Kapitel 3: Ein Treffen und neue Quests
„Mahan!“ Kaum hatte ich Elizabeths Büro betreten, hob sie den Blick von den Dokumenten auf ihrem Schreibtisch, und ihr ernstes Gesicht erhellte sich. „Wie nett von dir, mich zu besuchen!“
„Hallo Elizabeth!”, begrüßte ich die Hohepriesterin und setzte mich auf einen Stuhl, ihrer Geste gehorchend. „Ich habe etwas Geschäftliches mit dir zu besprechen...“
Nachdem meine Entscheidung über die Zukunft meines Clans gefallen war, war mir klargeworden, dass ich momentan nicht die Zeit hatte, zu überprüfen, was Clutzer mir über das Scheidungsverfahren erklärt hatte. Schlafen musste ich auch irgendwann, und so beschloss ich, nur noch zwei kleine Dinge zu erledigen, bevor ich mich in die Realität abmeldete. Die erste Aufgabe bestand darin, mich vor dem Grab des Schöpfers den Engeln zu zeigen und den Zugang zum Grab zu verlangen. Und die zweite war, Elizabeth aufzusuchen und sie wegen der Scheidung um Rat zu bitten. Niemand anderem vertraute ich dafür ausreichend.
Vorhin hatte ich versucht, mich zur Ebene vor dem Grab des Schöpfers zu teleportieren, hatte die Koordinaten recherchiert, sie in den Einstellungen für den Wimpernschlag eingegeben und auf den Knopf gedrückt. Woraufhin Folgendes passiert war: nichts. Zu meiner großen Überraschung war lediglich eine unangenehme Mitteilung erschienen, die mir zeigte, dass Anastaria wirklich an alles gedacht hatte:
Eine Teleportation an die eingegebenen Koordinaten ist nicht möglich. An diesem Standort ist ein aktivierter Kristall vorhanden, der jede Teleportation verhindert.
Jetzt erinnerte ich mich wieder – das hatte ich noch mitbekommen, dass Phönix dort überall solche Kristalle installiert hatte. Nur war ich davon ausgegangen, sie wären für andere Spieler bestimmt, nicht für mich als Harbinger. Nun, dann musste ich mich eben in die Nähe teleportieren und das Grab mithilfe meiner... Allerdings, wenn Phönix tatsächlich verhindern wollte, dass ich mich zum Grab begab, hatte man bestimmt 100 oder 200 hochlevelige Spieler überall in der Umgebung aufgestellt, um mich aufzuhalten.
Diese Mistkerle!
„Deine Geschäfte müssen warten“, riss Elizabeth mich aus meinem Sinnieren. „Zuerst musst du dich bitte mit etwas anderem befassen und mir sagen, was das hier auf meinem Schreibtisch zu suchen hat!“
Mit unverhohlenem Abscheu nahm die Hohepriesterin mit zwei Fingern ein Dokument von dem vor ihr liegenden Stapel und reichte es mir. Eine Meldung teilte mir mit, dass ich soeben ein Dokument von einem NPC erhalten hatte, und ich las folgenden Text:
An die Hohepriesterin von Eluna:
Oh, Ehrwürdige, ich bitte Euch, meinem Flehen zu lauschen, denn ich besitze nicht die Kraft, meine Bürde länger zu tragen. Mein Ehegatte, Euch bekannt als Hochschamane Mahan, geht mir aus dem Weg und vermeidet jegliche Begegnung mit mir, als ob der überirdische Funke, der das Yin-Yang zum Erblühen brachte und in allen Farben des Regenbogens erstrahlte, verblasst wäre. Es traf mich mit namenlosem Schmerz, in die Augen meines Mannes zu blicken und darin Hass zu sehen. Anschließend hat er mich von sich gestoßen und missachtet nun seinen ewigen Schwur. Er liebt mich nicht mehr! Wenn Ihr glaubt, dass ich lüge, könnt Ihr meinen Mann gern selbst zu Euch rufen und ihn danach befragen. Überprüft seine Gefühle – Ihr werdet dort keine Liebe mehr finden, sondern lediglich Hass und Zorn und den Wunsch, mir zu schaden und mich zu vernichten. Ich gebe zu, ich bin an der Entwicklung nicht schuldlos, und ich glaube, den Grund für sein Verhalten zu kennen. Schließlich bin ich zum Clan meines Vaters zurückgekehrt. Doch wenn man jemanden liebt, muss man auch die Kraft aufbringen, ihn zu verstehen und ihm zu verzeihen. Mahan jedoch ist nicht in der Lage, einem anderen zu verzeihen. Das ist mir inzwischen klargeworden. Daher bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch zu Füßen zu fallen und Euch darum zu bitten, unsere Ehe zu annullieren. Ich bin bereit, mich selbst zu opfern, solange ich es erreichen kann, für meinen geliebten Mann keine Belastung mehr zu sein. Lasst mich leiden, solange er nur seine Freiheit gewinnt.
Anastaria, Kapitän der Paladine und Paladin-General
„Sag mir, dass das nicht stimmt, Mahan“, forderte Elizabeth mich auf, als ich zu Ende gelesen hatte. „Sag mir, dass du deine Frau nicht hasst!“
Zu behaupten, diese Entwicklung der Dinge hätte mich überrascht, wäre eine Untertreibung gewesen. Es war eine Sache, aufgrund unvereinbarer Gegensätze die Scheidung zu beantragen. Aber dieser hinterlistige Versuch, eine Annullierung herbeizuführen, war etwas ganz anderes! Stacey war diejenige, die mich in Grund und Boden gestampft hatte – und jetzt sollte ich der Böse sein, der sie auf einmal hasste und nicht in der Lage war, über sich selbst hinauszuwachsen und ihr zu verzeihen? Dummerweise konnte ich Elizabeth nicht erklären, dass ich einen guten Grund dafür hatte, Anastaria zu hassen. Für die Hohepriesterin existierte die reale Welt nicht.. Allein die Tatsache, dass Stacey meinen Clan verlassen hatte und zu dem ihres Vaters gewechselt war, der seine Tochter bestimmt sehr vermisst hatte, war kein ausreichender Grund, auf sie wütend zu sein. Daraus folgte ja nicht zwingend, dass sie sich von mir abgewandt hatte. Und Clans bedeuteten einem NPC ohnehin nichts. Für Elizabeth spielten ausschließlich die Gefühle der Spieler eine Rolle.
„Elizabeth, dieser Brief ist wie ein Dolch, der mir ins Herz gestoßen wird“, sagte ich, nachdem meine erste Reaktion verebbt war und ich es sogar geschafft hatte, nicht laut zu fluchen. Meine physischen Reaktionen – Herzklopfen, Schweißausbrüche und so weiter – wurden in Barliona nicht nachverfolgt. Wenigstens hatte das System nichts davon erwähnt. Elizabeth würde also allein meine verbale Antwort berücksichtigen. Anastaria hatte sich an die Hohepriesterin gewandt, um mich bei ihr in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Morgen beim Scheidungstermin würde dieser Brief bestimmt mit keinem Wort erwähnt. Aber wenn ich jetzt Elizabeth gegenüber Anastaria Vorwürfe machte, würde meine Attraktivität bei ihr sinken, die derzeit bei 100 Punkten lag, und zwar auch dann, wenn ich mich morgen der Scheidung widersetzte. Nun, Anastaria hatte sich verrechnet! Dann würde ich eben in den Narren-Modus umschalten und so tun, als wäre mir das alles neu. „Vergib mir, ich bin total überrascht, was meine geliebte Frau hier geschrieben haben soll... Dieser Brief muss eine Fälschung sein! Nie könnte Anastaria so etwas schreiben! Elizabeth, bist du sicher, dass dieser Brief von ihr stammt?“
„Natürlich – sie hat ihn mir ja selbst übergeben!“
„Das ist unmöglich!“, rief ich, um Zeit zu gewinnen, und überlegte krampfhaft, wie ich mich aus dieser Situation herauswinden konnte. Ich musste meine Worte mit Bedacht wählen. Ich durfte es Anastaria nicht erlauben, einen Keil zwischen Elizabeth und mich zu treiben! „Ich sage dir, das ist absolut unmöglich!“
„Mich hat das ebenfalls sehr erstaunt.“ Elizabeth nickte. „Wenn ihr euch einander nicht vollständig und aufrichtig geliebt hättet, wäre das Yin-Yang niemals erblüht. Man kann diesen Stein nicht hinters Licht führen. Er sieht die innersten Gefühle empfindungsfähiger Wesen und trifft selbstständig und unabhängig die Entscheidung, ob zwei Wesen würdig sind, zusammen zu sein. Dein Yin-Yang beweist, dass ihr einander würdig wart. Sollte diese Liebe tatsächlich im Lauf von nur zwei Monaten ihr Ende gefunden haben? Nein, das kann nicht sein – schließlich trägst du noch immer das Amulett. Mit dem Tod eurer Liebe explodiert das Yin-Yang und verbrennt zu Asche. Alle damit verbundenen Fähigkeiten verschwinden. Oder funktioniert das Amulett etwa bereits nicht mehr?“
„Oh, doch, es funktioniert noch“, versicherte ich Elizabeth – und traf eine Entscheidung. Anastaria hatte diesen Brief geschrieben – also sollte auch sie sich bei der Hohepriesterin in die Nesseln setzen! Ich würde alles leugnen, darauf bestehen, dass ich meine Frau von Herzen liebte, und behaupten, dass vielmehr sie mich verlassen wollte. „Ich schlage vor, wir überprüfen das gleich einmal. Ich hole sie zu mir, dann kann sie die Sache mit dem Brief selbst erklären.“
„Eine gute Idee!“ Elizabeths Gesicht erhellte sich. „Warum sollen wir uns den Kopf zerbrechen, wenn wir sie ebenso gut direkt fragen können?“
„Hallo, mein Schöne – bist du da?“, fragte ich Anastaria telepathisch.
