Kapitel 4: Blaumoos
Sieh‘ in den Spiegel, sag’ dem Antlitz dann:
Zeit ist’s, dass es ein Ebenbild erhält;
Dass, wenn es neues Leben nicht gewann,
Du um den Bruder nicht betrügst die Welt.
Nachricht gesendet...
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis die Antwort eintraf, auf die ich gewartet hatte:
Doch lebst du ohne Angedenken hier,
Stirbst du allein, und stirbt dein Bild mit dir.
Sobald ich auf dem Zentralplatz von Blaumoos angekommen war, verschob ich alle Aktivitäten und meldete mich in die Realität ab. Meine Unterhaltung mit Evolett hatte eine merkwürdige Idee in mir entstehen lassen, die ich nicht wieder loswurde. Es wurde höchste Zeit, mein Gehirn einzuschalten. Ich zog meinen Körper aus der Kapsel, machte es mir auf dem Sofa bequem und versank in Gedanken. Über welche Informationen verfügte ich jetzt?
Erstens – eine geheime Fraktion schmiedete ein Komplott gegen Phönix. Das war ja alles schön und gut – nur wollten sie sich meiner Hilfe bedienen. Was dazu führen musste, dass ich am Ende bei allen auf der Abschussliste stand. Angesichts meiner Beziehung zu Phönix und dem Ansehen des Schamanen Mahan in der Gemeinschaft von Barliona würde niemand auch nur eine Sekunde lang meine Begierde bezweifeln, mich am Clan der Grillhähnchen zu rächen und denen ordentlich eins auszuwischen. Die eigentlichen Verschwörer konnten somit im Hintergrund bleiben. Mich hingegen würde das volle Gewicht des Vergeltungsschlags von Phönix treffen, und dass ein solcher erfolgen würde, lag auf der Hand. Tja, eine verlockende Aussicht, nicht wahr?
Zweitens – den Verschwörern zufolge würde Phönix mir irgendwann in etwa zwei Milliarden Goldstücke zahlen. Dieser Betrag sollte angeblich meine Sicherheit gewährleisten. Aber anscheinend hatte ich den Realitätsbezug verloren. Was sollte denn die Verschwörer davon abhalten, mir alles Geld wegzunehmen – notfalls mit roher Gewalt? Ich erinnerte mich daran, wie der alte Mann gesagt hatte, dass Ehkiller in der realen Welt nicht aufzufinden wäre. Diese geheime Fraktion wollte meine Sicherheit garantieren. Allerdings hatte der Vertreter der Verschwörer zu keinem Zeitpunkt davon versprochen, dass mir nichts geschehen würde. Und wozu bräuchten die mich denn noch, sobald der Racheplan umgesetzt worden wäre? Als Zeugen? Wohl kaum!
Drittens – die Manipulation der Spieledaten. Was außer geistiger Verwirrung könnte erklären, dass ich meine bisherige Berufslaufbahn vergessen hatte? Ich war doch schließlich als Softwareprogrammierer ausgebildet. Also musste ich auch wie einer denken! Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, Fortbildungskurse besucht zu haben, in denen uns die Dozenten wieder und wieder eines eingehämmert hatten: Hacker wurden im vollsten gesetzlich zulässigen Höchstmaß bestraft, und zwar ganz gleich, ob es sich um Hacker der virtuellen oder der realen Welt handelte. Dabei trafen diese empfindlichen Strafen nicht nur die Hacker selbst, sondern auch deren Komplizen und Mithelfer.
Wie man es auch drehte und wendete – solange ich die Strafverfolgungsbehörden nicht über die Pläne des alten Mannes und seiner unbekannten Hintermänner informierte, machte ich mich als Komplize mitschuldig. Was bedeutete, mir stand möglicherweise selbst dann eine Strafe in den Minen bevor, falls alles nach Plan verlief. Wobei außerdem nach erfolgreichem Abschluss der Sache nichts und niemand den alten Mann und seine Kollegen davon abhielt, mich zu verraten und mir alle Schuld in die Schuhe zu schieben. War die Sache mit Marina nicht schon schlimm genug gewesen?
In dem Zusammenhang fiel mir ein, dass ich mich mit Marina treffen musste. Sie hatte sich jetzt so angestrengt um eine Begegnung mit mir bemüht, es wäre unhöflich gewesen, sie noch länger warten zu lassen. Ganz zu schweigen davon, dass sie mir mittlerweile schon einige Male mit dringend benötigten Informationen ausgeholfen hatte.
Viertens – Evolett. Vielleicht übersah ich bloß etwas, aber wieso sollte jemand auf seinen eigenen Bruder losgehen? Ihm musste doch klar sein, wie sehr die Reputation von Ehkiller leiden musste, falls es Plinto gelang, während der Geburtstagsfeier für Barsina in die wichtigste Burg des Clans einzudringen und ein paar Armageddon-Schriftrollen zum Explodieren zu bringen. Nicht nur ihre besten Spieler wie Anastaria und Höllenfeuer würden in von Reander geschneiderter Kleidung eintreffen, sondern sicher auch einige Gäste. Besonders diejenigen, die den Ehrgeiz hatten, Raider für Phönix zu werden. Obwohl man einen Geburtstag feierte, würden also viele mit Rüstung, Waffen und der besten Kleidung erscheinen. Wahrscheinlich würde Phönix von allen Eingeladenen auch noch Eintritt verlangen. Und dann detonierte mitten im fröhlichen Treiben Armageddon... Die Anzahl der Spieler, die danach auf meinen Clan wütend wären, würde alle Grenzen sprengen. Womöglich wären sogar Mitglieder der imperialen Familie unter den Gästen!
Evoletts Verhalten mir gegenüber ließ sich letztendlich so interpretieren: „Wir sind Partner und so weiter, aber, nichts für ungut, meinen Bruder überlässt du gefälligst mir!“ Aber warum hatte er mir dann drei dieser Schriftrollen überlassen, obwohl bereits eine einzige ausreichen würde, den Ruf seines Bruders in Barliona schwer zu schädigen? Was hatte er davon? Das war alles höchst merkwürdig, und ich kapierte es nicht.
Alles in allem stellte sich mir eine Reihe drängender Fragen, deren Antwort ich nicht kannte. Dennoch hatte ich die ersten Entscheidungen bereits getroffen und begonnen, mir meinen Weg aus dem Labyrinth zu suchen. Mich erfassten seltsame Ängste und Vorahnungen. Sie setzten sich in meinem Kopf fest und weigerten sich, wieder zu verschwinden. Irgendetwas machte ich also falsch, und wenn ich auf diese Art weitermachte, konnte ich später ungewollte Konsequenzen nicht mehr verhindern.
Oh, verdammt! War ich nun ein Schamane oder nicht? Und wenn ich ein Schamane war, wurde es dann nicht Zeit, auf meine Vorahnungen zu hören, und zwar nicht nur im Spiel, sondern auch in der Realität? Eine Vorahnung war schließlich eine Vorahnung, ob sie nun von meinem Unterbewusstsein oder von der Software erzeugt worden war. Es stand etwas Mächtiges und... ähem... verdammt Unangenehmes bevor. Das konnte ich nur überleben, wenn ich mich an alles erinnerte, was ich in der Vergangenheit gelernt hatte, und mir einen Alternativplan ausdachte.
Deshalb veröffentlichte ich ein kleines Gedicht, ein Sonett von Shakespeare, in einem Forum für freiberufliche Künstler und beging dabei bewusst einen Schnitzer, indem ich den Begriff „Mutter“ im Original durch den des „Bruders“ ersetzte. Niemand, der sich mit den Sonetten nicht auskannte, würde das bemerken, und diejenigen, denen sie vertraut waren, mussten es für einen Fehler halten. Ich und die Person, für die dieses Gedicht bestimmt war, wussten allerdings sehr genau, was ich damit sagen wollte: Wir mussten uns treffen, doch alle Kommunikationskanäle wurden möglicherweise überwacht.
Die ungeschriebenen Regeln in diesem Forum für freiberufliche Künstler sorgten dafür, dass schon eine halbe Stunde nach meinem Beitrag Hunderte von anderen Postings die Korrespondenz zweier bestimmter Personen verschleierte. Jeder der „Künstler“ dort – und auch ich war einmal ein solcher Künstler gewesen – verfügte über eingeschränkte Kontakte. Ich würde also nichts weiter mit ihnen zu tun haben, brauchte sie allerdings, da sie das Nachverfolgen meiner Beiträge erschwerten.
Die „Freiheit“, die das Freiberuflertum uns verschaffte, ging Hand in Hand mit einem gewissen Verfolgungswahn, der unser Leben bestimmte und dafür sorgte, dass wir viele Dinge nur verdeckt taten. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte ich aus irgendwelchen Gründen damit begonnen, anderen Menschen zu vertrauen, und mich mit einem Kopfsprung in die verrücktesten Abenteuer gestürzt, statt Situationen sorgfältig abzuschätzen und meine Optionen zu erwägen. Es wurde höchste Zeit, solche übereilten Handlungen einzustellen und über alles gründlich nachzudenken. Die Zeit und die Gelegenheit dafür hatte ich – alles andere würde schon folgen.
