann“ einer der anderen Spieler von Phönix sein, die nach Clutzer, Leite und Magdey auf der Ebene eingetroffen waren.
Diese Überlegung löste eine Reihe neuer Fragen aus, die ich momentan nicht beantworten konnte. Oder vielmehr, mir stand ein Weg zur Beantwortung wenigstens einiger dieser Fragen offen - ich musste mich mit jemandem zusammenschließen, den ich nicht kannte. Wer sagte mir, ob das am Ende zu meinem Vorteil war? Wollte ich mich wirklich einem Unbekannten ausliefern, nur, um an Phönix Rache zu üben? Und wollte ich tatsächlich einen Teil meines Lebens damit verbringen, anderen Schaden zuzufügen?
Ich warf einen Blick auf den Bildschirm. Ich hatte das Video in dem Augenblick gestoppt, in dem der Schamane Mahan das Spiel verließ. (Jetzt sprach ich von mir schon in der dritten Person!) Der Anblick beantwortete mir diese Fragen eindeutig – oh, ja! Genau das wollte ich!
Hallo,
ich habe die Demonstration deiner Fähigkeiten sehr genossen. Du hast dir ein Video unter den Nagel gerissen, das einer der Phönix-Spieler gedreht haben muss. Du kennst meine E-Mail-Adresse und du kennst meinen wahren Namen. All das verrät mir, dass du geraume Zeit oder viel Geld für ein einziges Ziel investiert hast: mit mir zu reden. Ich stehe für ein Gespräch bereit und kann dir versichern, dass meine Rache an Phönix für mich derzeit oberste Priorität besitzt. Momentan habe ich keine Ahnung, wie ich ihnen Schaden zufügen soll. Meine bisherigen Gedanken über dieses Thema haben sich als unproduktiv erwiesen. Ich bin gern bereit, es mit dir zu besprechen, wenn du ein konkretes Vorhaben im Auge hast, und dich bei der Umsetzung zu unterstützen. Ich stehe voll hinter dir, wenn es darum geht, den Clan Phönix seiner Vorherrschaft in Barliona zu berauben.
Nachdem ich die E-Mail geschrieben hatte, wusste ich bereits, was ich als Nächstes tun würde. Ich würde Anastaria nicht mehr allein gegenübertreten müssen, und ich war gespannt, wer dieser Typ war und welche Motive ihn antrieben. Auf jeden Fall aber war ich mir nun sicher: Der Schamane Mahan würde im Laufe der nächsten fünf Minuten ins Spiel zurückkehren! Der Gedanke an Anastaria konnte mich nicht länger abhalten.
„Übertragung des Charakters läuft“, meldete eine angenehme weibliche Stimme mir. Aus der Gefangenenkapsel war ich eher metallisches Kreischen gewohnt, das mich hatte erschaudern lassen, doch diese Zeit war nun offensichtlich beendet. „Objektmodellierung abgeschlossen. Die Spielerdaten wurden mit der Kapsel synchronisiert. Das logische Netzwerk wurde initialisiert: Zentralplatz von Anhurs. Aktivierung der Charaktereinstellungen läuft...“
Ich sah einen Ladebalken und dann den Bildschirm mit den Einstellungen. Dort stand mein Schamane vor dem Hintergrund eines riesigen Vulkans, der Lava ausspie, und grinste frech in die Welt vor mir – ähm, vor sich. Die thrizinianische Rüstung unterstrich meine Schamanenklasse gut. Die Spitze von Almis‘ Stab, den ich in der Hand hielt, leuchtete hell. Um meinen Avatar herum flitzte meine kleine Drachenprojektion. Und hinter mir, zwischen mir und dem Vulkan, stand ein gigantischer dunkelblauer Drache: Draco! Noch vor einer Woche war er lediglich groß gewesen, etwa drei Meter lang. Das war gerade noch so die richtige Größe für ein Schoßtier. Doch jetzt war es ein voll ausgewachsener Drache, der neugierig die Welt betrachtete, mit einer Höhe von vier Metern. Die neue Länge meines Totems stellte ich mir lieber erst gar nicht vor. War er wirklich innerhalb weniger Tage so sehr gewachsen? Oder sah ich lediglich mein Totem in dem Zustand vor mir, den Draco irgendwann erreichen würde? Selbst in meiner Drachenform würde ich neben ihm winzig wirken.