„Oh, ja, meine Sonne. Was ist los?“
„Könntest du kurz auf einen Besuch vorbeikommen, meine Liebe?“
„Wenn du mich jetzt zum Respawn schickst, bin ich trotzdem morgen rechtzeitig zur Scheidung wieder zurück, du Dummerchen! Es hat keinen Sinn, mich in einen Hinterhalt zu locken. Aber hol mich halt zu dir, wenn du mich so sehr vermisst...“
„Das Yin-Yang funktioniert noch!“, rief Elizabeth aus, als auf einmal Anastaria in ihrem Büro stand. Stacey brauchte nur wenige Sekunden, um die Lage zu überblicken. Ein etwas erzwungenes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Eine solche Reaktion hatte sie von mir offensichtlich nicht erwartet. „Du irrst dich, meine Tochter“, erklärte die Hohepriesterin. „Dein Ehemann kann nicht aufgehört haben, dich zu lieben, sonst hätte er dich nicht mithilfe des Amuletts herbeiholen können. Mahan liebt dich, und du liebst ihn. Also erkläre mir doch bitte, was es mit diesem Brief auf sich hat. Und mit deinem Antrag, die Scheidung auszusprechen.“
„Eins zu null für dich“, übermittelte Anastaria mir, dann sank sie vor Elizabeth auf die Knie. „Vergebt mir, heilige Mutter. Meine Gedanken waren verwirrt, und ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich bitte euch, vernichtet diesen Brief und bestraft mich dafür, dass ich ihn geschrieben habe. Ich gebe meinen Irrtum zu und bereue ihn. Als ich zum Clan meines Vaters zurückkehrte, habe ich zu viel Zeit damit verbracht, nachzudenken, wie mein Mann darauf reagieren würde, und habe dann meine Befürchtungen mit der Wahrheit gleichgesetzt.“
„Du verdienst in der Tat eine Strafe“, stellte Elizabeth voller Überzeugung fest. „Über euer Ehesakrament hat Eluna zu entscheiden. Aber für mich persönlich möchte ich anmerken, dass ich eure Trennung voneinander als höchst unangenehm empfinde. Wenn man sich liebt, verbringt man so viel Zeit wie nur irgend möglich miteinander!“
„Die Hohepriesterin kann niemanden zwingen, den Clan zu wechseln – und die Mitgliedschaft in einem bestimmten Clan sagt nichts über die Beziehungen oder Gefühle eines Spielers aus“, protestierte Anastaria, die Augen misstrauisch verengt. Ich musste zugeben, die Worte Elizabeths hatten auch mich verblüfft. Wollte sie uns wirklich zwingen, demselben Clan anzugehören? Das wäre ein Widerspruch gegen die Spielregeln und stünde nicht im Einklang mit dem freien Willen der Spieler. Also konnte es nicht sein.
„Du hast recht, zwingen kann ich dich nicht.“ Elizabeth zuckte mit den Schultern. „Ich habe lediglich meiner eigenen Meinung Ausdruck verliehen. Es gefällt mir nicht, dass ihr beide getrennter Wege geht, während ihr euch noch immer liebt. Und das hat mit den Clans nichts zu tun – jedem empfindungsfähigen Wesen steht es frei, sich dort aufzuhalten, wo es sich am wohlsten fühlt. Merkwürdig finde ich allerdings etwas anderes – ihr verbringt keine Zeit mehr miteinander! Ich bin sehr betroffen von der Falschheit dieses Briefes, die jetzt erkennbar geworden ist. Unter den Umständen habe ich keine andere Wahl – ich muss die Zeremonie morgen absagen und dir eine Strafe auferlegen, Anastaria. Wobei – genaugenommen ist es keine Strafe, sondern eher ein Verlangen. Es steht dir frei, es zu missachten – als Paladinin unterstehst du mir nicht. Das Gleiche gilt für Mahan. Er als Schamane besitzt keinerlei Verbindung zu Eluna und ihren Priestern. Allerdings kannst du das, was ich von dir fordere, nicht allein vollbringen, Anastaria, sondern dazu müsst ihr beide zusammenarbeiten. Ihr müsst in nächster Zukunft jeden dritten Tag mindestens eine Stunde miteinander verbringen. Ob ihr euch auf eine Quest oder einen Raid begebt, irgendetwas erforscht oder euch nur unterhaltet, spielt keine Rolle. Zwingend ist nur, dass ihr gemeinsam vorgeht, sonst zählt die Zeit nicht. Nur auf diese Weise kann ich sicherstellen, dass ihr weiterhin ein einheitliches Ganzes bildet und in der Lage seid, gemeinsam zukünftige Aufgaben zu meistern. Seid ihr bereit, meinem Wunsch nachzukommen?“
Questreihe verfügbar: „Enger Familienverband, Teil 1“
Beschreibung: Im Laufe der nächsten drei Kalendermonate müsst ihr insgesamt 30 Mal mindestens eine Stunde mit einer gemeinsamen Aktivität verbringen, dem Abschluss einer Quest oder zumindest einer Unterhaltung.
Questart: Einzigartig, familienbezogen
Belohnung: + 2.000 für die Reputation bei den Priestern der Eluna, + 1.000 für die Reputation bei der Göttin Eluna und die nächste Quest der Questreihe
Strafe für Verweigerung/Fehlschlagen der Quest: - 2.000 für die Reputation bei den Priestern der Eluna, - 1.000 für die Reputation bei der Göttin Eluna
„Ich beuge mich Eurer Weisheit, Mutter“, erklärte Anastaria und neigte das Haupt. „Ich bin bereit, Euren Wunsch zu erfüllen. Ich werde Euch die Stärke und Beständigkeit unserer Familienbande beweisen.“
Zwei Augenpaare richteten sich auf mich, und jedes davon verlieh etwas Unterschiedlichem Ausdruck. Elizabeth betrachtete mich wie eine liebende, fürsorgliche Mutter ihr Kind in Erwartung der richtigen Antwort. Anastarias Blick hingegen zeigte nur eines – Triumph. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass ich erneut einen Fehler begangen hatte, der zu ihrem Vorteil war. Es war offensichtlich, dass sie mich ein weiteres Mal manipuliert und mit meinen Fäden gespielt hatte, als wäre ich eine Marionette. Ich hatte große Mühe, nicht auf den Schalter „Ablehnen“ zu klicken. Aber wie auch immer ich es betrachtete, eine gestiegene Reputation bei Eluna und ihren Priestern konnte mir nur nutzen. Die Herstellung eines einzigartigen Gegenstands konnte mir lediglich + 500 für meine Reputation verschaffen, und es war schließlich nicht so, als ob ich jeden Tag oder auch nur jede Woche einen solchen Gegenstand erschaffen konnte. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als Anastarias Anwesenheit regelmäßig für eine Stunde zu ertragen. Außerdem war dies eine Questreihe, die noch zu weitaus interessanteren Belohnungen führen konnte. Ich durfte nur dem Hass, der in meiner Brust schwelte, auf keinen Fall erlauben, sich zu zeigen. Wir waren ja nun eine unzertrennliche, liebevolle Familie...
„Auch ich bin bereit, diesen Wunsch zu erfüllen“, erklärte ich und klickte auf „Annehmen“.
„Eine weise Entscheidung, meine Kinder.“ Elizabeth nickte befriedigt. Sie schlug das Zeichen der Eluna, dessen Licht auf uns fiel. „Sobald ihr die Aufgabe erfüllt habt, werde ich mich mit euch persönlich treffen. Ich habe immer eine Quest oder zwei, die dafür geeignet sind, die Familienbande zu stärken und unzerstörbar zu machen. Ihr könnt jetzt gehen. Obwohl, halt, Mahan hatte noch etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist nicht länger wichtig.“ Anastaria warf mir einen neugierigen Blick zu. Aber es gab nicht den geringsten Grund, ihr zu erklären, warum ich zur Hohepriesterin gekommen war. Vermutlich konnte sie es ohnehin mühelos selbst erraten.
„Dann verlasse ich euch jetzt. Ihr solltet am besten gleich ein wenig Zeit allein miteinander verbringen.“
„Ich schlage etwas Neutrales vor“, bemerkte Anastaria, nachdem wir den Tempel verlassen hatten. „Eine einstündige Unterhaltung bei einem Essen im Goldenen Hufeisen.“ Sie benahm sich, als wäre nichts gewesen und unsere Liebe so stark und innig wie zuvor. Ich hatte allerdings keine Lust, da mitzuspielen.
„Ja, einverstanden. Eine Stunde im Goldenen Hufeisen passt mir gut“, erwiderte ich, in einer – wie ich glaubte – ruhigen Stimme. Doch zu meinem Erstaunen klang es eher wie ein böses Zischen. Anscheinend war es mit meiner Geduld nicht weit her. Wenn wir auch nur eine weitere Minute miteinander verbrachten, würde ich mich garantiert unter Missachtung aller Konsequenzen wie Gefängnis und Geldstrafen mit bloßen Fäusten auf sie stürzen.
„Nachdem du jetzt wieder ganz du selbst bist, sollten wir uns besser trennen.“ Sie grinste. „Wir können uns morgen um zwei Uhr nachmittags treffen, Serverzeit. Ich rufe dich an. Du hast mein Amulett nicht weggeworfen, oder?“ Neckisch strich sie mir mit dem Finger über die Wange. „Natürlich nicht – solche Dinge wirft man nicht einfach fort... Also, bis morgen, Harbinger. Ich wünsche dir süße Träume!“
Sie umarmte mich, küsste mich und löste sich in Luft auf. Das war ja schon immer einer ihrer Lieblingstricks gewesen, wenn sie sich in die Realität abmeldete. Diese verdammte Eiskönigin! Ach, wie auch immer – sollte sie ruhig einstweilen triumphieren. Wer zuletzt lachte... Clutzer agierte noch immer für Phönix, dessen war ich mir sicher. Aber seine Pläne waren gar nicht mal so schlecht. Ich musste nur alle Möglichkeiten und Wenns und Abers bedenken und sie an meine Zwecke anpassen...
Und EXIT!
Mein erster freiwilliger Ausstieg aus Barliona war so ungewöhnlich, dass ich ein paar Minuten in meiner Kapsel liegen blieb und den Anblick meiner Zimmerdecke genoss. Man konnte sagen, was man wollte – ein in einer Fantasiewelt verbrachtes Jahr hinterließ nun einmal seine Spuren. Mir war klar, dass ich selbst in einer abgeschalteten Kapsel nicht würde schlafen können. Also aktivierte ich den Ausstoßer, der mich über den Rand der Kapsel warf. Es war Zeit fürs Abendessen.
* * *
Der Anruf erreichte mich in dem kritischen Augenblick der Entscheidung, ob ich das Geschirr heute spülen sollte oder nicht. Da waren lediglich zwei Teller, eine Tasse, Löffel und Gabel, doch ich brachte es nicht über mich, es zu tun. Mir gingen die verschiedensten Begründungen für und wider durch den Kopf. Das reichte von der Notwendigkeit der Arbeitsverteilung unter den Menschen bis hin zur Erkenntnis, dass mir diese Teller noch nie gefallen hatten und ich sie ebenso gut wegwerfen und neue kaufen konnte.
„Hallo?“, meldete ich mich, nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, dass das Geschirr ungespült bleiben würde und dass daran nur der Anrufer schuld war! Wer auch immer er war, er war ganz schön dreist, sich um diese Zeit noch zu melden. Schließlich war es bereits nach Mitternacht!
„Guten Abend, Daniel – können wir uns kurz unterhalten?“, fragte eine unbekannte männliche Stimme mit einem eindeutig metallischen Unterton. Ich hatte den Eindruck, es wäre eine Computerstimme, keine menschliche. Es gab ja genügend Software für die Stimmveränderung.
„Das tun wir doch bereits“, erwiderte ich misstrauisch. Mir wurde klar, ich konnte unmöglich einem Computer die Schuld daran geben, dass mein Geschirr schmutzig blieb.
„Ich rufe dich wegen unseres Angebots Phönix betreffend an. Wir haben deine Antwort erhalten und möchten gern die Details mit dir besprechen. Können wir das gleich erledigen?“
„Was denn – um ein Uhr nachts?“, bemerkte ich bissig.