Die fehlerfreie Antwort meines Freundes bedeutete: „Ich habe deine Nachricht erhalten und werde versuchen, ein Treffen zu organisieren.“ Wenn der Zweizeiler, mit dem Sergej reagierte, ebenfalls einen Fehler enthalten hätte, hätte es bedeutet, dass eine Begegnung nicht möglich war. Doch sein Paarreim entsprach dem Original – somit eröffnete sich mir eine Chance, der Falle zu entkommen.
Erst als ich meine Fähigkeit zum klaren Denken wiedergewonnen hatte – oder dies zumindest glaubte –, wurden mir die enormen Ausmaße dessen bewusst, was sich um mich herum ereignete. Wenn es tatsächlich eine geheime Fraktion gab, die alle meine Bewegungen im Spiel nachverfolgte, galt das auch im vollen Umfang für mein reales Leben. Mein nächtlicher Ausflug hatte das ja nur allzu offensichtlich bewiesen. In dem Fall waren weder Telefonate noch E-Mails sicher. Es war klar wie Kloßbrühe – man beobachtete mich. Deshalb hatte ich meinem Freund diese kodierte Nachricht geschickt, die wir bisher noch niemals verwendet hatten. Deshalb war ich über seine Antwort hochbeglückt, was mich ins Café Alventa führte. Dieses Lokal hatten wir als unseren potenziellen Treffpunkt vereinbart.
* * *
„Wer sonst noch wagt es, mich zum Einzelkampf herauszufordern?“, rief einer der Stammgäste des Cafés aus und ließ seine Blicke durch den schwach erleuchteten Raum schweifen. Ich hatte mich in die hinterste Ecke verzogen und bemühte mich darum, wie ein Spieler auszusehen, der für eine Weile genug von Barliona hatte und sich eine Pause gönnen wollte. Unter den Spielern war Alventa dafür berühmt, einem die Rückkehr von einem Bürger Barlionas zu einem Bürger der Erde zu erleichtern und den Kopf wieder geradezurücken. Meine Anwesenheit an diesem Ort war also in keiner Weise auffällig.
„Ich!“, war die betrunkene Stimme eines anderen Gastes zu hören. Ein kleiner Kerl von etwa 30 stand auf. „Texas Hold’em, mit Standardregeln.“
„Angenommen!“, erwiderte der erste Typ, und die beiden Spieler begaben sich in den Nachbarraum. Auf einem großen Bildschirm wurde ihr Kartenduell übertragen, zusammen mit einer Liste der ausgeteilten Karten. Der Lautsprecher allerdings blieb stumm. Die Standardregeln verlangten unter anderem eine Unterdrückung aller Ton- und elektrischen Signale im Gebäude. Durchdringen konnte allein das Videosignal. Selbst das wurde jedoch durch eine Reihe von Spiegeln geschickt, und die Kamera zeigte lediglich die letzte Reflektion. Das Zimmer, in dem das Duell stattfand, wurde zu einem einzigartigen Ort, der den Spielern Abgeschiedenheit gewährte. Wenn es um Geld ging, konnte man nicht vorsichtig genug sein.
Ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass man mich weiter überwachte, trank mein Bier und schaute dem Spiel zu. Um ehrlich zu sein, gab es da nicht viel zu sehen. Dem kleinen Kerl, der die Herausforderung angenommen hatte, wurde langsam, aber sicher gezeigt, was eine Harke war. Es machte Spaß, zu beobachten, wie er versuchte, sich mithilfe von Assen zu retten, die er aus der Tasche zog, oder mit einem Bluff, doch er hatte keine Chance. Die Gesichter der Spieler konnte man auf dem Bildschirm nicht sehen, nur die Karten, die Chips und ab und an Hände. Doch diese Informationen reichten aus, um zu kapieren, dass in Wirklichkeit eine Verhandlung im Gang war.
Das war schließlich auch der eigentliche Zweck dieses Raums. Dafür war er geschaffen worden - um geheime Treffen zwischen „freiberuflichen Künstlern“ zu ermöglichen.
Dann hallte die Stimme des herausfordernden Stammgastes durch das Lokal. „Habt ihr es nicht langsam satt, dazusitzen und alles wiederzukäuen wie ein Haufen Kühe? Wer wagt es sonst noch, sich mir in einem Spiel unter vier Augen zu stellen?“
„Ich!“, brüllte ich und stand auf. Nun war es an mir, meine Hände den Kameras zu zeigen und beim Pokern Anfängerfehler zu machen. „Texas Hold’em, mit Standardregeln.“
„Du bist also völlig aufgeschmissen“, stellte Sergej fest, nachdem er sich meine Geschichte angehört hatte. Er hatte den Raum betreten, nachdem der Stammspieler die Türen geschlossen, das Abblocksystem aktiviert und den Helm aufgesetzt hatte, der verhinderte, dass er sah und hörte, was um ihn herum geschah. Unsere Geheimnisse mussten unsere Geheimnisse bleiben, und die Eigentümer des Alventa ließen sich, was diesen Punkt betrifft, nichts zuschulden kommen.
„Das ist noch sehr milde ausgedrückt“, stimmte ich zu und machte einen weiteren Fehler im Pokerspiel. Für diesen Dienst der ungestörten Unterhaltung musste man bezahlen. Deshalb gewann der Stammgast immer seine Spiele gegen die freiberuflichen Künstler, die den Service in Anspruch nahmen. Natürlich konnte man sich auch auf ein „richtiges“ Spiel mit dem Kerl einlassen, und dann kam es auf die eigene Erfahrung und das eigene Geschick an. Aber wenn man sich im Raum mit jemandem treffen wollte, musste er gewinnen, daran führte kein Weg vorbei.
„Dir ist hoffentlich klar, dass der alte Mann dich nach Kräften ausnutzen wird?“
„Das habe ich kapiert.“
„Und dass sein Angebot illegal ist...“
„Das ebenfalls...“
„Trotzdem willst du dich auf seinen Plan einlassen?“, erkundigte sich Sergej, nachdem ich einmal gewonnen hatte. Es war das Signal, dass die Unterhaltung länger dauern würde.