Die Benutzeroberfläche der Einstellungen erinnerte mich daran, dass ich über 595 bislang nicht zugewiesene Eigenschaftspunkte verfügte, und riet mir, die in die Entwicklung meines Charakters zu stecken. Doch insofern war ich mit Anastaria einer Meinung – je höher das Level, desto schwieriger war es, weiter aufzusteigen. Da kamen diese Punkte gerade recht. Also würde ich vielleicht, wenn es ein Problem gab oder die Notwendigkeit dazu bestand, alles in meine Intelligenz investieren. Das kostete mich schließlich nur ein paar Sekunden. Einstweilen ließ ich sie unberührt. Es bestand kein Grund, sie jetzt zu vergeben.
Ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Eigenschaften näher zu betrachten. Ich kannte sie längst auswendig. Doch bevor ich Barliona betrat, öffnete ich die Registerkarte mit meinem Inventar. Dort wurde alles aufgeführt, das ich als Spieler besaß, einschließlich etwaiger Immobilien. Ich wollte wissen, worüber ich noch verfügte.
In meinem Inventar befanden sich 6,6 Millionen Goldstücke, und weitere 36,4 Millionen waren in der Clankasse. Diese Summen schnürten mir den Brustkorb zusammen. In meiner Zeit als Gefangener hatte ich nie über Geld nachgedacht. Und der für meine Freilassung erforderliche Betrag – 100 Millionen – war mir unerreichbar vorgekommen. Ich hatte mir nicht vorstellen können, jemals eine solche Summe zusammenzubekommen, nicht einmal durch den Verkauf des Auges, meiner Burg, des Schachspiels und all meiner anderen Besitztümer. Natürlich war allein schon die Burg an sich mehr als 100 Millionen wert, aber schließlich wollte erst einmal ein Käufer gefunden werden, der dazu bereit war, einen solchen Preis auch tatsächlich zu bezahlen. Ich hielt allenfalls einen Kaufpreis von etwa 50 Millionen für realistisch.
Leute, die über so viel Geld verfügten, saßen üblicherweise längst sicher und bequem in ihren eigenen Burgen, und Neulinge konnten es sich meistens nicht erlauben, so viel Geld auszugeben. Nur ich, der Multimillionär, hatte es mir erlauben können, allein für das Burgpersonal etwa 20 Millionen auszugeben. Noch vor einer Woche war Barliona für mich die Welt gewesen, und in dieser Welt waren Goldstücke lediglich eine Spielewährung und kein echtes Geld. Jetzt allerdings sah das anders aus.
Ich verfügte über 43 Millionen, die ich jederzeit in die Realität übertragen konnte. Dann müsste ich mir um einen Job, um Rechnungen und all die anderen unzähligen Gefahren des täglichen Lebens keinerlei Gedanken mehr machen. Das verschaffte mir enormen Auftrieb. Ich musste nicht mehr um Aufträge betteln, bei den verschiedenen Unternehmen hausieren gehen und ständig nachweisen, dass meine Zeit in den Minen nichts als ein unglückseliger Einzelfall war, der sich nicht wiederholen würde. Ich hatte eines meiner Ziele erreicht, und genaugenommen sogar zwei – ich war aus dem Gefängnis freigekommen und verfügte über ausreichend finanzielle Mittel zum Leben. Andererseits verschaffte es mir die Mittel, mein moralisches Recht auszuüben und mehrere Monate damit zu verbringen, Phönix das anzutun, was der Clan verdient hatte.
Wie ich sah, gehörte die Burg noch immer mir. Ich öffnete die Karte, um ihren neuen Standort festzustellen. Sie befand sich jetzt an der Grenze zum Schattenimperium, ganz in der Nähe des Binnenmeers von Barliona. Viltrius hatte der Angriff auf die Burg wohl einen enormen Schock beschert – er hatte sie ans andere Ende des Kontinents versetzt. Aber gut, ich musste ja nur drei Monate warten, dann konnte ich Altameda an einen etwas dichter besiedelten Ort zurückbringen. Momentan war nur eines wichtig – ich musste dafür sorgen, dass die Burg sicher war. Und was das betraf, so reichte eine Mannschaft aus NPCs nicht aus, so wenig mir das auch gefiel. Ich würde ein paar Spieler anheuern müssen.
Da ich schon beim Thema war...
Ein weiteres Mal überprüfte ich, ob sich das Schachspiel, das Auge der Dunklen Witwe und die Schuppen des Tintenfischdelfins vom Ozeanischen Abgrund tatsächlich nicht mehr in meinem Besitz befanden. Dann wechselte ich zur Clan-Registerkarte. Es entlockte mir einen erstaunten Ausruf. Ich las die Beschreibung ein zweites Mal und gab einen weiteren überraschten Ausruf von mir. Nein, der momentane Stand entsprach nicht dem, den ich erwartet hatte!