„Es ist nur wenige Minuten nach Mitternacht“, korrigierte die metallische Stimme mich. „Ein Wagen wird dich abholen und auch wieder nach Hause bringen. Die Besprechung dauert nicht lange. Um drei Uhr bist du wieder zu Hause. Also, was sagst du? Hast du Zeit für uns?“
„Weißt du, ich bin ja immer zu einer Unterhaltung bereit, aber wenn ich nicht einmal den Namen meines Gesprächspartners kenne und mitten in der Nacht an einen unbekannten Ort gebracht werden soll, ohne jede Garantie für meine Sicherheit... Das ist mir alles ein wenig zu geheimnisvoll. Daher muss ich das verführerische Angebot höflich ablehnen.“
„Du hast es nicht auf die Ebene vor dem Grab geschafft, richtig? Nicht einmal die Befugnisse eines Harbingers können dich an einen Ort bringen, von dem Phönix dich fernhalten will. Und das willst du hinnehmen?“ Die Stimme verlor den metallischen Unterton. Jetzt war es eine normale Männerstimme. Ich schätzte den Kerl auf über 50 - ich hörte Spuren reiferen Alters darin. Und ein enormes Selbstbewusstsein. „Oder hast du dich umentschieden und all deine Pläne auf Eis gelegt, basierend auf der Annahme, dass Anastaria dich noch immer liebt? Siehst du euch beide als ein unzertrennliches Paar? Als eine starke, unverbrüchliche Familie?“
Das war jetzt wirklich hoch interessant – jemand, über den ich noch immer keine Informationen hatte, kannte all meine Erlebnisse in Barliona, wusste, was ich vorhatte, was ich tat und mit wem ich mich traf. Das ließ nur einen Schluss zu: Dieser Jemand verfügte über eine besondere Beziehung zu Barliona. Mein Anrufer hatte soeben freimütig zugegeben, dass er gegen die Nutzungsbedingungen des Spiels verstoßen hatte, womöglich sogar gegen das Gesetz. Dennoch blieb mir keine Wahl – ich musste mich mit ihm treffen. Was, wenn er tatsächlich über die Mittel verfügte, den Clan Phönix in seine Schranken verweisen zu können?
„Also gut, schick mir den Wagen“, beschloss ich. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass man mich schon längst hätte umbringen können, hätte man diese Absicht verfolgt. Diese Leute wussten, was ich in Barliona alles anstellte und wo ich wohnte...
„Begib dich vor das Haus, das Auto wartet bereits.“ Der Anrufer legte auf.
Vielleicht war ich nicht Julius Cäsar, aber die Würfel waren dennoch gefallen.
* * *
„Bitte vergib mir dieses recht ungewöhnliche Treffen“, sagte der ältere Mann, dessen Erscheinungsbild mich an einen verknöcherten englischen Lord erinnerte. Ein großkarierter Anzug, eine Fliege, ein Rohrstock und dunkle, auf Hochglanz polierte Schuhe, in denen sich der Sternenhimmel spiegelte. Einen solchen Mann am Ufer des städtischen Sees zu erblicken, der einst Gegenstand einer Wette gewesen war, kam unerwartet. Solche Leute saßen doch normalerweise in teuren Restaurants herum und prahlten mit ihren Eroberungen schöner Damen in ihrer Jugend. „Aber nur auf diese Weise kann ich mich mit dir unterhalten, ohne ungebührliche Aufmerksamkeit zu wecken.“
Mehrere Leibwächter, die ich auf meinem Weg durch den Park gesehen hatte, verrieten mir die hohe Stellung meines Gesprächspartners. Immerhin war er kein Teil des leitenden Managements des Unternehmens, denn diese Leute traten mit einem anderen Erscheinungsbild auf. Das machte mich nur umso neugieriger.
Wir setzten uns auf eine hölzerne Bank und starrten auf den See wie zwei Verliebte, von denen keiner den Mut aufbrachte, den Anfang zu machen. Ich erinnerte mich an die befehlsgewohnte Stimme des Mannes am Telefon. Das Treffen kam mir immer merkwürdiger vor. Warum sagte er nicht endlich irgendetwas, wenn die Zeit doch so knapp war?
Nach einer Weile drehte er sich halb zu mir um und stützte sich auf seinen Stock. „Sag mir doch, Daniel – wie hat es sich angefühlt, von dem Menschen so tief gedemütigt zu werden, den du als den ergänzenden Teil deiner selbst gesehen hast?“
„Ich glaube kaum, dass du mich hierhergebracht hast, damit ich dir das Herz ausschütte“, erwiderte ich kühl. Wer auch immer dieser Typ war – meine innersten Gefühle würde ich ihm auf keinen Fall offenbaren!
„Bitte nimm einem alten Mann seine Taktlosigkeit nicht übel“, entschuldigte sich mein Gegenüber zu meinem großen Erstaunen. „Es ist nur so... Was die Führung von Phönix dir angetan hat, das haben sie vor einiger Zeit mit mir gemacht, allerdings in der Realität, nicht im Spiel. Ich habe es nur einem Wunder zu verdanken, ich selbst geblieben zu sein und nicht den Verstand verloren zu haben. Das ist der Grund, warum ich unsere Unterhaltung mit dieser taktlosen Frage begonnen habe. Du warst das Opfer von Staceys Manipulation – und ich das der Frau, die du als Barsina kennst.“
Der alte Mann verfiel erneut in Schweigen und starrte ins Nichts, wie verloren in Erinnerungen. Es verging eine Minute, eine weitere, und die dritte begann, doch noch immer saßen wir stumm da und genossen den Anblick des nächtlichen Parks, dessen düstere Lampen an längst vergangene Zeiten erinnern sollten.
„Du wolltest mit mir reden“, brach ich das Schweigen, als es zu drückend wurde, um ihn an meine Anwesenheit zu erinnern, „und etwas diskutieren.“
„Oh, ja.“ Der Kerl straffte sich und kehrte in die Realität zurück. „Ich möchte dir die Möglichkeit der Rache für all das anbieten, was der Clan dir angetan hat.“
„Bitte entschuldige, dass ich dich gleich unterbreche – aber bevor du mir irgendwelche Einzelheiten berichtest, würde ich gern erfahren, wofür du mich brauchst. Wenn du über die Möglichkeiten verfügst, dich zu rächen – welche Rolle spiele dann ich? Was kann ausgerechnet ich tun, was du und deine Leute nicht ebenso gut selbst übernehmen könnten? Ich bin nur ein gewöhnlicher Spieler und verfüge über keinerlei Beziehungen zur Elite. Was auch immer ich anstelle, wird Phönix kaum kratzen.“
„Das ist ein plausibler Einwand.“ Der alte Mann nickte. „Genau das wollte ich dir gerade erläutern. Ist dir die Familie Zavala ein Begriff?“
„Nein, viel weiß ich über diese Familie nicht“, musste ich zugeben und beschloss, nachher im Internet zu recherchieren. Ich wusste lediglich, dass Zavala Anastarias Nachname war. Himmel, ich musste mehr über Stacey und ihre Familie herausfinden. Wenn ich mich schon rächen wollte, musste ich doch wenigstens wissen, an wem!
„Oh...“ Mein Gegenüber war überrascht. „Du hast dir nicht die Mühe gemacht, herauszufinden, mit wem du es zu tun hast?“
„Bislang noch nicht. Es ist ja wohl kein Geheimnis, dass ich bis vor Kurzem ein Gefangener war. Heute habe ich das Spiel erstmals als freier Spieler betreten. Als Gefangener konnte ich das Internet nicht nutzen, und nach meiner Rehabilitation hatte ich bislang noch keine Zeit für Recherchen.“
„Mir ist dein Status sehr wohl bewusst. Aber eine Sache verstehe ich nicht. Du hast dich mit Anastaria zusammengeschlossen, ohne dir die Mühe zu machen, herauszufinden, wer sie im realen Leben ist? Ob sie verheiratet ist, Kinder hat, über sämtliche Gliedmaßen verfügt? Sie könnte doch beispielsweise einen schrecklichen Unfall erlitten haben, der sie total entstellt hat, sodass von ihrem früheren Aussehen lediglich ihr Avatar verblieben ist...“
„Darüber will ich wirklich nicht reden!“, knurrte ich und schüttelte mich vor Entsetzen. In gewisser Weise beantwortete eine solche Vermutung die Frage, warum Stacey dieses Jahr nicht am Schönheitswettbewerb teilgenommen hatte – man hätte sie in einem solchen Fall wegen einer zu großen Abweichung ihres Aussehens im realen Leben von dem im Spiel disqualifiziert. Aber nein, so sehr ich diese Frau auch hasste – das wünschte ich ihr nicht!
„Keine Sorge – Anastaria ist unverletzt und unbeschädigt. Mich hat nur deine Sorglosigkeit in dieser Angelegenheit überrascht. In unserer Zeit sind Informationen doch die beste Waffe. Ein freiwilliger Verzicht darauf ist... nun ja... äußerst merkwürdig.“
„Sprechen wir ein anderes Mal über Merkwürdigkeiten“, wich ich diesem unangenehmen Thema aus. Der Typ hatte nicht ganz unrecht. Ich hätte schließlich ohne Weiteres einen anderen Spieler nach Stacey ausfragen und ihn bitten können, für mich in der Realität zu recherchieren. Aus irgendeinem Grund war ich nie dazu gekommen. Sein Vorwurf traf mich also zu Recht. Ich war auch bereit, mich dafür zu entschuldigen. Aber ich ließ mir hier keine Standpauke halten, als wäre ich ein unartiger Schüler!
„Dann lass mich dir ein wenig über diese Familie berichten – den Rest kannst du später selbst herausfinden. Victor Zavala, den du als Ehkiller kennst, ist einer der reichsten Menschen auf unserem Kontinent. Um genau zu sein, befindet er sich auf Position 188 der reichsten Bewohner. Anders als die meisten seiner Kollegen, hat Victor jedoch 80 % seiner Vermögenswerte ins Spiel gesteckt und verwaltet sie dort, ohne den Versuch zu unternehmen, sie zurück in die Realität zu übertragen. Das Unternehmen Phönix, und momentan ist es eine Firma, besteht aus dem führenden Clan in Barliona. Dieser Clan wiederum setzt sich aus dem Management zusammen, den Raidern und den besten Handwerkern und außerdem aus Hunderten, wenn nicht gar mehr, eng verbundenen Clans. Auch die Legenden hat ja jeder für einen Clan gehalten, der Phönix unterstellt war. Phönix ist einer der wenigen Clans im Spiel, die wirklich Profit abwerfen. Seine enormen finanziellen Reserven schützen den Clan vor allen denkbaren Schäden selbst, zum Beispiel im Fall der Vernichtung aller Burgen. Das würde ihnen natürlich einen Schlag versetzen, aber in die Knie zwingen kann es den Clan nicht.“
„Wenn das stimmt, was du mir gerade erklärt hast, gibt es nur eine Möglichkeit, Phönix zu zerstören – und das ist die Vernichtung der gesamten Familie Zavala“, bemerkte ich, von meinen eigenen Worten überrascht. Solche Dinge durfte man kaum denken, geschweige denn aussprechen! Und dennoch...