„Richtig“, seufzte ich. „Sergej, ganz gleich, wie man die Sache betrachtet, sie hat immer einen Haken. Ich will jedoch nicht auf meine Rache verzichten, das lässt mein Gewissen nicht zu. Nur habe ich keinesfalls vor, dafür alles aufs Spiel zu setzen. Was für einen Sinn hat schließlich eine Vergeltung, bei der man selbst mit untergeht? Also bleibt mir gar nichts anderes übrig, als das Angebot anzunehmen.“
„Das ist ja alles schön und gut, aber eines verstehe ich nicht. Wofür willst du dich überhaupt rächen? Was hat Anastaria dir denn angetan, dass du jetzt ihren Avatar vollständig vernichten willst? Übrigens, ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass Ehkiller Himmel und Hölle in Bewegung setzen wird, sobald du ihr die Träne zugespielt hast. Er kann das Unternehmen mit Leichtigkeit zwingen, gleich mehrere Gegenstände ins Spiel einzuführen, die die Auswirkungen der Träne aufheben und nicht dir allein gehören. Schließlich könnte dir jederzeit etwas passieren. Oder was ist, wenn du nicht weiterspielst, weil du das Interesse verloren hast? Oder weil dir etwas zugestoßen ist... Wenn ich über Ehkillers Ressourcen verfügen würde, gäbe es an dem Punkt für mich kein Halten mehr.“
„Eine gute Überlegung“, bemerkte ich nachdenklich und gab auf, obwohl ich einen Flush auf der Hand hatte. „Ich kann dir momentan nichts definitiv sagen, aber eines weiß ich jetzt – ich muss noch einmal mit dem alten Mann reden. Daran hat er anscheinend überhaupt noch nicht gedacht.“
„Wenn das alles stimmt, was du mir bislang berichtet hast, bewachen diese Leute bereits jeden deiner Schritte. Hast du eine Ahnung, was eine solche Geldsumme bedeutet? Kannst du dir zwei Milliarden auch nur vorstellen? Bei dem Betrag wird man dich keine Sekunde aus den Augen lassen.“
„Deshalb habe ich mich an dich gewendet. Ich werde verschwinden müssen, und zwar tatsächlich verschwinden, für eine sehr lange Zeit. Gleichzeitig muss ich jedoch in der Lage sein, in Barliona weiter spielen zu können. Lass uns mal vom Schlimmsten ausgehen: Der alte Mann arbeitet für das Unternehmen und kann die Standorte der Kapseln nachverfolgen, über die ich mich ins Spiel begebe. Also brauche ich einen Proxy-Array von... Nun ja, ich denke, sieben Server sollten reichen.“
„Sieben?“ Sergej sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Weißt du, was das kostet?“
„Geld spielt keine Rolle – mein Leben ist mir wichtiger. Ich brauche eine Feedback-Line auf jedem Level des Arrays, die mich über unerwünschte Gäste informiert. Sobald sie versuchen, meinen Standort in Erfahrung zu bringen, muss ich es wissen.“
„Hmmm... Nun ja...“, murmelte Sergej, tief in Gedanken versunken. „Ich stelle fest, deine Rehabilitation war erfolgreich – kaum bist du frei, steckst du schon im nächsten Schlamassel... Ich brauche drei Tage - und Geld, um alles in die Wege zu leiten.“
„Schick mir die Rechnungen, ich bezahle sofort. Sergej, ich will das alles nicht, aber ich habe die böse Vorahnung, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn ich nicht Vorsorge treffe. Und es ist ja schließlich nicht so, als ob ich zur Polizei gehen könnte. Was soll ich denen denn sagen? ‚Sehen Sie, Herr Kommissar, ich habe mich da mit jemandem getroffen, und der hat mir dies und jenes berichtet, und ich bin ernsthaft der Meinung, ich bin so brillant und einzigartig, dass die Leute bereit sind, das Spiel zu hacken...‘ Die schicken mich doch ins Irrenhaus, noch bevor ich ausgesprochen habe! Und aufgeben kann ich ebenfalls nicht – wenn ich nichts unternehme, werden mich die Gedanken an Phönix mein ganzes Leben lang verfolgen.“
„Das befreit dich aber nicht von deiner Pflicht, das Unternehmen über alles zu informieren“, wandte Sergej ein. „Dann bist du auf jeden Fall aus dem Schneider, falls etwas schiefgeht, denn schließlich hast du das Unternehmen gewarnt. Ob sie darauf reagieren oder nicht, kann dir egal sein. Aber als ehrlicher und verantwortungsvoller Spieler musst du diesen schamlosen Verstoß melden, von dem du erfahren hast. Dan, wenn du das nicht tust, hast du das Unternehmen später auf jeden Fall am Hals! Die werden dir die Hölle heiß machen!“
„Da bin ich ganz deiner Meinung“, nickte ich. „Ich werde denen eine E-Mail schicken – sobald du eine sichere Unterkunft für mich gefunden hast. Anschließend werde ich ja auch sehen, wie der alte Mann darauf reagiert.“
„Okay, dann mache ich mich mal auf die Socken.“ Sergej stand auf. „Mehr habe ich nicht zu sagen. Wir müssen sofort handeln... Dan, ich bin sehr froh, dass du einen Weg aus Barliona gefunden hast, das wollte ich dir noch sagen. Also dann, in drei Tagen kannst du meinen Bericht und ein paar Leute erwarten, die dich zu deinem neuen Zuhause bringen. Viel Glück, Mahan!“
„Dir auch viel Glück, Filin.“ Ich setzte alles. Es wurde Zeit, das Pokerspiel zu beenden.
* * *
„Ich Euch einen allerliebsten Tag wünschen, Herre Graf!“, begrüßte der Ratsherr von Blaumoos mich in ungeschicktem Malabarisch, als ich ins Spiel zurückkehrte. Ich schaute mich um und musste ein Grinsen unterdrücken. Es hatten sich nahezu alle Bewohner von Blaumoos um mich herum versammelt, als wollte man mir deutlich machen, ich könnte ohne Probleme eine neue Quest erwerben, wenn ich nur die richtigen Worte fand. Standardmäßig gingen die NPCs von Barliona ihren Geschäften nach und schenkten den Spielern, die überall herumflitzten, keinerlei Aufmerksamkeit. Nachdem jetzt jedoch alle Dörfler zusammengekommen waren, wollten sie mich entweder sofort wieder verjagen oder aber um Hilfe bitten. Eine dritte Möglichkeit gab es nicht.
„Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Tag, mein lieber Herr Kohlenkleister“, erwiderte ich, nachdem ich mich seines Namens vergewissert hatte.
„Oh, bitte, Ihr mich Kohle nennen“, korrigierte der Ratsherr mich. Es war merkwürdig – ich verstand zwar, was er sagte, aber er formulierte alles so eigenartig.
„Wie kann ich Ihnen helfen, mein lieber Kohle?“ Das war die Standardformulierung, wenn man sich eine Quest sichern wollte. Es ergab nicht viel Sinn, an diesem Ort viel Zeit zu verschwenden. Die Priester hatten sich außerhalb des Dorfs niedergelassen, aber es war nun einmal eine Gewohnheit, die ich so schnell nicht loswurde, auf jede Chance einer Quest anzuspringen. Wenn ich schon mit diesen NPCs reden musste, wollte ich auch alles aus ihnen herausholen, das sie mir zu bieten hatten.
„Uns helfen? Es in der Tat etwas geben, womit Sie uns können helfen, Herre Mahan“, antwortete er. Ich bereitete mich schon gedanklich auf eine neue Quest vor, doch plötzlich wechselte der Ratsherr das Thema und den Tonfall: „Du aus diesem Dorf verschwinden! Sofort! Wenn du in zwei Minuten noch hier sein, wir nachhelfen, mit Mistgabeln und Fackeln!“
Erneut betrachtete ich die umstehenden Dorfbewohner. Erst jetzt stellte ich fest, dass sie keineswegs alle freundlich wirkten. Ich sah zornige Gesichter, Knüppel, Sicheln und Mistgabeln, und einige führten an Ketten große Hunde mit sich. Was für ein Empfangskomitee! Die benahmen sich, als wäre ich ein gesuchter Verbrecher! Natürlich konnten sie mich nicht davon abhalten, das Dorf zu betreten, aber sie konnten mich durchaus schnell wieder hinausbegleiten. Mit einer Ehrenwache und allem Drum und Dran.
„Sie sind bereit, einen Grafen von Malabar anzugreifen?“ Ich schaltete um auf Aristokrat und hob die Augenbrauen. Das fehlte mir gerade noch, dass mir jetzt auch schon die NPCs vorschreiben wollten, was ich in diesem Spiel zu tun und zu lassen hatte! Clutzer, der alte Mann, Evolett, und jetzt auch noch die NPCs. Bald würde mir sogar Anastaria Befehle geben!
„Wir verlangen, dass der Graf das Dorf friedlich wieder verlassen“, erklärte der Ratsherr, ohne auch nur rot zu werden. „Der Herre Baron nichts dagegen haben werden, wenn wir dir helfen, zu verschwinden.“
„Aha – so sieht es also aus“, bemerkte ich erstaunt. „Und ihr glaubt ernsthaft, der Baron von Klarg wird sich nicht darüber aufregen, wenn der Imperator von Malabar oder der Dunkle Lord ihn später einmal zu diesem Vorfall befragen?“
„Der Dunkle Lord?“ Der Ratsherr erstarrte erst und machte dann einen Schritt rückwärts. „Herre Graf aus Malabar stammen. Was Kartoss haben zu tun damit?“
„Der Dunkle Lord ist ein sehr guter Bekannter von mir“, erklärte ich lächelnd, nachdem mir endlich klargeworden war, wie ich hier zu reagieren hatte. Ich öffnete die Registerkarte mit meiner Reputation, markierte den Eintrag für den „Dunklen Lord von Kartoss“ und schickte dem Ratsherrn eine Kopie. Der Status „Respekt“, nur 2.000 Punkte von „Begeisterung“ entfernt, war in diesem Spiel eine Menge wert. Besonders bei denjenigen, die Malabar und alles, was damit in Zusammenhang stand, hassten. Übrigens hatte ich anscheinend bereits herausgefunden, wieso die Priester der Eluna hier so viele Kühe verloren.
„Aber Malabar...“, wollte der Ratsherr widersprechen, doch ich hatte beschlossen, die Situation ihrem Abschluss zuzuführen.
Ich drehte mich zum Tor des Dorfes um und verkündete: „Ich werde dafür sorgen, dass die Amtsmänner erfahren, wie ich heute im Baronat Klarg behandelt worden bin. Es ist nicht nur unklug, einen Grafen mit Mistgabeln zu begrüßen, sondern es stellt auch eine eklatante Beleidigung der gesamten Aristokratie von Barliona dar. Ich werde tun, was Sie von mir verlangt haben, Herr Kohlenkleister. Und wünsche Ihnen alles Gute!“
„Warten Sie!“ Der Ratsherr wechselte zu Kartossianisch. Ah – ein weiterer Test für mich? Inzwischen sprach Kohlekleister nicht mehr mit Akzent. Kartossianisch war also wohl seine Muttersprache. „Es... es liegt hier ein kleines Missverständnis vor!“
„Ein Missverständnis?“, entgegnete ich, ebenfalls auf Kartossianisch, um ihm zu zeigen, dass ich diese Sprache sehr wohl beherrschte. „Es ist also ein Missverständnis, einen persönlichen Freund der Herzogin Urvalix mit Mistgabeln zu bedrohen?“
„Die Herzogin Urvalix?“, kreischte Kohlenkleister entsetzt.