Der Clan verfügte derzeit über 4.388 Spieler. Die meisten allerdings waren lediglich Rekruten. Darunter waren 400 Sammler, 150 Handwerker, unter der Leitung von Eric, und 50 Raider – unter der Leitung von Clutzer! Stellvertretender Clananführer war nun Plinto. Wie ein Wärter im Irrenhaus... Barsina, Anastaria und Leite wurden nicht mehr unter den Mitgliedern aufgeführt. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie ein Clan, der vor einer Woche aus höchstens 400 Spielern bestanden hatte, in so kurzer Zeit auf über 4.000 hatte anwachsen können. Und das Durchschnittslevel lag bei 155! Das musste eine Halluzination sein!
Die Unter-Registerkarte der Clanfinanzen informierte mich darüber, dass der von Leite in Bewegung gesetzte Mechanismus sich auch während seiner Abwesenheit wie ein Uhrwerk weitergedreht hatte. Noch immer waren die Kellergewölbe von Altameda als Vorratslager vermietet, es war mit Ressourcen und Waren gehandelt worden, und das Hauptbuch des Clans verzeichnete während dieser einen Woche Einnahmen in Höhe von 1,8 Millionen Goldstücken. In diesem Zusammenhang musste erwähnt werden, dass Leite die Kosten der Burg und ihres NPC-Personals mit in die täglichen Ausgaben des Clans aufgenommen hatte. Dennoch war der Clan in den schwarzen Zahlen geblieben!
Nein, ich musste mich täuschen...
Wie betäubt klickte ich auf die einzelnen Registerkarten, und ein positiver Schock folgte dem anderen. Mit solchen Nachrichten hatte ich nicht gerechnet! Endlich erreichte ich die Registerkarte der Immobilien und hielt inne. Das, was hier vor sich ging, musste ein Hirngespinst sein, eine reine Einbildung meiner überaktiven Fantasie. In Wirklichkeit lag ich bestimmt neben der Kapsel, tief versunken im Abhängigkeitslevel Schwarz. Wie sonst ließe es sich erklären, dass ich nun der stolze Verwalter einer Stadt namens Rohrkolben in der Provinz Lestran war? Der Beschreibung zufolge hatten die Reformen, die Leite in den drei Dörfern eingeführt hatte, die unter meinem Management standen, reiche Früchte getragen.
Im Laufe der zwei Monate waren die Dörfer enorm gewachsen – auf ein Dreifaches des ursprünglichen Zustands. Vor wenigen Tagen hatten sie gemeinsam einen Beschluss gefasst, der sie zu einer einzigen Gemeinde zusammenfasste. Ein entsprechender Antrag war eingereicht worden, und vor vier Tagen hatte der Gouverneur der Provinz, bei dem ich die Reputation „Begeistert“ erreicht hatte, die Petition der Dörfer genehmigt. Jetzt gab es die drei Dörfer nicht länger auf der Karte von Barliona. Sie waren durch eine Stadt ersetzt worden, die bereits jetzt zu einem der Hauptstandorte für die Stahlschmelze in Barliona geworden war. Schließlich war die Elma-Bergkette nur einen Steinwurf von Rohrkolben entfernt. An diesem Punkt endete der Text der Beschreibung.
Allerdings war es klar wie Kloßbrühe, dass ich unter den Bewohnern rasch einen offiziellen Vertreter ernennen und die Steuerangelegenheiten regeln musste. Damit meine ich die Steuern, die an die Provinz Lestran abzuführen waren – und an meinen Clan. Diese Extra-Einnahmequelle konnte ich mir unmöglich entgehen lassen.
Verdammt! Was hatte sich in der einen Woche, die ich abwesend gewesen war, bloß alles in Barliona getan?
„Willkommen in Barliona!“, begrüßte das System mich, nachdem ich den Schalter „Tritt ein“ gedrückt hatte. Ohne mich ins Spiel zu begeben, konnte ich wohl kaum herausfinden, was da los war. Daher gab ich es auf, über den Sinn des Lebens nachzudenken – es war Zeit, zu handeln.. Der Bildschirm mit den Einstellungen verschwand, und stattdessen sah ich nun den Zentralplatz von Anhurs vor mir.
Der Schamane Mahan war zurück! Die Zeit für meine Rache war gekommen!