„Mir gefällt deine Denkweise, doch ich muss dich leider enttäuschen – Victor kann man nicht vernichten. Momentan weiß niemand, wo er sich aufhält, und alle Versuche, ihn aufzuspüren, sind gescheitert. Nein, wir müssen einen anderen Ansatz wählen. Angesichts der Struktur von Phönix müssen wir den Clan dort treffen, wo er wirklich verwundbar ist, und das sind die Finanzen. Und ich werde dir jetzt erklären, wie wir das anstellen müssen.“
Langsam, aber stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit, wie eine Dampflokomotive, die Fahrt aufnahm, enthüllte der alte Mann seinen Racheplan, in dem ich eine alles andere als kleine Rolle spielen sollte. Um genau zu sein, baute der Plan sogar hauptsächlich auf mir auf. Bei allem Respekt gegenüber meinem Gesprächspartner bemerkte ich doch innerlich zu mir selbst, wie dumm es war, einen Plan zu entwickeln, der so vollständig von einer anderen Person abhing. Wer wusste denn schon, was in meinem Kopf vor sich ging? Das wusste ja nicht einmal ich selbst!
Interessant war der Plan dennoch. Ich musste es schaffen, vor die Engel zu treten und mir den Zugang zum Grab zu sichern. Sobald mir das gelungen war, stand das Grab natürlich auch Barsina offen, die Engel würden sich verabschieden, und Phönix konnte nach Belieben eintreten. Allerdings verfügte ich allein über den „Originalschlüssel“ zum Grab, und nur der sorgte dafür, dass alle im Dungeon gefundenen Gegenstände Einzigartig oder Legendär waren. Sobald ich den Originalschlüssel in Händen hatte, würde Phönix das Grab nicht ohne mich betreten, da es für sie, finanziell betrachtet, keinen Sinn ergeben würde. Was bedeutete, dass ich ohne Weiteres von jedem Mitglied der Raid-Gruppe von Phönix eine „Eintrittsgebühr“ von 100 Millionen verlangen konnte. Bei 19 Teilnehmern entsprach das nahezu zwei Milliarden... Das war selbst für Phönix eine massive finanzielle Belastung.
„Eine nette Idee“, kommentierte ich, als der alte Mann vorübergehend schwieg. „Allerdings sind da gleich zwei ‚Abers‘. Nummer eins – ich kann den Grabeingang nicht erreichen. Teleportieren kann ich dorthin nicht, und wir dürfen davon ausgehen, dass die gesamte Ebene gut bewacht wird. Man wird mich also garantiert umbringen, bevor ich die Engel erreicht habe. Nummer zwei – warum sollte Phönix so viel Geld nur für den Zugang ausgeben? Kein einziger Gegenstand in Barliona kann zwei Milliarden wert sein, nicht einmal ein ganzer Haufen an Legendären Gegenständen. Also gibt es für Ehkiller keinen Grund, einer solchen Vereinbarung zuzustimmen und so viel Geld zu bezahlen. Ich habe zwar keine Ahnung, wie er sich in einem solchen Fall entscheiden würde – ich jedenfalls würde dankend ablehnen.“
„Das sind vernünftige Gegenargumente. Ich werde sie nacheinander abhandeln. Sobald du dich bereiterklärst, bei unserem Plan mitzumachen, werden die Kristalle aufhören, eine Teleportation mithilfe deines Wimpernschlags zu verhindern. Wie es dazu kommt, ist mein Problem – es wird auf jeden Fall geschehen. Anschließend musst du nur die Koordinaten erneut eingeben und dich an den Standort der Engel begeben. Sobald du dort erst einmal eingetroffen bist, werden sie dich vor allen Angriffen schützen. Was den zweiten Punkt betrifft – bevor die Engel verschwinden, werden sie noch bekanntgeben, dass nur der Inhaber des Originalschlüssels die Salva empfangen kann. Es ist niemandem verboten, das Grab ohne dich zu betreten, aber nur du allein kannst die Salva beschaffen.“
„Die Salva?“
„Damit kommen wir zu einem weiteren Teil unseres Plans, der dem anderen zeitlich vorausgehen muss. Die Salva ist ein Gegenstand, der in der Lage ist, die Tränen von Harrashess zu zerstören. Soll ich weitersprechen?“
Die Erkenntnis, mit wem ich es hier zu tun hatte, traf mich wie ein Schock. Damit meine ich nicht etwa die spezielle Person, die neben mir auf der Bank saß, sondern vielmehr die Organisation, die hinter ihm stand. Solche Dinge konnte ein einzelner Mensch niemals erreichen. Eluna hatte mir ja bereits erklärt, was die Tränen von Harrashess waren. Nun hatte ich die Bestätigung, dass ihre Wirkung doch einen einzelnen Spieler treffen konnte, auch wenn die Administratoren von Barliona mir das Gegenteil versichert hatten.
„Es gibt einiges zu tun, bevor du dich zum Grab begeben kannst“, unterbrach der alte Mann meine Gedanken. „Du musst zunächst zwei Dungeons abschließen. In jedem dieser Dungeons wirst du einen Teil eines Gegenstands finden. Sobald du die beiden Teile zusammenfügst, entsteht ein Portal. Die Magier können es aufladen, und dann kannst du mitten in Geranikas Burg hinein teleportieren, in der sich derzeit vier Tränen befinden. Deine Aufgabe besteht darin, diese Tränen an dich zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sie bei Anastaria, Höllenfeuer, Fiona und Alveona landen. Das sind die führenden Spieler von Phönix. Ich kann dir nicht sagen, wie du das anstellen musst - dies ist der schwierigste Teil des Unterfangens. Sobald die Spieler von Phönix sich im Besitz der Tränen befinden und du sie aktiviert hast, informiert eine allgemeine Bekanntmachung darüber, dass die Salva sie zerstören kann. Wenn du dir dann den Originalschlüssel von den Engeln besorgst, wird eine Nachricht veröffentlicht werden, dass du der Einzige bist, der die Salva finden kann. Du darfst auf keinen Fall zu den Engeln teleportieren, bevor der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Sonst könnte Phönix den Dungeon der Grabstätte bereits abgeschlossen haben, bevor du die Tränen in die Hand bekommst, und die Mitteilung über die Salva kann keine Wirkung mehr entfalten.“
Der Plan des alten Mannes war beeindruckend grausam und durchdacht. Falls es mir gelang, Anastaria die Träne zuzustecken und zu aktivieren, würde Phönix nur zu bereitwillig zwei Milliarden zahlen, um sie von deren Wirkungen zu befreien, ganz gleich, was mit den anderen drei Spielern war. Dennoch...
„Laut der offiziellen Beschreibung kann eine Träne nicht auf einen anderen Spieler übertragen werden“, gab ich zu bedenken, als ich mich an die Eigenschaften von Rogzars Kristall erinnerte, den ich in Altameda gefunden hatte. „Es ist zwar eine hervorragende Idee, Anastaria eine solche Träne unterzujubeln, aber sie ist nicht durchführbar.“
„Oh, an diesem Plan ist nichts undurchführbar.“ Der alte Mann grinste. „Du musst dich nur sehr beeilen und versuchen, ein Krastil in die Finger zu bekommen. Krastils sind diese merkwürdigen Kugeln, die über den gesamten Kontinent verteilt immer wieder auftauchen und mit denen niemand etwas anzufangen weiß. Du warst im Besitz solcher Krastils, nur hat Anastaria sie an sich genommen. Also musst du dir jetzt von Grygz eines besorgen, dem Anführer der Piraten. Wir können dir dabei helfen. Ein Spieler, der sich im Besitz eines Krastils befindet, ebenso wie eines anderen Gegenstands, den du neben dem erwähnten Portal in den beiden Dungeons finden wirst, ist in der Lage, eine Träne auf einen anderen Spieler zu übertragen. Übrigens wirkt sich eine nicht aktivierte Träne nicht auf den Spieler aus, solange sie sich mit einem Krastil in einem Beutel befindet. Nach der Aktivierung der Tränen hilft es Anastaria jedoch nichts mehr, dass sie deine Krastils an sich genommen hat – dann hilft nur noch die Salva. Also hat Phönix keine Wahl, als für den Zugang dazu zu bezahlen. Und das ist noch immer nicht alles.“
„Der Plan geht noch weiter?“
„Die Salva ist genaugenommen kein Gegenstand, sondern eine Schriftrolle mit einem Rezept. Einem Rezept für Juweliere. Es stellt bestimmte Anforderungen: mindestens 20 Punkte im Handwerk, der Titel eines Gesegneten Handwerkers und die Möglichkeit, die Astralebene zu betreten. Mit anderen Worten ist es eine Schriftrolle speziell für die Klasse der Schamanen. Nach Abschluss des Raids im Dungeon der Grabstätte des Schöpfers wirst allein du in der Lage sein, sie zu lesen. Bei der Sache wird niemand an der Nase herumgeführt. Ohne Raid gibt es keine Salva. Andererseits gibt es auch keine Garantie, dass du derjenige bist, der die Salva in die Finger bekommt. Deshalb ist es entscheidend, dass du einen wasserdichten Vertrag für den Raid formulierst, der die Schriftrolle auf jeden Fall in dein Eigentum gelangen lässt. Dabei kann ich dich unterstützen. Phönix wird bereit sein, so ziemlich jede Vereinbarung zu unterschreiben, die du ihnen vorlegst, um die Fähigkeiten der vier Spieler zurückzugewinnen. Überlege doch nur – der Clan hat zehn Jahre mühevolle Arbeit in das Ziel gesteckt, diese Spieler voran und auf ein hohes Level zu bringen, und aufgrund der Tränen wäre alles umsonst, weil diese Charaktere verloren wären. Alle Level, alle Reputation, alle Achievements – vergebens... Das wäre der größte Schlag für Phönix, den man sich nur vorstellen kann. Ehkiller würde somit alles tun, um die Fähigkeiten der vier Spieler zurückzubekommen. Man wollte deinen Charakter eines Schamanen vernichten – und jetzt gebe ich dir die Gelegenheit, die vier Hauptcharaktere von Phönix zu vernichten und Phönix dadurch dazu zu bringen, sich selbst der eigenen finanziellen Grundlagen zu berauben. Ist das nicht eine würdige Rache für die Demütigung, die man dir und mir angetan hat?“