„Natürlich! Ich berufe mich auf den örtlichen Wächter als Zeugen dafür, dass die Herzogin Urvalix, vormals die Herzogin von Caltanor, eine gute Freundin von mir ist!“
Meine 100 Punkte Attraktivität bei Tavia kamen mir jetzt gerade recht. Sofort leuchtete um mich herum eine strahlende Aura, und das gab dem Ratsherrn den Rest. Er sank auf die Knie und winselte erbärmlich.
„Gnade, oh, Meister Graf! Vernichten Sie mich nicht!“
Der Rest des Dorfes folgte dem Vorbild des Ratsherrn. Alle ließen ihre Gartengeräte fallen und fielen auf die Knie, flehten mich an, meinen Zorn zu zügeln und niemandem von dem Vorfall zu berichten. Sie boten mir Waren und Geld und sogar das hübscheste Mädchen des Dorfes als Magd für meine Burg an. Ich lehnte alles ab, zumal ich es hasste, wenn jemand vor mir auf die Knie ging. Es war so abstoßend!
„Gibt es nichts, das den ehrenwerten Grafen dazu bringen kann, unseren Fehler zu vergessen?“ Kohlenkleister waren zu meiner Freude endlich die Argumente ausgegangen. Er sah mich mit dem Blick eines geprügelten Hundes an. Ich unterdrückte erneut den Drang, ihn auf seine Füße zu ziehen, und erwiderte:
„Oh, doch, das gibt es. Informationen. Ich muss herausfinden, was mit den Kühen der Priester der Eluna passiert ist.“
„Mit den Kühen?“ Das maßlose Erstaunen wischte dem Ratsherrn alle Unterwürfigkeit aus dem Gesicht. „Aber das liegt doch auf der Hand – wir haben die Kühe gestohlen!“
„Warum?“
„Weil auf unserer Erde kein Raum für schmutzige Malabaren ist! Sie sind hier nicht willkommen! Auch wenn sie die Verfluchten im Zaum halten... Unser Baron hat uns verboten, den Priestern etwas anzutun. Von ihren Kühen allerdings hat er kein Wort erwähnt.“
„Was sind denn die Verfluchten?“
„Hier in der Nähe befindet sich ein schrecklicher Ort. Alle Bestien dort haben sich verändert, es umgibt sie eine merkwürdige Dunkelheit. Die Priester halten die Bestien von unseren Dörfern fern, deshalb tut ihnen niemand etwas. Aber was die Kühe betrifft...“
„Bleib beim Thema! Wo liegt dieser Ort?“ Ich stürzte mich auf den Strang der Unterhaltung, der mich zum Eingang des Schatten-Dungeons führen würde. Veränderte Bestien – ein gutes Anzeichen!
„Genau hier.“ In den Händen von Kohlekleister erschien eine Karte der Umgebung. Er deutete auf einen Punkt etwa zehn Kilometer von Blaumoos entfernt. „Es ist jetzt drei Jahre her, seitdem das Böse dort erstmals erschienen ist. Zuerst hat der Meister Baron allein dagegen gekämpft. Als dann die Priester aufgetaucht sind, waren wir alle sehr erleichtert.“
„Okay, ich sage euch jetzt, wie wir weiter vorgehen. Ihr hört sofort auf, den Priestern die Kühe zu stehlen, und gebt die zurück, die ihr euch bereits genommen habt. Auch werdet ihr den Priestern weiterhin nichts tun. Außerdem geben Ihr mir Eure Karte.“ Ich überprüfte meine eigene. „Wenn ihr mir das versprecht, gebe ich euch mein Grafen-Ehrenwort, dass niemand davon erfahren wird, was sich hier abgespielt hat.“
„Das Ehrenwort eines Grafen von Malabar?“
„Das Ehrenwort eines Freundes der Herzogin“, stellte ich richtig. Nach einem Blick auf die noch immer knienden Dörfler ergänzte ich: „Ihr könnt euch jetzt alle erheben.“
„Einverstanden.“ Der Ratsherr überreichte mir seine Karte. „Ab sofort wird niemand mehr den Priestern irgendein Leid antun. Ich danke Euch für Eure Güte und Euer Verständnis, Meister Graf. Und jetzt sollten wir uns auf den Weg machen – wir müssen die Kühe zu den Priestern zurücktreiben. Es gibt so viel zu tun...“
„Fleita, du hast für heute genug Pilze gesammelt. Wir haben etwas zu erledigen!“
„Na endlich! Ich hatte schon befürchtet, du hättest dein Versprechen vergessen!“
„Viltrius wird dich gleich zu sich holen und zu mir schicken. Wie viele Pilze hast du inzwischen gefunden?“
„Nur etwa die Hälfte. Diese blöden Pilze weigern sich, zu wachsen!“
* * *
„Du meine Güte!“, rief Fleita aus, als sie neben mir in Blaumoos erschien und auf ihrer Karte überprüfte, wohin es sie verschlagen hatte. „Was machen wir hier am A*** der Welt?“
Der in allen Spielekapseln installierte Sprachsynthesizer zensierte alle Schimpfworte von Spielern unter 21. Natürlich hätte aber jeder sofort verstanden, was Fleita hatte sagen wollen.
„Wenn du dich weiter solcher Flüche bedienst, nehme ich dich nicht mehr mit!“, wies ich sie streng zurecht.
„Was meinst du damit, du nimmst mich nicht mehr mit?“, fragte Fleita erstaunt. „Und, hey, Mahan, warum schauen die Dorfbewohner mich denn so merkwürdig an? Und was wollen die mit all den Mistgabeln und Fackeln?“
„Dich aus dem Dorf verjagen, was denn sonst?“
„Oh! Na, so etwas genieße ich doch immer... Aber du hast mir noch nicht erklärt, was wir hier machen.“
„Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen... Ah, ich sehe, du hast dir inzwischen den Status eines PKs verdient?“
„Mist! Mein PvP-Abzeichen sollte doch eine Überraschung sein – und Angriff! Damit hast du nicht gerechnet, was?“
„Ja, greif mich ruhig an – nachher windest du dich vor Schmerzen. Auch wenn deine Sinnesfilter nur zu 90 % aktiviert sind – selbst bloße 10 % Schmerz sind alles andere als ein Kinderspiel.“
„Das kannst du laut sagen! Ich schaudere, wenn ich nur an die wenigen Minuten denke, in denen ich meiner gesamten Energie beraubt war! Ach, übrigens, wie hoch sind denn deine Sinnesfilter eingestellt? Minimal? Ich meine, bis ganz herunter auf 70 %?“
Ihre Frage ließ mich erstarren. Ich spürte nicht den geringsten Unterschied, was meine Sinne betraf, zwischen dem Zustand vorher und jetzt. Noch immer nahm ich das Blasen eines kalten Windes wahr, den Geruch der Fichten im Wald, und so würde auch die Schärfe von Mistgabeln in meinem Bauch unangenehm sein.
Liebe Administratoren des Spiels,
bitte helfen Sie mir, ein kleines Problem zu ergründen, das ich mit meinen Sinnesfiltern habe...
Noch in der gleichen Minute schickte ich meine Anfrage an die Programmierer. Es war mir gleichgültig, dass ich noch immer vor dem Dorftor stand und Fleita neben mir ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat und den Dörflern besorgte Blicke zuwarf, die ihre Mistgabeln wieder aufgenommen hatten, um sie hinaus zu begleiten. Ich musste herausfinden, warum ich noch immer mit der vollen Empfindungsbandbreite spielte.
„Ach, übrigens, meine Schülerin – warum hast du mir gegenüber eigentlich nie mit deinem neuen Totem geprahlt?“, fragte ich sie, nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten. „Draco hat mir darüber so verrückte Geschichten erzählt - ich bin neugierig, was du dir da als Totem gesichert hast.“
„Was für verrückte Geschichten hat Draco dir denn über mein kleines Häschen erzählt?“ Fleita runzelte die Stirn.
„Häschen?“ Ich grinste. „Du hast deinen Knochendrachen... Häschen genannt?“
„Das ist auch nicht schlechter als Draco!“ Ihr Stirnrunzeln verstärkte sich. „Er ist noch sehr klein, und ich kann ihn erst nur für drei Minuten herbeirufen.“
„Das gilt für heute – aber es gibt ja immer ein Morgen. In drei Minuten könntest du mit ihm ohnehin nichts Vernünftiges anfangen.“ Ihre Worte hatten meine Neugier noch vertieft.
„Ist ja schon gut – ich hab’s kapiert. Du willst, dass ich ihn jetzt zu mir hole... Also gut – hier ist er!“
Es verging ein kurzer Augenblick, dann erschien etwas neben uns. Zuerst sah ich nur einen Haufen Knochen um Fleita herumwirbeln. Es kam mir vor wie einer der Bannsprüche, über den Todesritter verfügten. Doch als der Haufen wirbelnder Knochen endlich stillstand und mich anschaute, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. In einem Knochenschädel sprühten zwei Augenhöhlen kaltes Feuer. Die Flügel bestanden statt aus Haut aus einem transparenten magischen Feld, und die vier knochigen Pfoten mit langen, gekrümmten Krallen wirkten, als könnten sie alles auseinanderreißen. Fleitas Knochendrachen war schön und furchterregend zugleich.
„Hallo Lehrer!“, erklang eine kindliche Stimme, sehr dünn und unsicher. Ohne nachzudenken erwiderte ich: „Hallo Häschen!“
Der Drache verließ Fleita und flog mehrfach um mich herum, als wollte es mich begutachten.
„Du bist so groß!“, bemerkte das Totem meiner Schülerin und kehrte zum Zombie zurück. „Ich bin müde. Wir sehen uns später wieder.“
Das knochige Wasauchimmer verschwand, und ein anderes Wasauchimmer überfiel mich mit Fragen.
„Und? Was sagst du? Ist er nicht absolut klasse? Hast du eine Ahnung, wie glücklich es mich gemacht hat, ihn zu bekommen? Ich habe vor Freude geschrien! Mahan, du bist der beste Lehrer, den ich jemals gehabt habe!“
„Ja, er ist fantastisch“, stimmte ich ihr zu. „Aber erzähl mir, wie du die Prüfung abgeschlossen hast.“
„Oh!“ Fleita errötete. „Kornik hat mir eingeschärft, das niemandem zu verraten. Er behauptet, niemand dürfe diese Dinge wissen, besonders nicht mein Lehrer.“ Das tiefe Rot auf den bleichen Wangen des Mädchens wurde noch dunkler. Auf diese Weise sah der Zombie fast aus wie ein richtiger, lebender Mensch.
„Aha – so ist das also!“, brummte ich, scheinbar erbost. Sofort gab Fleita nach.
„Im Spiel darf ich dir das wirklich nicht erzählen. Aber niemand kann mich davon abhalten, es dir in der Realität zu berichten. Sag mir deine Telefonnummer, dann rufe ich dich heute Abend an.“
„Das ist schon in Ordnung“, lächelte ich. „Wenn Kornik dir gesagt hat, du musst das für dich behalten, soll es ein Geheimnis bleiben. Und jetzt lass uns mal untersuchen, was das Dorf Blaumoos heimsucht.“
Es kostete uns eine Stunde, den Zielort zu erreichen. Zuerst hatte ich überlegt, uns per Wimpernschlag dorthin zu versetzen, doch dann entschied ich, dass ein Spaziergang durchaus etwas für sich hatte. Momentan war ich als Schamane nicht viel wert. Ich konnte nicht kämpfen und hatte keine Ahnung, was uns bevorstand. Da war es besser, sich die Dinge leicht zu machen. Stress konnte ich auch später noch genug haben. Als uns der erste Schattenwolf auf Level 79 angriff, wussten wir, dass wir uns dem besagten Ort näherten.
„Du hast mich mitgenommen, um gegen Tiere zu kämpfen?“, empörte sich Fleita, inzwischen auf Level 73, nachdem sie den Wolf erledigt hatte. „Du nutzt mich aus!“
„Du brauchst solche Kämpfe, um dein Level zu verbessern“, erwiderte ich lakonisch.
„Du bist doch selbst erst auf Level 137!“
„Nicht ‚erst‘, sondern ‚schon‘! Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Du darfst dich noch nicht entspannen – uns stehen weitere Kämpfe bevor. Füll dein Mana wieder auf und komm!“
Ich tat mein Möglichstes, um Fleita zu unterstützen, doch meine Geister wollten nicht kommen. Ich konnte mich auf dem gesamten Kontinent frei bewegen und mich mit meiner Schülerin telepathisch unterhalten, aber eine Geisterbeschwörung war mir unmöglich. Keiner der Modi funktionierte – meine Fähigkeiten waren verschwunden, und damit hatte es sich.
„Ähm, Mahan, bist du dir sicher, dass wir beiden allein damit fertigwerden?“, erkundigte sich Fleita erschrocken, die gerade dem zehnten Wolf den Garaus gemacht hatte. Wir standen am Rand einer Schlucht und blickten hinab auf eine riesige Eiche, in deren Stamm sich der hell leuchtende Eingang zu einem Dungeon verbarg. Wir hatten ihn gefunden! Bestimmt war es der Dungeon, den ich suchte. Es war zu unwahrscheinlich, dass es hier in der Nähe einen zweiten geben sollte. Solche Dinge passierten im Spiel nicht. Allerdings gab es ein kleines Problem – in der Schlucht hatte sich ein Rudel von etwa 30 Schattenwölfen häuslich niedergelassen, alle auf Level 150.
„Inzwischen nicht mehr, nein“, murmelte ich und sah mich verzweifelt nach einer Lösung des Problems um. Die Lage war nicht gut, aber die Alternative auch nicht besser. Wie auch immer man es betrachtete, die Dinge standen schlecht. Ich wollte den Standort des Dungeons auf keinen Fall mit jemandem teilen. Zumindest nicht mit jemandem, mit dem ich in Barliona zusammenspielte. Ich war also in einer Sackgasse gelandet. Es sei denn... Himmel, warum nicht? Ich griff mir ein Amulett, das ich bisher noch nie benutzt hatte, und aktivierte es.
„Ja?“, meldete sich eine heisere Frauenstimme.
„Kalatea, wie geht es Ihnen? Hier spricht Mahan, aus Malabar. Haben Sie eine Minute Zeit für mich?“
„Mahan?“, fragte sie verwirrt und ergänzte: „Der Drache?“
„Genau der. Ich brauche den Beistand Ihres Ordens.“
„Ich höre...“
Allein konnten Fleita und ich den Dungeon unmöglich abschließen, das stand fest. Ich hatte Fleita mitgenommen, um mir bei Evolett ein paar Pluspunkte zu sichern. Wenn sie seinem Clan eine weitere Erste Tötung einbrachte, war das nicht zu verachten. Zumal es ein für Kartoss einzigartiges Achievement war. Plinto und Clutzer mit ihren Raid-Gruppen wollte ich nicht einladen. Bei Clutzer konnte ich schlichtweg nicht vergessen, was er getan hatte, auch wenn ich normalerweise nicht nachtragend war, und bei Plinto war ich mir nicht sicher, ob er nicht gänzlich eigene Pläne verfolgte. Oder ich litt an Paranoia. Einfach wahllos irgendwelche Spieler anzuheuern, dazu hatte ich nun wahrlich keine Lust. Aber ich musste diesen Dungeon unbedingt abschließen. Das ließ nur eine Möglichkeit zu: Mich mit der Unterstützung durch eine dritte Partei hineinzubegeben, die an der Beziehung zwischen den Legenden und Phönix unbeteiligt war. Was die Auswahl auf Kalatea und ihren Schamanen-Orden reduzierte.
„Welche Bedingungen stellst du?“, erkundigte sich die Schamanin, nachdem ich ihr von dem gerade entdeckten Dungeon berichtet hatte.
„Es verschafft allen Teilnehmern eine Erste Tötung. Dafür bekomme ich die gesamte Beute, mit Ausnahme des Goldes. Das kann ein Imitator verteilen.“
„Drei Millionen Goldstücke pro Krieger für das Portal, nur für eine Erste Tötung...“, wandte Kalatea ein, doch ich fiel ihr ins Wort.
„Vor Kurzem hatte ich Sie gebeten, die Möglichkeit zu überprüfen, ob sich ein Harbinger per Wimpernschlag auf einen anderen Kontinent begeben kann. Sie hatten mir bestätigt, dass das möglich ist.“
„In Ordnung – gehen wir einmal rein hypothetisch davon aus, dass ich meine gesamte Gruppe auf diese Weise zu eurem Kontinent bringe. Anschließend brauchen wir noch immer ein Portal, das uns an den Standort des Dungeons bringt. Das kostet mindestens 200.000.“
„Das ist nicht nötig – ich kann die Gruppe in Narlak abholen. Momentan ist die Stadt für Spieler zwar gesperrt, die Programmierer planen hier irgendetwas. Aber ich kann mich per Wimpernschlag dorthin begeben, direkt vor das Astrum-Territorium. Die Gruppe muss nur vor die Tür treten und ich kann sie mitnehmen. Oder alternativ kann ich mich per Wimpernschlag zur Botschaft von Kalragon in Astrum begeben und dort alle abholen. Also – was halten Sie von meinem Angebot? Wenn ich nach Astrum kommen soll, brauche ich nur die Koordinaten unserer dortigen Botschaft.“
„Wird dein Schüler uns begleiten?“, wollte Kalatea wissen. Sie hatte kurz gezögert. Wahrscheinlich hatte sie jetzt erst realisiert, dass nun auch ich ein Harbinger war. Und da sie ja diejenige war, die die Regeln für die Klasse der Schamanen aufgestellt hatte, wusste sie, dass ich einen Schüler haben musste, denn ohne konnte man nicht zum Harbinger werden. Nachdem ich bejaht hatte, hakte sie nach: „Und was passiert, wenn er dabei umkommt? Hast du ihm bereits das Todessiegel aufgedrückt?“
„Mein Student ist kein Er und kein NPC. Es ist eine Sie, und eine Spielerin.“
Es trat eine noch längere Pause ein. „Ich brauche eine Stunde, um alle zusammenzurufen“, erklärte Kalatea endlich. „Weitere drei Stunden werden wir brauchen, um zur Botschaft von Kalragon zu gelangen. Diese Option scheint mir vorteilhafter, angesichts der Lage in Narlak. Anschließend wird es dich ebenfalls drei Stunden kosten, alle zum Dungeon zu bringen. Wann sollen wir aufbrechen?“
„Werden Sie halb Astrum mitbringen?“, fragte ich grinsend, nachdem ich überlegt hatte, wie viele Leute man in drei Stunden transportieren konnte.