„Zwei Milliarden, das ist in der Tat ein atemberaubender Betrag“, überlegte ich laut. „Es wäre einfacher für Ehkiller, seinen Clan zu verkaufen oder mich im realen Leben umzubringen, als sich von einer solchen Summe zu trennen. Erst recht, wenn die Tränen erst aktiviert wurden. “
„Mach dir keine Sorgen – wir werden für deine Sicherheit sorgen. Du wirst die Stadt verlassen, und wir stellen dir die beste Ausrüstung und die schnellste Netzwerkverbindung für deine Aktivitäten in Barliona zur Verfügung. Niemand wird wissen, wo du dich aufhältst. Wir brauchen deine Hilfe und deine Fähigkeiten – ohne dich kann der Plan nicht funktionieren.“
„Ohne ein paar vertrauenswürdige Spieler an meiner Seite kann ich die beiden Dungeons nicht abschließen, die du erwähnt hast“, dachte ich laut nach. „Ich brauche Leute, die mich gut beraten, und die müssen ebenfalls eingeweiht werden. Wie viele Spieler kannst du mir zur Verfügung stellen?“
„Derzeit leider nur einen“, erwiderte mein Gesprächspartner. „Er wird sich mit dir in Verbindung setzen, sobald wir zu einer Einigung gekommen sind.“
Mir drängte sich eine weitere Frage auf. „Wie wird sich deine Manipulation des Spiels auf mich auswirken? Ich habe nicht die geringste Lust, wieder in den Minen zu landen. Mich nur mit dir zu unterhalten, das ist eine Sache – aber die Spieledaten so gravierend zu verändern, das ist eine ganz andere.“
„Auf dich wird sich das alles überhaupt nicht auswirken. Du bist ein gewöhnlicher Spieler, der sich an einigen Szenarien beteiligt. Was sich auf den anderen Ebenen abspielt, betrifft dich nicht. Es kommt nur darauf an, dass es dir hilft. Du selbst verstößt gegen keinerlei Regeln. Deshalb werden wir auch keinen schriftlichen Vertrag abschließen. Falls etwas schiefgehen sollte, bleibt Daniel Mahan der Spieler davon unberührt.“
„Teilen wir uns am Ende das Geld?“
„Warten wir erst einmal ab, bis wir es haben.“ Der alte Mann lächelte. „Sobald die Spieler von Phönix die Tränen erhalten haben und diese aktiviert wurden, werden sie mit Sicherheit das Unternehmen verklagen. Das müssen wir zuerst einmal überstehen. Erst wenn das Gericht feststellt, dass alles streng unter Einhaltung aller Regeln stattgefunden, die Spieler selbst an ihrem Zustand schuld sind und es nur eine einzige Möglichkeit zur Abhilfe gibt, nämlich die Salva, können wir uns weiter unterhalten. Momentan hat es noch keinen Sinn, über Geld zu reden, das wir möglicherweise später einmal einnehmen werden. Übrigens ist das Geld gewissermaßen auch deine Lebensversicherung – solange du es in deinem Besitz hast, wird dich niemand umbringen. Das gilt wenigstens für mich.“
Ich hätte mich zu gern danach erkundigt, warum der alte Mann so sehr auf Rache aus war. Die Geschichte mit Barsina klang nicht sehr überzeugend. Aber ich hielt mich zurück. Was spielte es schließlich für eine Rolle, warum dieser Kerl Phönix so sehr hasste? Was kümmerte es mich, dass mich schon wieder jemand für seine eigenen, persönlichen Zwecke ausnutzte und ich, wie bei Anastaria, erneut im Dunkeln tappte? Mein momentanes Ziel war die Rache an Phönix für das, was sie mir und meinem Clan angetan hatten. Wenn ich, um mein eigenes Ziel zu erreichen, jemandem beim Erreichen seines Ziels behilflich sein musste, war ich dazu ohne Weiteres bereit. Was interessierte es mich in diesem Zusammenhang, welche verborgenen Motive den alten Mann antrieben? Auch wenn er Phönix mit meiner Hilfe übernehmen wollte – mir war das gleich. Solange ich nur den vier besten Spielern des Clans, darunter Anastaria, eins auswischen und dem Clan den finanziellen Boden unter den Füßen wegziehen konnte, war mir alles recht. Gegen Fiona und Alveona hatte ich zwar persönlich nichts, aber Anastaria und Höllenfeuer in ihre Schranken zu weisen war mir ein äußerst willkommener Zwischenschritt auf meinem Pfad der Rache. Um das zu erreichen, spielte ich gern vorübergehend die Marionette für einen anderen Typen.
„Ich möchte noch wissen, wie ich dich ansprechen soll. ‚Alter Mann‘ oder ‚Hey, du da‘ scheint mir nicht passend.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung – mit ‚hey‘ werde ich nur ungern angesprochen.“ Mein Gegenüber lächelte. „Aber gegen ‚alter Mann‘ habe ich nichts einzuwenden, also lass uns einfach dabei bleiben. Nun, wie hast du dich entschieden? Werden wir zusammenarbeiten?“
„Ja, wir werden zusammenarbeiten.“ Ich nickte. „Was genau muss ich jetzt tun, um mit der Umsetzung des Plans zu beginnen?“
„Du musst die beiden Dungeons abschließen, über die ich gesprochen habe. Die Quest für einen davon hast du bereits erhalten – du musst den Drachen des Schattens töten. Er wird die erste Hälfte des Artefakts droppen, das du brauchst. Es ist nicht wichtig, wer dich begleitet, aber du musst das Artefakt unbedingt selbst an dich nehmen. Du kannst es ganz einfach erkennen – es ist der Griff eines Dolches. Den Namen des Gegenstands kann ich dir nicht sagen, denn ich kenne ihn nicht, aber die Beschreibung wird es dir verraten. Der zweite Dungeon ist der Dungeon des Schattens. Dort wirst du die Klinge des Dolches finden und das, was die beiden Teile miteinander verbindet. Die Koordinaten des zweiten Dungeons erfährst du von der Hohepriesterin. Sie wird auch diese Quest ausgeben. Das ist für den Augenblick alles. Du hast weniger als vier Wochen Zeit, diese beiden Dungeons abzuschließen. Bevor der Monat um ist, musst du vor den Engeln erscheinen, sonst übergeben sie Barsina den Schlüssel und all unsere Anstrengungen waren umsonst. Du musst dir die Fristen nicht merken – mein Verbindungsmann wird dich ständig daran erinnern. Hast du noch Fragen?“
„Momentan nicht, aber ich grübele die ganze Zeit darüber nach, wie du es schaffen willst, die Spieledaten zu verändern. Das Sicherheitssystem des Unternehmens ist so umfassend, dass jegliche Manipulation schon beim ersten Versuch abgefangen wird. Davon abgesehen ist ein solches Vorgehen auch absolut illegal. Und das ist etwas, das ich jetzt schon weiß – wenn ich nachher nach Hause gehe, ohne die Strafverfolgungsbehörden über deinen Plan zu informieren, habe ich mich bereits strafbar gemacht. Ich will auf keinen Fall wieder in den Minen landen. Deshalb möchte ich mehr darüber wissen, für welche Leute ich dieses hohe Risiko eingehe.“
„Wissen kann oft großen Kummer bereiten“, erklärte der alte Mann. „Stopf dir deinen Kopf nicht mit unwichtigen Details voll. Das ist alles meine Sorge. Du hast dich bereiterklärt, mit uns zusammenzuarbeiten – mehr musst du nicht wissen. Das wäre dann alles für den Augenblick.“ Er stand auf und stützte sich dabei auf seinen Stock. „Der Fahrer wird dich zu deiner Wohnung zurückbringen. Ich erwarte, dass du die beiden Dungeons so schnell wie möglich abschließt. Denk daran, du hast nicht viel Zeit dafür.“
„Wann wird sich dein Verbindungsmann an mich wenden?“
„Sehr bald. Es wird dich ein Spieler mit dem richtigen Codewort ansprechen – wählen wir ‚Krastil‘. Das verrät dir, dass ich ihn geschickt habe. Du kannst ihm vertrauen. Wir werden uns bald wiedersehen, Daniel – und ich hoffe, unser Plan funktioniert.“
Die Fahrt zurück verlief ohne Vorfälle. Ich war tief in Gedanken versunken. Einerseits war das Angebot des alten Mannes nicht nur gut, sondern absolut perfekt. Und das machte mir am meisten Angst – ich entdeckte keinerlei Fallstricke und Hintertüren. Aber in jedem Plan gab es Tücken. Das Leben hatte mich gelehrt: Wenn irgendetwas nach Rosen duftete, waren die Dornen nicht weit. Dass ich die Dornen dieser speziellen Rosen nicht erkennen konnte, beunruhigte mich. So sehr ich Anastaria auch hasste, sie hatte mir beigebracht, dass ich mich letztlich nur auf mich selbst verlassen konnte. Alle anderen wollten mich nur benutzen. Doch jetzt war ich bereit, wieder anderen zu vertrauen, weil die Vorteile des Plans auf der Hand lagen, während keine Nachteile erkennbar waren. Das war alles nicht richtig. So funktionierten die Dinge im Leben nun einmal nicht.
Beherrscht von diesen Gedanken ließ ich mich ins Bett fallen und schlief ein.
* * *
Meine nächtliche Eskapade hatte ihre Folgen. Es war bereits kurz vor zwei Uhr nachmittags, als ich erwachte. Ein Blick auf die Uhr ließ mich beinahe laut fluchen. Ich hatte doch eine Verabredung! Hastig stopfte ich mir ein Sandwich in den Mund und mich selbst in die Kapsel. Ich durfte zu meinem Treffen auf keinen Fall zu spät kommen - ich wollte Anastaria keinen Grund liefern, sich erneut über mich lustig machen zu können.
„Na, gut geschlafen, Süßer?“, begrüßte Anastaria mich bissig, als ich im Goldenen Hufeisen erschien. Sie setzte sich auf einen Stuhl mir gegenüber.
„Das habe ich, mein Sonnenschein“, erwiderte ich lächelnd. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich momentan keinerlei Hass auf Anastaria empfand. Stattdessen dominierte der klare Aktionsplan für den nächsten Monat meine Gedanken. Das beseitigte auch die Unsicherheit, wie ich mich dieser Frau gegenüber verhalten sollte. In wenigen Wochen würde dieses hübsche Püppchen sich in ein erstarrtes Denkmal verwandeln. Und anders als der alte Mann nach meiner Zustimmung zu seinem Plan vermutete, würde ich ihr die Salva nicht überlassen. Oh, nein – ich würde ihr die Kontrolle nicht zurückgeben, hatte ich inzwischen beschlossen. Anastaria konnte für alle Ewigkeit als Statue in Barliona verharren!