„Ein Harbinger kann nicht mehr als fünf Personen pro Stunde befördern, und zwar entweder jeweils einzeln oder alle fünf zusammen, je nachdem, was man bevorzugt, aber nie mehr als fünf pro Stunde. Ich werde 15 Schamanen und einen Tank mitbringen, das ist meine Raid-Gruppe.“
„Wird auch Antsinthepantsa dabei sein?“
„Selbstverständlich! Ich war davon ausgegangen, sie würde lange vor dir zu einem Harbinger erklärt werden. Nun, da habe ich mich wohl geirrt... Ich habe allerdings noch eine Bedingung – ich möchte mit deiner Schülerin sprechen.“
„Kein Problem – sie kann tun und lassen, was sie will. Wie gesagt, sie wird bei dem Raid dabei sein. Sie können sofort damit beginnen, alle zusammenzutrommeln.“
„Gut, ich sende dir in einer Stunde die Koordinaten. Bis bald!“
Das Amulett schwieg nun, nicht jedoch Fleita. Während des Telefonats hatte sie sich zwar taktvoll zurückgehalten, doch jetzt überfiel sie mich mit unzähligen Fragen. Ich berichtete ihr, wie ich Kalatea kennengelernt hatte und wer sie war – die geilste Schamanin in ganz Barliona... Fleita keuchte begeistert. Was für ein Affenzirkus! Am Ende meines Berichts zeigte sie mir allerdings durch einen Schmollmund, dass sie wegen irgendetwas beleidigt war. Auf mehrfaches Nachfragen hin hörte ich jedoch immer wieder nur ein schnippisches: „Es ist alles in Ordnung!“ Also beschloss ich, sie eine Weile lang in Ruhe zu lassen. Wenn alles in Ordnung war, dann war eben alles in Ordnung.
„Warte hier.“ Ich deutete auf eine kleine Eiche. „Es wäre besser, wenn du dich zwischenzeitlich in die Realität abmeldest und alles erledigt, was du an Aufgaben erledigen musst. Sag allen, sie dürfen dich während der nächsten fünf oder sechs Stunden auf keinen Fall stören, sobald du wieder ins Spiel zurückgekehrt bist. Du wirst ziemlich damit beschäftigt sein, dir eine weitere Erste Tötung zu sichern.“
„Aber klar doch, Papa !“, knurrte sie und löste sich in Luft auf. Irgendetwas beschäftigte sie eindeutig. Aber was? Und was hatte ich damit zu tun? War ich etwa ein Babysitter? Ein weiteres Mal gab ich meiner Paranoia nach und versuchte, herauszufinden, was Fleita verärgert haben könnte, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein. Trotz allem, was Anastaria und Barsina mir angetan hatten, vertraute ich meiner Schülerin noch immer vollkommen, auch wenn ihre gelegentlichen Anfälle mich verwirrten. Jemand, der in irgendein Komplott verwickelt war, konnte unmöglich die Prüfung zum Elementarschamanen bestehen, und sie war ja bereits auf dem Weg zum Großschamanen.
Nun, und selbst wenn die Logik das Gegenteil behauptete, meine Gefühle, meine Vorahnungen und alles andere blieben fest auf der Seite dieses merkwürdigen Mädchens. Das Erschreckende an ihr war nur der Gedanke, dass sie irgendwann die Frau eines Mannes werden würde. Und eine solche Partnerin konnte einen im Handumdrehen in den Wahnsinn treiben!
Ein leiser Klang meldete mir den Eingang einer E-Mail, und ein Symbol zeigte an, dass sie von den Administratoren stammte. Ich musste grinsen. Nun sah sich das einer an – wie schnell die reagieren konnten. Ich öffnete meine Mailbox und wollte mich gerade in die Ergüsse der Obermuftis von Barliona vertiefen, als die Liste der letzten zehn Neueingänge meinen Blick auf sich zog. Oder vielmehr war es nicht die Liste, sondern es war eine Nachricht von einem vertrauten Absender: Sie stammte von Kreel, dem Titanen.
Hi Mahan!
Na, du hast ja eine ganze Weile gebraucht, bis du dich endlich entschließen konntest. Wir haben im Dungeon bereits drei Level – also Stockwerke – abgeschlossen. Zwei sind noch übrig. Den letzten Boss haben wir noch nicht erreicht. Wenn du dich uns anschließen willst, musst du dafür bezahlen – mit einem Drachen werde ich gut allein fertig, ganz ohne dich. Der Preis liegt bei fünf Millionen pro Teilnehmer.
Kreel, der Letzte der Titanen!
Ach nein!
Ich verlor sofort jegliches Interesse an der Antwort der Admins. Kreel hatte sich ohne mich in den Dungeon begeben und mit dem Raid längst begonnen? Aber wie war das möglich? Ich war fest davon ausgegangen, Renox hätte ihm klargemacht, dass er mich mitnehmen musste! Zugang zu Vilterax hatte ich noch immer nicht, also entschied ich mich für die derzeit am einfachsten erscheinende Lösung und meldete mich bei meinem Lehrer.
„Kornik?“
„Ich höre dich, oh, Schüler-ohne-die-Fähigkeit-mich-telepathisch- erreichen-zu-können“, erwiderte der Goblin.
„Warum hat Renox dem Titanen auf einmal gestattet, den Schattendrachen ohne mich zu töten?“
„Weil diese Angelegenheit dich nicht länger betrifft. Du wirst dich nicht nach Armard begeben.“
„Ich werde mich von Armard fernhalten – aber ich muss der Erste sein, der diesen Drachen umbringt!“
„In dem Fall verstehe ich nicht, warum du einem armen alten, kranken Goblin damit auf die Nerven gehst, statt dich an deinen Vater zu wenden.“
„Weil ich Vilterax nicht erreichen kann. Ich habe keine Ahnung, wie ich dorthin gelangen kann.“
„Ich kapiere nicht – das hält dich davon ab?“ Die Überraschung in der Stimme meines Lehrers ließ mich eine Falle vermuten. „Du hast keine Ahnung, wie du dich zu Renox begeben kannst, und deshalb störst du mich in meinen schwerwiegenden und ernsthaften Geschäften? Weißt du, es ist schon eine ganze Weile her, seitdem ich dich zuletzt bestraft habe, Schüler...“
„Ehemaliger Schüler“, korrigierte ich, nur für alle Fälle, doch Korniks ohrenbetäubendes Brüllen ließ mich in die Knie gehen.
„Ich werde dir beweisen, was es heißt, ein ehemaliger Schüler zu sein! Ich erwarte, dass du morgen früh in Anhurs vor mir erscheinst! Dann zeige ich dir einen ehemaligen Lehrer in Aktion!“
Eine Meldung informierte mich über mehrere vorübergehende Debuffs, die ich erhalten hatte. Sie lieferte mir auch gleich eine Erklärung, was hier passiert war:
Du hast dir den Zorn deines Lehrers zugezogen. Sprich mit ihm, um deine Strafe dafür zu empfangen.
Questart: Gewöhnlich, klassenbasiert
Kornik verließ meinen Kopf und ließ mich mit wirbelnden Gedanken zurück. Was, verdammt noch mal, war da los? Zur Hölle mit der Strafe – so schlimm konnte die nicht ausfallen, schließlich war alles nur ein Spiel. Wahrscheinlich würde man mich zwingen, einer alten Dame auszuhelfen oder so etwas. Angst hatte ich davor jedenfalls keine. Weitaus interessanter war die Frage, warum ich mich entschieden hatte, mich an Kornik zu wenden statt an Draco. Wie dumm von mir! Wenn es jemanden gab, der mir sagen konnte, warum Renox die Quest des Titanen verändert hatte, dann war das mein Totem!
„Komm her, Draco!“
„Schon unterwegs, Bruder!“
„Du hast mich gerufen?“ Eine Sekunde später stand ein riesiger Drache vor mir. Draco zeigte sich in seinem wahren Erscheinungsbild und beeindruckte mich erneut mit seinen Ausmaßen. Wenn man auf ein solch gigantisches Maul mit riesigen Zähnen starrte, so groß wie der eigene gesamte Körper, blieb ein gewisses Zittern einfach nicht aus.
„Oh, ja, das habe ich.“ Ich seufzte erleichtert, als mein Totem – oder Schoßtier, wie die Obersten Geister ihn genannt hatten – auf eine angenehmere Größe zusammenschrumpfte. „Sag mir, warum hat Renox es Kreel auf einmal gestattet, den Schattendrachen ohne mich zu töten?“
„Weil du dich zu lange ausgeruht hast, Bruder! Die Macht des Schattendrachens wuchs ständig. Hätten wir noch länger gewartet, hätte er sich womöglich sofort Geranika angeschlossen. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn der Gebieter des Schattens über einen Drachen verfügen kann?“
„Aus deiner Frage schließe ich, es ist nichts Gutes...“
„Genau! Niemand wusste, wann du zurückkehren würdest, und es wollte dich auch niemand drängen. Du hattest schließlich mit deinen eigenen Prüfungen zu tun. Deshalb hat sich Renox mit Kreel getroffen, ihm die Titanenrüstung übergeben, die auch dem Feueratem eines Drachen widerstehen kann, und ihn in den Kampf gegen den Schattendrachen geschickt.“
„Renox hat Kreel ein Geschenk gemacht?“, fragte ich überrascht. „Und der Titan hat es angenommen?“
In der kurzen Zeit, die ich Kreel jetzt kannte, war er mir immer wie ein echter Rollenspieler vorgekommen. Er spielte nicht einfach nur jemanden mit einem Titanen-Avatar – er war ein Titan, komplett mit seinem Hass auf die Drachen und seinem Bestreben, der Erste und Beste seiner Rasse zu werden. Natürlich konnte es sich jeder selbst aussuchen, auf welche Weise er verrücktspielte, aber das schien mir doch ein wenig arg übertrieben.
„Kreel ist die Kinnlade heruntergefallen, als er die Rüstung gesehen hat“, berichtete Draco grinsend. „Das war schließlich einer der neun Gegenstände des Göttlichen Sets des Ersten Königs der Titanen.“
„Göttlich?“, wiederholte ich verblüfft. „Ist das etwa eine neue Gegenstandsklasse?“
„Nein. Es ist nur so, dass dieser König kurz vor seinem Tod ins Himmlische Imperium getragen wurde. Und das, was wir hier Legendäre Gegenstände nennen, heißt bei denen Göttliche Gegenstände. Der Begriff hat sich mir eingeprägt, deshalb habe ich ihn auch für das Set verwendet. Du kannst es auch das Legendäre Set nennen. Es stammt von Nabudhossar, dem ersten König der Titanen. Übergeben wurde es ihm von den Altehrwürdigen und anderen, aber die haben alle Namen mit unzähligen Buchstaben, die schwer auszusprechen sind.“
„Jetzt warte mal – du hast gesagt, es ist einer von neun Gegenständen. Wo sind die anderen acht?“
„Eines der Objekte gehörte Kreel bereits. Das Schwert, glaube ich. Vater besaß nur einen der neun Gegenstände, und der war an eine bestimmte Klasse gebunden. Aber soweit ich mich erinnere, hat er erklärt, dass er jemanden kennt, der jemanden kennt, der über die anderen Gegenstände Bescheid weiß. Wozu brauchst du die denn? Die sind doch für Titanen!“
„Das Leben ist lang und unvorhersehbar.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, wann ich vielleicht einmal mit Kreel einen Handel abschließen muss.“
„Ach so – du planst für die Zukunft vor. Dann ist das in Ordnung. Aber hör mal, was machen wir hier im Wald? Und dann noch so weit von Malabar entfernt. Das sind doch die Freien Lande, oder? Und ist hier nicht irgendwo in der Nähe ein seltsamer Schattenort?“ Bei der letzten Frage zuckte Draco ein wenig zusammen, als ob der bloße Gedanke daran ihn schon erschauern ließe.
„Ja, wir werden dort ein wenig kämpfen. Willst du dich uns anschließen?“
„Als ob du mich das fragen müsstest! Gegen wen kämpfen wir denn?“
Ich erzählte Draco, wie ich über diesen Dungeon gestolpert war. Anschließend konnte ich ihn nicht davon abhalten, loszulaufen und die Lage schon einmal zu erkunden. Er versprach mir, sich aus allen Schwierigkeiten herauszuhalten, die ihm über den Weg liefen, und stürzte in Richtung der Schattenwölfe. Dabei rief er aus: „Was für ein Anblick!“ Kein Kommentar... Nun ja, er war immerhin ein Drache auf Level 200, die Wölfe lagen bei 150, also sollte ihm nicht viel passieren.
Jetzt konnte ich mich endlich mit der Antwort der Admins befassen:
Lieber Mahan,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass wir nunmehr einen neuen Service anbieten. Sie können Ihren Charakter auf eine neue Fraktion übertragen, indem Sie...
Ansonsten möchten wir Sie darüber informieren, dass Ihre Sinnesfilter derzeit bis zum Maximum von 100 % aktiviert sind und Ihre sinnliche Wahrnehmung daher bei 0 % liegt. Sie können Ihre sinnliche Wahrnehmung jedoch steigern. Bitte begeben Sie sich dafür in ein Büro für Kundenangelegenheiten. Das nächstgelegene Büro finden Sie unter der folgenden Adresse:...
Abschließend möchten wir Sie daran erinnern, dass im Laufe der kommenden Monate ein...
Heute war nicht mein Tag. Kreel, Kornik, Renox und jetzt auch noch die verdammten Admins! Warum zum Teufel erzählten die mir, ich würde ohne sinnliche Wahrnehmung spielen, obwohl ich doch in exakt diesem Augenblick spürte, wie der kalte Wind über mich hinwegstrich? Und was war mit dem dumpfen Schmerz, den die Debuffs mir verursachten, mit denen Kornik mich gesegnet hatte? Oder dem Geschmack der verschiedenen Vorräte in meinem Beutel? Das war doch alles unmöglich!
Ich wollte die beiden Antworten, die ich schreiben musste, nicht hinauszögern. Also verschob ich die E-Mails nicht in den Ordner mit den zu erledigenden Aufgaben, sondern reagierte gleich darauf. Zuerst wandte ich mich erneut an den technischen Support und fragte ganz direkt, wieso ich Dinge spürte, die ich nicht spüren dürfte. Meine zweite Nachricht war etwas weniger direkt:
Hallo Kreel,
ich gebe zu, ich habe für die Antwort wirklich etwas länger gebraucht, als ich das eigentlich geplant hatte. Ich gratuliere dir zu deinem neuen einzigartigen Gegenstand. Ich hoffe, du bekommst irgendwann das gesamte Set zusammen. Zum Dungeon: Fünf Millionen ist ein bisschen viel für eine Erste Tötung. Hier ist mein Gegenangebot: Ich brauche aus dem Dungeon lediglich zwei Gegenstände. Die zwei, auf die ich zeigen werde. An dem Gold bin ich nicht interessiert. Das darf gern ein Imitator verteilen. Im Austausch dafür verrate ich dir, wie du den nächsten Gegenstand aus dem Legendären Set des Titanenkönigs finden kannst. Denke mal darüber nach. Wenn du den Dungeon ohne mich abschließt, behalte ich diese Information für mich.
Schamane Mahan. Drache.
Ich las die E-Mail noch mehrere Male durch und erwog den Inhalt unter den verschiedensten Gesichtspunkten. Dann klickte ich auf „Absenden“. Kreel sollte sich gut überlegen, wie er sich nun entschied.
Der Anblick der unzähligen unbeantworteten Nachrichten in meinem Posteingang ließ mich seufzen. Barsina hatte sich zwar am Ende als verlogen und durchtrieben herausgestellt, aber ihre Arbeit hatte sie wenigstens hervorragend erledigt. Ich hatte keine Lust, mehr als 10.000 Anfragen über die Aufnahme in meinen Clan zu beantworten. Daher erstellte ich einen neuen Ordner speziell dafür und schrieb ein kleines Skript, das solche E-Mails sofort dort deponierte.
Aber Moment mal – stand ich auf der Leitung, oder was? Warum sollte ich das alles allein erledigen? Das war schließlich Barliona! Und Barliona war eine Welt, in der jeder Geld verdienen wollte. Da wäre es doch gelacht, wenn ich nicht im Handumdrehen in der Gemeinschaft der Spieler ein begabtes Mädchen finden könnte, das mir diese Arbeit abnehmen und die Absender bezirzen konnte! Ja, jemand mit einem Uni-Abschluss und 100 Stunden nachgewiesener Erfahrung in der Einstellung von Personal. Es musste doch Hunderte solcher Spieler geben! Warum sollte ich mich damit selbst abmühen, herauszufinden, weshalb sich jemand meinem Clan anschließen wollte, obwohl ich doch nur einem anderen die entsprechenden Befugnisse einräumen musste, um mich von dieser unangenehmen Bürde zu befreien?