„Du spuckst ja heute gar nicht Gift und Galle“, versuchte Stacey, mich zu provozieren. „Hast du auch gut gefrühstückt?“
„Stacey, ich bitte dich hiermit offiziell, mir das Karmadont-Schachspiel zurückzugeben, ebenso wie das Auge der Dunklen Witwe, die Krastils von Chalaar und Gwar, Levaar, Babar und so weiter und so fort. Ach ja, und die Armschienen, die Eric angefertigt hat, und die Tintenfischdelfin-Schuppen. Ich glaube, das ist die vollständige Liste der Dinge, die du von mir gestohlen hast.“
„Du hast vergessen, die Kamera einzuschalten, um diese Szene auf Video aufzunehmen.“ Sie grinste. „Wie willst du denn sonst nachweisen, was für ein Miststück ich bin? Oder hat Clutzer jetzt beschlossen, dass du, wenn du dich zum Beweis deiner Forderung und meiner Weigerung auf den Imperator berufst, ein wenig mit Worten spielst? Ein interessanter Trick – aber glaube mir, es wird mir auch dafür etwas einfallen. Was hast du denn heute so alles vor?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß noch nicht genau. Du hast ja selbst gesagt, ich verpasse zu viele der Quests auf unserem Kontinent. Vielleicht mache ich mich auf den Weg, um mir eine zu sichern. Außerdem muss ich lernen, mit den Fähigkeiten eines Harbingers umzugehen. Die Macht dazu besitze ich bereits, aber ich kann meine Schamanenfähigkeiten ja noch eine Weile nicht einsetzen. Jedenfalls, es schwirren eine Menge Quests herum, ich habe nicht viel Zeit, und irgendetwas werde ich schon finden, um mich zu beschäftigen, bevor das Turnier der Clans beginnt. Wann genau soll das noch mal stattfinden?“
„In anderthalb Monaten. Der Imperator schiebt es immer weiter hinaus. Zuerst war es der Dolch im Thron, der als Vorwand dafür herhalten musste, jetzt ist es das Herz des Gebieters des Chaos. Hast du vor, Renox zu retten?“
„Nein. Eluna hat mir eindeutig eingeschärft, dass ich Armard auf keinen Fall betreten darf. Und du weißt ja, ich bin ein Mensch, der immer gehorcht. Wenn eine Göttin mir etwas sagt, beherzige ich das. Ich werde mir etwas anderes ausdenken. Und was ist mit dir? Wirst du gegen Geranika kämpfen?“
„Mir hat man ebenfalls verboten, nach Armard zu gehen... Ach, weißt du was? Hier!“ Anastaria öffnete ihren Beutel – zu dem sie mir den Zugang inzwischen verweigert hatte, das hatte ich überprüft – und zog ein mir schmerzhaft vertrautes Kästchen hervor. Das, in dem ich das Schachspiel von Karmadont verwahrt hatte. „Über alles andere könnten wir uns lange streiten, aber das Schachspiel gehört auf jeden Fall dir. Mahan, ich überreiche dir offiziell diese Gegenstände!“
Sie stellte das Kästchen mitten auf den Tisch. Eine Meldung informierte mich darüber, dass mir ein Gegenstand angeboten worden war. Gleichzeitig erschien ein Timer für die Selbstzerstörung. Das Kästchen lag derzeit ohne Eigentümer auf dem Tisch. Daher hatte das System beschlossen, dass es sich um Abfall handelte, der gelöscht werden musste. In fünf Minuten wäre von dem Schachspiel nichts mehr übrig – es sei denn, ich nahm es an mich.
„Alles andere ist meine rechtmäßige Beute.“ Anastaria grinste, nachdem ich mir das Kästchen gegriffen und es geöffnet hatte. Acht grüne Orks, acht blaue Zwerge, zwei Riesen, zwei Oger, zwei Echsen und ein König... Alles, das ich bisher geschaffen hatte, gehörte nun wieder mir. Aber ich kapierte das nicht. So sorglos würde Anastaria niemals solche Objekte hergeben. Woraus folgte, dass sie gute Gründe dafür hatte, und zu meinem Vorteil waren die bestimmt nicht. Ich musste mich mit Clutzer beraten. Verdammt!
„Also hat es keinen Sinn, dich um das Auge zu bitten?“, bemerkte ich und steckte das Schachspiel in mein Inventar.
„Nun...“ Anastaria machte ein unschuldiges Gesicht. „Welches Auge?“
„Ich verstehe. Was willst du für Erics Armschienen und das Krastil von Shalaar haben? Die Armschienen waren das erste Werk, das Eric hergestellt hat. Sie haben ihm den Weg des Handwerkers erschlossen, deshalb möchte ich sie ihm zurückgeben. Und das Krastil von Shalaar ist der einzige Gegenstand, den ich von Renox besitze.“
Erstaunt schüttelte Anastaria den Kopf. „Du machst mir richtig Angst, Danny. Du bist so ruhig, gefasst, vernünftig, konstruktiv... Du scheinst nicht mehr der Schamane zu sein, mit dem ich drei wundervolle Monate verbracht habe.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Über das Auge können wir uns später unterhalten, aber die Sache mit den Armschienen und dem Krastil will ich sofort geregelt wissen. Möchtest du einen Handel abschließen? Und wenn ja, was willst du dafür haben?“
„Deine Bitte wirft ein Dilemma auf“, bemerkte Anastaria nachdenklich und beobachtete mich aufmerksam. „Ich verstehe ja, warum du die Armschienen haben willst. Der erste Gegenstand, den ein Handwerker hergestellt hat, besitzt eine besondere Bedeutung. Aber was das Krastil betrifft... Du weißt etwas, das sonst niemand weiß, richtig?“
„Du hast mir immer noch keine Antwort gegeben“, beharrte ich.
„Ich gebe dir diese Objekte im Austausch gegen Informationen“, erwiderte Stacey. „Und damit meine ich Informationen darüber, wofür du das Krastil brauchst. Du wirst mir alles sagen und dich dann zum Beweis dafür auf den Imperator berufen, dass du mir nichts verschwiegen hast. Sobald der Imperator mir das bestätigt, bekommst du Armschienen und Krastil zurück.“
Ich zuckte mit den Schultern. „In Barliona gibt es eine Menge Krastils, und Eric kann jederzeit neue Armschienen schmieden. Zum Überleben brauche ich diese Gegenstände nicht. Sie haben nur mir gehört, und ich möchte sie zurückhaben. Aber wir haben noch immer eine halbe Stunde – hast du etwas dagegen, wenn wir essen? Mir steht noch ein anstrengender Nachmittag bevor.“
Nachdem unsere vorgeschriebene gemeinsame Zeit zu Ende war, ließ ich Anastaria im Goldenen Hufeisen zurück und begann damit, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Zuerst einmal schrieb ich Kreel eine E-Mail, dem Eigentümer der Quest mit dem Drachen des Schattens. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er brauchen würde, um sich vorzubereiten, daher war es besser, ihn so schnell wie möglich anzusprechen. Am wichtigsten war derzeit, die Koordinaten des Dungeons zu erfahren. Die Bedingungen meiner Vereinbarung mit dem Titanen konnte ich später immer noch regeln. Am besten wäre es, ich kaufte ihm die Koordinaten ab, dann musste ich mir über eine Vereinbarung mit ihm keine Gedanken mehr machen. Obwohl... Inzwischen war es mir erlaubt, andere Spieler anzugreifen! Das eröffnete neue Möglichkeiten. Jedenfalls, die Vertragsbestimmungen wollten genau ausgefeilt sein. Innerlich entschuldigte ich mich bei Kreel. So leicht würde er mit mir nicht fertig werden. Das Leben war nun einmal kein Ponyhof.
Ich grüße dich, Kreel!
Ich bin jetzt bereit, mit dir die Reise zur Höhle des Drachens zu unternehmen. Wann wirst du zum Aufbruch bereit sein? Ich bringe eine Raid-Gruppe auf Level 204 und darüber mit, 50 Leute, Plinto und andere. Das sollte reichen, um den Schattendrachen zu töten. Lass es mich wissen, wann du so weit bist, dich in diesen Dungeon zu begeben.
„Mahan!“ Elizabeth freute sich wie immer, mich zu sehen. „Ich bin so froh, dass du meinem Rat folgst und Zeit mit deiner Ehefrau verbringst! Familie ist das Wichtigste überhaupt in Barliona!“
„Sag“, ging ich nicht darauf ein, „hast du irgendwelche Quests für mich? Ich habe es satt, ständig an einem Ort zu verharren. Ich möchte mich ein wenig in der Welt umsehen und gegen furchterregende Monster kämpfen. Eluna hat mir zwar verboten, mich am Kampf gegen Geranika zu beteiligen. Aber vielleicht kann ich die Schlacht gegen den Schatten auf andere Weise unterstützen? Vielleicht braucht zum Beispiel jemand einen Wasserträger?“
Das brachte die Hohepriesterin zum Lachen. „Wasser tragen? Was für eine lustige Vorstellung – Graf Mahan schleppt Wasser für die Schweine... Mit dem Verkauf von Tickets für eine solche Show könnte ich viel Geld verdienen! Nein, Mahan, um das Wassertragen musst du dir keine Gedanken machen. Dafür haben wir Diener. Aber was den Kampf gegen den Schatten außerhalb der Grenzen von Armard betrifft...“ Die Augen der Hohepriesterin wurden glasig, als würde sie neue Informationen herunterladen. Kurz darauf waren sie wieder klar, und sie fuhr traurig fort: „Ich habe eine Aufgabe für dich. Es gab bei uns eine Tragödie...“
„Eine Tragödie? Lass mich helfen!“, bot ich sofort an. Wenn der alte Mann recht hatte, würde das Unternehmen später einmal gründlich untersuchen, wie es dazu gekommen war, dass sich jemand die Tränen von Harrashess beschaffen konnte. Unter den Umständen war es nicht möglich, mir die Koordinaten für den zweiten Dungeon direkt zu geben, das wäre zu auffällig. Also konnte ich sie nur durch normales Spielen herausfinden. Das bedeutete, ich musste eine Quest annehmen, und in deren Rahmen würde ich den Standort des Dungeons erfahren. Oder, falls ich die Quest ablehnte, war irgendwo ein Hinweis auf die Koordinaten versteckt. Ich musste nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein.
„Das wäre sehr freundlich von dir. Wir haben kürzlich eine Mission zur berühmten Stadt Klarg in den Freien Landen ausgesandt. Meine Priester haben sich am Rand der Stadt niedergelassen, ganz in der Nähe des Dorfes Blaumoos, und das Licht von Eluna unter den Einwohnern des Herzogtums verbreitet. Doch plötzlich geschah etwas Seltsames – auf einmal verschwanden ihre Kühe. Die Priester sind beunruhigt und fürchten, dass sich eine üble Kreatur im Wald versteckt haben könnte. Wenn du mir einen großen Gefallen tun willst, begibst du dich dorthin und findest heraus, warum die Tiere verschwinden. Ich mache mir große Sorgen um meine Priester. Sie haben gerade erst den Status der Eingeweihten erreicht, und schon mussten sie sich auf eine so gefahrvolle Aufgabe einlassen!“
Quest verfügbar: „Verlorene Kühe“
Beschreibung: Es sind mehrere Kühe in den Wäldern außerhalb des Dorfes Blaumoos verschwunden. Finde heraus, was geschehen ist.
Questart: Gewöhnlich
Belohnung: + 100 Reputation bei den Priestern der Eluna und 30 Silbermünzen
Strafe für Verweigern/Fehlschlagen der Quest: - 100 Reputation bei den Priestern der Eluna
Ich musste zugeben, die Beschreibung ließ mich grinsen. 30 Silbermünzen – eine wahrhaft königliche Belohnung. Ich nahm die Quest an und sah auf der Karte nach, wo dieses Blaumoos lag. Das Ergebnis ließ mich noch breiter grinsen – wäre ich kein Harbinger, würde mich ein Portal dorthin mehrere tausend Goldmünzen kosten.
„Du findest das witzig?“, fragte Elizabeth erbost, die mein Grinsen falsch interpretiert hatte. „Die Leute dort leiden, sie haben Angst, sie müssen Geld ausgeben, das sie nicht haben, und du benimmst dich, als wäre das lustig?“
„Nein, nein, ganz und gar nicht!“ Ich musste mir rasch das Lächeln vom Gesicht wischen und ihr alles erklären. Sobald man bei einem NPC erst einmal über eine so hohe Attraktivität verfügte, musste man manchmal einen wahren Eiertanz veranstalten, denn der NPC konnte noch auf die kleinste Sache beleidigt reagieren. Die Programmierer hielten es für angebracht, dass sich die Spieler für eine so hohe Attraktivität durchgehend anstrengen mussten. Daher senkten sie die Attraktivität bei jeder sich bietenden Gelegenheit. „Deine Quest hat mich nur an einen sehr glücklichen Moment erinnert. Erinnerst du dich, dass wir kürzlich nach Krispa gereist sind? Das ist eine Stadt an der Grenze zu Kartoss. Dort ist uns eine riesige Meute Freier Bürger aus Kartoss begegnet. Die Erinnerung daran hat mein Lächeln ausgelöst...“
„In Blaumoos wirst du keine Kartossianer treffen“, versicherte Elizabeth mir. „Das wüsste ich, wenn das der Fall wäre. Ich unterhalte mich jeden Tag über ein Amulett mit der Leiterin der Mission, und sie hat nichts davon erwähnt. Wann wirst du aufbrechen?“
„Gleich heute. Warum sollte ich Zeit verlieren? Ich begebe mich nach Blaumoos und erforsche, was den Kühen dort zugestoßen ist. Ich hoffe, morgen wieder zurück zu sein.“
„Dann ist es also abgemacht – ich erwarte deinen Bericht morgen Abend und bin gespannt, was du erreichen kannst. Aber jetzt musst du mich entschuldigen – ich bin in Eile. Meine Geschäfte warten!“
Ich verließ den Tempel und sah mich auf dem kleinen Platz mit seinem hübschen Brunnen um. Spieler liefen herum, und auf einmal kam mir eine glänzende Idee. Ich holte eines meiner zahlreichen Amulette hervor.
„Hallo Evolett – ich bin es, Mahan, der dir gerade auf die Nerven geht. Hast du einen Augenblick Zeit?“
„Du weißt genau, für einen Partner nehme ich mir immer Zeit“, erwiderte Evolett.
„Sparen wir uns den edlen idealistischen Kram für den Augenblick. Ich rufe dich an, weil du mir einmal zwei Einladungen zur Hochzeitsfeier von Tavia und Tradiol in Kartoss gegeben hast. Mir ist sehr wohl klar, dass die Frist längst abgelaufen ist. Aber glaubst du, du könntest es für einen Partner organisieren, dass er einmal den Palast des Dunklen Lords besichtigen darf? Ich muss dem Dunklen Lord selbst nicht die Hand schütteln. Mir geht es nur darum, zu sehen, was sich die Designer für die Namenlose Stadt ausgedacht haben. Ist das möglich?“
Das darauffolgende Schweigen ließ mich feixen. Die Idee, Evolett anzurufen, war mir spontan gekommen. Ich gab es nicht gern zu, aber ich mochte Evolett und wollte herausfinden, wie es inzwischen um unsere Beziehung bestellt war. Nachdem ich meinen Clan nun nicht mehr auflösen wollte, gab es für mich eine Zukunft in Barliona, auch nach erfolgter Rache, und Evolett war einer der wenigen Clananführer, die über beachtliche Ressourcen verfügten. Im Grunde war es eine dumme Überlegung, die Lage auf diesem Weg zu sondieren, doch irgendetwas sagte mir, dass ich es so anfangen musste - ihn anrufen und um etwas bitten.
„Die Feier wurde wegen der Sache mit dem Herzen des Gebieters des Chaos abgesagt“, antwortete Evolett. „Ich beschaffe dir gern zwei Einladungen, wenn du unser Imperium besuchen möchtest.“
„Ach ja? Und auf wann wurde die Feier verlegt?“
„Entweder auf einen Zeitpunkt nach der Zerstörung des Herzens oder auf den St. Nimmerleinstag“, erklärte Evolett. „Was für einen Sinn hätte es schließlich, eine Feier zu veranstalten, wenn die Welt vernichtet wurde? In Zeiten des Pestausbruchs – oder ähnlicher Katastrophen – feiern die NPCs nicht gern. Mit anderen Worten, die Feier findet in frühestens anderthalb Monaten statt.“
„Hervorragend! Sichere mir zwei Einladungen, und ich komme vorbei, um sie mir abzuholen“, versicherte ich dem Priester. Elegant vermied ich jede Andeutung dessen, was sich auf der Ebene vor dem Grab des Schöpfers abgespielt hatte. Ich wollte Evolett nicht mein Herz ausschütten – ich brauchte ihn für seine Ressourcen, und er hatte mir gerade klar gemacht, dass sie mir bei Bedarf zur Verfügung standen. Das reichte mir aus.
Ich beendete die Verbindung, legte das Amulett beiseite und befasste mich mit einer weiteren Angelegenheit, die sich ständig in meine Gedanken drängte. Ich musste noch anderthalb Wochen auf meine Schamanenfähigkeiten verzichten, aber Kornik hatte ich dennoch erreichen können. Ob dieser Kanal wohl auch für eine Unterhaltung mit Fleita zur Verfügung stand?
„Schülerin?“ Ich schickte eine telepathische Nachricht in den Äther und stellte mir dabei den Zombie vor. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Telepathie funktionierte – ich wusste nur, wie man Nachrichten damit verschickte.
„AAAAAAHHHH!“ Fleitas wilder, erschrockener Schrei explodierte in meinem Kopf. Kurz darauf vibrierte ein anderes Amulett.
„Hallo“, antwortete ich fröhlich, denn ich wusste genau, wer mich da gerade anrief.
„Mahan! Du hast mich zu Tode erschreckt! Wie hast du das angestellt? Du warst in meinem Kopf! Ich konnte deinen Gedanken hören! Das war so geil! Lass es uns noch einmal versuchen!“
Eine Reihe der verschiedensten Forderungen strömte aus dem Amulett, dann beendete Fleita die Verbindung, und ich konnte ihre Gedanken in meinem Kopf hören, als ob ich mit Anastaria sprechen würde.
„MAHAN IST EIN LANGEWEILER! KANNST DU MICH HÖREN?“
Der Begriff „hören“ war vielleicht ein klein wenig untertrieben. Fleitas Gedanken füllten meinen gesamten Kopf und erstickten alles andere, auch die Geräusche um mich herum. Die Hände auf die Ohren gepresst sank ich auf die Knie. Es kam mir vor, als würden mir zwei Leute von rechts und links mit einem Megafon direkt in die Ohren schreien, mit mehreren hundert Dezibel.
„Genau – Mahan ist ein Langeweiler“, erwiderte ich, noch immer unter dem Ansturm in meinem Kopf erbebend. „Und jetzt hör auf zu schreien – ich höre dich sehr gut. Wenn du so weitermachst, verursacht mir das noch Ohrensausen!“
„Oh, tut mir leid“, bemerkte Fleita, sehr viel leiser. „Können wir tatsächlich auf diese Weise miteinander kommunizieren?“
„Nun, theoretisch nicht, aber es bekommt ja keiner mit“, knurrte ich bissig. „Jetzt kann ich deine geheimsten Gedanken lesen und herausfinden, wo du dich gestern Abend herumgetrieben hast...“
„WAAAS?“ Ein zorniges Brüllen brachte meinen Kopf beinahe zum Zerspringen. Eine Systemnachricht teilte mir mit, dass ich gerade den Benommenheits-Debuff erlitten hatte. Das brachte mich zum Grübeln. Ob ich so etwas wohl auch mit Anastaria anstellen konnte? Es wäre natürlich gemein, aber manchmal machte es einfach Spaß, gemein zu sein. „Wage es ja nicht, in meinen Gedanken herumzukramen!“
„Beruhige dich! Niemand kramt in deinen Gedanken herum. Das war ein Witz! Himmel, wenn ich gewusst hätte, dass du darauf so reagierst... Und jetzt sag mir, wo du gerade bist und was du machst.“
„Was denn – das weißt du nicht?“
„Wenn ich es wüsste, würde ich dich das nicht fragen!“
„Ich...“, begann Fleita, dann brach unsere Verbindung ab. Wahrscheinlich war die Energie des Mädchens zur Neige gegangen. Meine war ebenfalls schon auf die Hälfte zusammengeschrumpft. Jetzt lag meine Schülerin also irgendwo auf dem Boden, murmelte etwas Unverständliches und erschreckte die Umstehenden. Eines der Hauptprobleme einer erschöpften Energie war, dass es auch wenig half, sich in die Realität ab- und wieder im Spiel anzumelden. Das stellte die Energie nicht wieder her. Man musste abwarten - oder Wasser trinken. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
„Mahan, solche Unterhaltungen sind zu anstrengend“, keuchte Fleita fünf Minuten später ins Amulett. Dann erzählte sie mir zwei Dinge gleichzeitig. Das eine war, dass sie ihre Energie auf natürliche Weise hatte herstellen müssen, also hatte es in der Nähe kein Wasser gegeben. Und das zweite war die Mitteilung, dass sie ihre Sinnesfilter abgeschaltet hatte. Was mich erschreckte - minderjährigen Spielern in Barliona war das normalerweise nicht möglich.
„Wie hoch sind deine Sinnesfilter normalerweise eingestellt?“, fragte ich sie.
„Bei 90 Proz… Oh! Das ist nicht fair!“, lamentierte Fleita laut. „Ich wollte dich überraschen!“
„Ich habe die Nase voll von Überraschungen.“ Ich grinste. „Aber du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Wo bist du, und was machst du?“
„Ich befinde mich vor der Namenlosen Stadt und sammele Pilze. Evolett hat mir eine Standpauke gehalten. Es schicke sich für einen Raider nicht, sich an einem Ort aufzuhalten, an dem er nichts zu suchen habe, hat er mir erklärt, und mich zum Training geschickt. Er glaubt wohl, wenn ich mit Pilzsammeln beschäftigt bin, könnte ich keinen Geist des Lauschens mehr zu ihrem Meeting schicken.“
„Und warum solltest du das tun?“
„Nun ja, ich bin halt neugierig! Die besprechen da alle möglichen Dinge! So habe ich zum Beispiel gehört, bevor sie meinen Geist entdeckt haben, dass die Schattenlegion sich darauf vorbereitet, eine der Städte in den Freien Landen anzugreifen. Sie wollen sich erweitern und eine echte Konkurrenz zu Phönix werden. Sie möchten diesen Clan endlich von seinem Thron stoßen. Oh... Ich verrate dir hier Clan-Geheimnisse, das sollte ich vielleicht nicht tun. Mahan, bitte frag mich nicht weiter danach. Ich habe diese Dinge nur zufällig herausgefunden. Um genau zu sein, habe ich alles sofort wieder vergessen. Übrigens, wusstest du, dass Evolett drei Armageddon-Schriftrollen besitzt? Darüber haben sie kurz vor der Entdeckung meines Geistes geredet, deshalb kann ich mich daran noch gut erinnern...“
„Wann hat dieses Meeting denn stattgefunden?“, unterbrach ich sie und spitzte die Ohren.
„Heute Morgen. Nachdem man mich beim Lauschen erwischt hat, wurde ich zum Pilzsammeln geschickt. 40 Wald-Fliegenpilze muss ich finden. Die wachsen mit einer Wahrscheinlichkeitsrate von nur 3 %. Bisher konnte ich erst drei davon auftreiben.“
„Aha. Nun, ruf mich an, sobald du alle 40 eingesammelt hast. Ich möchte dich mitnehmen, ein paar Monster umbringen.“
„Geil. Und welche Monster?“, wollte Fleita wissen, doch ich beendete die Verbindung und griff nach dem vorigen Amulett. Evolett verfügte also über drei Armageddon-Schriftrollen, und das hatte er zufällig wenige Sekunden erwähnt, bevor irgendein Schurke oder Assassine mit einem hohen Entdeckungslevel Fleitas Geist bemerkt hatte?
„Evolett, hier ist noch einmal Mahan. Ich glaube, du weißt, warum ich anrufe.“
„Wegen der Einladungen?“
„Genau, wegen der Einladungen. Drei Einladungen zu einem Riesen-Feuerwerk. Weißt du was? Von allem anderen einmal abgesehen bin ich auch neugierig, wie du an diese Einladungen gekommen bist. Noch vor zwei Wochen hattest du keine einzige. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Während unseres kleinen Segelausflugs wären diese Einladungen sehr nützlich gewesen.“
Ich vermutete, dass Evolett momentan nicht allein war und daher nicht offen über die Armageddon-Schriftrollen reden wollte. Allerdings konnte ich mir diese Anspielung nicht verkneifen. Wir wären auf diesem „Segelausflug“ beinahe umgekommen! Irgendetwas passte hier nicht zusammen!
„Du hast recht, ich habe kürzlich drei Einladungen erworben und bin bereit, sie dir zu überlassen“, entgegnete der Anführer der Schattenlegion. „Ich kann dir nicht sagen, wie ich an sie gekommen bin. So viel allerdings sei dir verraten – ich musste dafür Freundschaft mit ein paar höchst interessanten Leuten schließen. Es sind ihre Einladungen, nicht meine. Du willst dich bestimmt ein wenig entspannen... Deshalb bin ich bereit, dir die drei Einladungen zu geben. Schließlich bist du mein Partner. Verwende sie weise! Schreib dir mal folgende Koordinaten auf, wir können uns dort in zehn Minuten treffen.“
Danach schwieg Evolett, was mir die Gelegenheit gab, über das nachzudenken, was ich gehört hatte. Warum musste bloß immer alles so schrecklich kompliziert verlaufen? Ich war mir sicher, Evolett hatte Fleitas Geist sofort bemerkt und die Situation ausgenutzt, um mir zu übermitteln, dass er vorhatte, gegen Phönix vorzugehen. Dabei hatte er die Schriftrollen erwähnt und, wenn ich das richtig verstand, die Möglichkeit zur Teilnahme an einem kleinen Raid. Meinen Anruf hatte er offensichtlich erwartet. Hmmm... Ich hatte Probleme, die Motive des Kartossianers nachzuvollziehen - er und Ehkiller waren immerhin Brüder. Garantiert wusste Evolett, wofür ich die Armageddon-Schriftrollen einsetzen wollte. Hatten die beiden Brüder sich etwa gestritten? Verdammt! Es wäre weitaus einfacher, wenn ich mich in die Minen zurückschicken ließe! Dann bräuchte ich mir den Rest meines Lebens um nichts mehr Sorgen zu machen außer um Erz und Ratten...
* * *
„Setz dich.“ Evolett deutete auf einen freien Stuhl. Ich schaute mich um und öffnete automatisch die Karte, um mich zu orientieren, wo ich mich gerade befand. Kaum hatte sich die Karte entfaltet, erstarrte ich. Statt einer normalen Landkarte meines Standorts sah ich eine dreidimensionale Projektion der Burg vor mir, in die ich teleportiert hatte. Das System hatte erkannt, wo ich war, und die Darstellung entsprechend angepasst. Und als Harbinger konnte ich mich nun per Wimpernschlag in jeden Winkel der Burg begeben. Ich war davon ausgegangen, dass dies so detailliert lediglich in Altameda funktionierte, aber offensichtlich...
„Die Haupthalle der Burg der Schattenlegion steht einer Teleportation offen?“, fragte ich erstaunt, als mir klar wurde, wohin Evolett mich befohlen hatte.
„Natürlich nicht – aber einen Harbinger oder einen Gott kann das nicht aufhalten.“ Der Priester lächelte bedeutungsvoll. Wahrscheinlich hatte er seinen Klabautermännern in den zehn Minuten zwischen unserem Telefonat und meiner Ankunft empfohlen, eine Auszeit zu nehmen, sonst hätten die mein Eintreffen verhindert.
„Was ist jetzt mit den Einladungen?“ Ich nahm auf dem Stuhl Platz. „Und warum sind es gleich drei?“
„Drei Clans, drei Einladungen.“ Evolett zuckte mit den Schultern. „In Kartoss läuft so etwas einfacher als in Malabar – hier arbeiten alle zusammen.“
„Okay, dann stelle ich die Frage anders. Du weißt, wofür ich diese Schriftrollen einsetzen würde. Und du weißt, dass ich die Natur deiner Beziehung zu Ehkiller kenne. Also warum?“
„Darf ich dir ein Glas Wein anbieten?“, fragte der Anführer der Schattenlegion, als hätte er meine Frage nicht gehört. „Der Eigentümer des Goldenen Hufeisens höchstselbst hat mir ein paar Flaschen seines besten Jahrgangs zum Geschenk gemacht. Was mir an Barliona so gut gefällt, ist, wie fantasievoll diese Welt sich darbietet. Sobald man die Welt dieses Spiels betritt, kommt man sich vor wie ein Held, der kleine Kinder rettet. Ich liebe Kinder sehr, Mahan. Ich bin jetzt fast 60, und du darfst es mir gern glauben – mein Aussehen im Spiel hat mit der Realität nicht das Geringste zu tun. Es ist massiv geschönt. In der Realität ist Evolett ein normaler alter Mann, der sich nur eines wünscht – Enkelkinder. Kinder sind nicht einfach nur kleine Menschen – sie machen das Leben überhaupt erst lebenswert.“
„Ich verstehe nicht...“ Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Entweder stand ich auf der Leitung, oder Evolett verwechselte mich mit jemandem.
„Im realen Leben besteht mein Job darin, für Waisenkinder neue Familien zu finden. Ich stecke sie nicht in irgendein Waisenhaus, sondern ich finde Familien für sie, leite ihr Adoptionsverfahren ein und unterstütze sie bei der Anpassung an die neuen Lebensumstände und bei der Rückkehr ins normale Leben. Ich habe mir sogar einen Job im Büro des Bürgermeisters gesichert, nur, um die Möglichkeit zu haben, gegen Eltern vorzugehen, die ihre Kinder auf so schreckliche Weise missbrauchen, dass...“ Evolett straffte sich, als fiele es ihm schwer, sich an diese Dinge zu erinnern, geschweige denn, darüber zu sprechen.
„Ein Mädchen hat mir besondere Sorge bereitet. Ich werde nicht darüber sprechen, was ihr Vater ihr angetan hat. Es muss ausreichen, wenn ich sage, dass auch der Aufenthalt in den Minen keine ausreichende Strafe für ihn war. Er hat seine Tochter regelrecht zerbrochen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen und reagierte auf nichts mehr. Anzeichen von Leben zeigte sie nur, wenn sie panisch auf die Annäherung eines Mannes, jeden Mannes reagierte... Ich weiß, was mein Bruder und meine Nichte mit dir gemacht haben, und kann mir gut vorstellen, was du im Augenblick empfindest. Ebenso weiß ich, was du für Rastilana getan hast. Im realen Leben ist ihr Name Julia. Auch wenn sie über nichts anderes spricht als Drachen, so ist sie doch immerhin gewissermaßen wieder erwacht, zuerst noch sehr unsicher und zögerlich, aber sie reagiert jetzt positiv auf die Ärzte und zittert nicht mehr wie Espenlaub, wenn sie ihr nahekommen. Und das liegt nur an ihrem Flug auf dem Drachen...“
Evolett goss sich Wein ein und trank das Glas auf einen Zug aus, als handelte es sich um hochprozentigen Wodka. Eine Weile lang sah er mich nur an, dann sagte er: „Gestern habe ich erfahren, dass du nach Barliona zurückgekehrt bist. Man muss kein Genie sein, um zu erraten, was der Grund für deine Rückkehr ist. Niemand kann das vergeben, was man dir angetan hat. Du verfügst jedoch nicht über die Ressourcen für eine Rache – und ich möchte dir für das danken, was du für Rastilana getan hast. Um meinen Bruder kümmere ich mich schon selbst. Mehr habe ich nicht zu sagen.“
„Du planst also eine Kampagne in den Freien Landen“, wechselte ich das Thema, nachdem ich die drei Schriftrollen mit dem zerstörerischsten Bannspruch in ganz Barliona vom Priester entgegengenommen hatte.
„Sag Clutzer, er soll sich wegen der Einzelheiten mit Zlatan in Verbindung setzen. Ich möchte eine Stadt erobern, die mit keinem unserer Imperien verbunden ist. Einen Reputationsverlust muss also keiner der Teilnehmer befürchten.“
Es folgte ein Schweigen, das ich nicht zu unterbrechen wagte. Einerseits hatte ich in Kartoss nichts weiter zu tun, und es wurde Zeit, nach Anhurs zurückzukehren. Andererseits lag es auf der Hand, dass ein solches Geschenk zumindest nach ein paar Worten der Dankbarkeit verlangte. Immerhin besaß jede einzelne der Schriftrollen einen Mindestnominalwert von sechs bis acht Millionen Goldstücken. Nur, was sollte ich sagen? Ich wusste es nicht, und so schwieg ich ebenfalls und starrte ins Feuer, das im Kamin flackerte.
„In drei Wochen hat Allie Geburtstag“, sagte Evolett plötzlich.
„Allie?“
„Barsina. Die Familie will den Geburtstag im Spiel ebenso feiern wie in der Realität. In Vengard. Die gesamte Führung von Phönix wird anwesend sein, ebenso wie die Anführer der mit Phönix verbundenen Clans. Alle werden sich piekfein herausputzen und die Statussymbole vorführen, die Beweis ihres Reichtums und Erfolgs sind. Bisher weiß niemand etwas von diesen Einladungen, und ich hoffe sehr, dass es auch bis zum Ende dabei bleibt. Ich werde auf der Geburtstagsfeier ebenfalls anwesend sein und noch heute meinen Schneider bitten, mir den bestmöglichen Anzug zu schneidern. Ich denke, wir verstehen einander?“
„Wir verstehen einander“, bestätigte ich, schüttelte dem Priester die Hand und gab die Koordinaten für Blaumoos ein. Wie hätte ich auch jemanden nicht verstehen sollen, der mir die Möglichkeit bot, die obersten Zehntausend von Malabar mitsamt all ihren einzigartigen Gegenständen zu vernichten? Anders funktionierte der Armageddon-Bannspruch nun einmal nicht.
Ich könnte mir vorstellen, wenn diese Feier so verlief, wie ich mir das vorstellte, wäre Anastaria zumindest ein klein wenig verärgert...