Gesagt, getan – ich speicherte meine derzeitigen Koordinaten und begab mich per Wimpernschlag nach Anhurs. Wie auch immer man es betrachtete, Clutzer hatte recht – der Clan musste weiterbestehen. Also musste er außer mir noch andere Mitglieder haben. Ich brauchte dringend Leute - Krieger, Sammler und Handwerker. Kurz, ich brauchte genau die Spieler, die Barsina so geschickt angeworben und später ebenso geschickt zu Phönix übergeleitet hatte. Ich brauchte meine eigene Meute, die mir Arbeit abnahm und mich schützte!
Als ich das Gebäude wieder verließ, in dem das Zentrum für Clan-Dienstleistungen untergebracht war – wie sich herausstellte, verfügte Anhurs über eine solche Organisation –, war ich womöglich der glücklichste Spieler in ganz Barliona. Es handelte sich bei dieser Organisation weniger um ein Zentrum als vielmehr um einen gewöhnlichen Clan mit vielen Angestellten, die eine vollständige Bandbreite an Clan-Dienstleistungen erbringen konnten. Das begann mit dem Management und endete mit der Rekrutierung von Raid-Gruppen auf der Grundlage einer Kompatibilität der einzelnen Spieler. Ich hatte denen erklärt, was ich brauchte, und nur 20 Minuten später war ich der stolze Inhaber eines Vertrags über die Rekrutierung von Spielern.
Kaum hatte ich unterschrieben, seufzte meine Mailbox schon erleichtert auf. Und die junge Frau, die mir gegenübersaß, keuchte entsetzt. Sie war meine neue Personalleiterin, und alle E-Mails, die die Aufnahme in den Clan betrafen, wurden an sie weitergeleitet. Sollte sie sich damit herumschlagen! Meine Pläne für eine Erweiterung des Clans hatten sich nicht geändert – die Prioritäten lagen weiterhin auf Beute, Handwerk und Sicherheit für diese Spieler. Wer unbedingt den PvP-Kampf suchte, sollte zu einem anderen Clan gehen. Solche Leute konnte ich nicht gebrauchen. Wenn ich mich mit einem anderen Spieler auseinandersetzen musste, übernahm ich das entweder selbst, oder ich holte Plinto zu Hilfe.
Verdammt!
Plinto!
Wie ich es auch drehte und wendete – ohne ihn hatte ich keine Chance. Solange er mich nicht unterstützte, konnte ich mein Vorhaben gleich vergessen, gegen Phönix zu Felde zu ziehen. Er war mir zu viele Level voraus, und ich hatte nur drei Armageddon-Schriftrollen. Ich brauchte den Schurken. Allerdings konnte ich ihn kaum bitten, alle Spieler von Phönix umzubringen, ohne ihm eine Gegenleistung dafür zu bieten. Momentan würde dafür, zumindest theoretisch, schon eine gute Beziehung zwischen uns ausreichen. Plinto befand sich derzeit sozusagen im Warte-Modus und hatte keine Ahnung, was ich am Ende tun würde. Nicht einmal ich wusste das schließlich so genau. Ich musste ihm meine guten Absichten ihm gegenüber klarmachen. Der beste Weg dafür war, ihn in den Dungeon einzuladen – aber nur ihn, nicht Eric oder Clutzer oder irgendeinen anderen.
„Nun sieh mal einer an – was für ein unerwarteter Anblick! Mahan, ohne Leibwache... Ich wandere hier in der Stadt herum und leide vor mich hin, aber dem großen Mahan ist das schnuppe!“ Eine vertraute Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. Ich schaute im gleichen Augenblick auf, in dem ich die Entscheidung getroffen hatte, was Plinto betraf – und sah in einigen Metern Entfernung den Gehässigen Gnum stehen. „Hast du mir nichts zu sagen?“, verlangte er.
„Altameda kann fliegen“, platzte ich mit dem Ersten heraus, das mir in den Sinn kam.
„Das habe ich bemerkt. Die Burg kann fliegen, meine Anrufe blockieren – und meine Dämonen. Bestimmt beherrscht sie auch den Kreuzstich. Das will ich gar nicht wissen. Sag mir stattdessen lieber, was dieser Mist sollte! Hast du meine Mail bekommen?“
„Das habe ich“, bestätigte ich. Der Gedanke an den Umhang brachte mich zum Grinsen.
„Also – wo?“
„Wo was?“, fragte ich verblüfft. Gnum war ein Genie, das war nun einmal eine Tatsache. Außerdem war er einer der merkwürdigsten Typen, die mir jemals untergekommen waren. Ich grübelte darüber nach, ob er sich die Worte wohl gut überlegte, die aus seinem Mund kamen, oder ob er so vorging wie ich, also nur ab und zu vorher nachdachte.
„Du bist heute ziemlich schwer von Begriff. Wo sind deine aufrichtigen Entschuldigungen, deine Beteuerungen ewiger Freundschaft und dein Versprechen, mir wieder den Zugang zu deiner Burg zu gewähren? Ich werde das Ding Stein für Stein auseinandernehmen, wenn es sein muss – ich muss herausfinden, wieso Altameda fliegen kann!“
„Ich hatte nichts anderes von dir erwartet“, lächelte ich. „Aber was, wenn du die Burg dabei kaputtmachst?“ Mir war klar, ohne weitere Informationen konnte Gnum nichts über diese Fähigkeit von Altameda erfahren. Der Grund für die Fähigkeit des Fliegens war schließlich nicht, dass es sich um eine besondere Burg handelte, sondern ein Fluch. Und das durfte auf keinen Fall öffentlich bekannt werden. Was, wenn plötzlich irgendein Verrückter daherkam und den Fluch aufhob? Was sollte ich dann machen?
„Na und? Dann setze ich anschließend alles wieder zusammen. Also, wo ist die Burg jetzt? Wohin muss ich mich begeben?“
„Ich dachte, du redest nicht mehr mit mir?“, bemerkte ich.
„Pah! Ich habe mich an etwas erinnert. Und du solltest immer daran denken: Das Gras war früher grüner und der Himmel war blauer. Also, wo ist die Burg?“
„In den Freien Landen. Sieh mal, Gnum, momentan gibt es da eine Zugangsbeschränkung. Nur ich oder jemand aus meinem Clan kann die Burg betreten, also nicht jeder. Wenn du dir Zutritt verschaffst und deine Skulpturen dich bemerken, gefällt ihnen das womöglich nicht.“
„Was redest du da für einen Mist? Meine Mädels würden mir niemals etwas zuleide tun!“
„Ähm... Es sind jetzt meine Mädels, hast du das vergessen? Altameda hat den Standort gewechselt, weil es sich in Gefahr befand. Tut mir leid, aber ich kann diese Einschränkung nicht nur deinetwegen aufheben. Ich kann keine Gäste in meiner Burg gebrauchen.“
Der desolate Gesichtsausdruck, der sich nun bei Gnum zeigte, verriet mir, ich hatte ihn getroffen. Schwer getroffen.
„Ich verstehe“, murmelte er nach einer kurzen Pause. „Dann mache ich mich mal wieder auf die Socken. Falls du deine Meinung änderst, kannst du mich...“
„Warte, ich war noch nicht fertig!“, rief ich dem Totenbeschwörer nach. „Du kannst dich meinem Clan anschließen und dann mit Altameda tun und lassen, was du willst. Innerhalb angemessener Grenzen natürlich.“
Gnum blieb abrupt stehen und fuhr herum. Seine funkelnden Augen zeigten mir, dass er mich am liebsten umgebracht hätte. „Ich soll mich deinem Clan anschließen? Du willst, dass ich wie ein Ochse 28 Stunden am Tag schufte? Mich vor dir in den Staub werfe, wenn ich Ressourcen brauche? Mich jeden Tag darum bemühe, meine Performance-Kriterien zu erfüllen, weil es das ist, wofür ich bezahlt werde, wie du mir immer wieder erklären wirst? Oh, nein – mit einem solchen Mist will ich nichts zu tun haben!“
„Was für einen Unsinn du redest, Gnum! Der einzige Grund, warum ich dich in meinen Clan aufnehmen will, ist der, dass du dadurch Zugang zur Burg erhältst. Was das betrifft, lasse ich nicht mit mir reden. Alles andere... Nun ja, wer bin ich denn? Der Sohn eines Millionärs, dass ich dir ein Gehalt zahlen kann? Darüber kannst du mit dem Imitator verhandeln. Ich habe keine Ahnung, um welche Summe es sich dabei handelt. Wer weiß denn schon, wie die Software so etwas errechnet? Was die Ressourcen betrifft, werde ich Viltrius sagen, dass du in der Burg arbeitest, und ihm befehlen, dir alles zur Verfügung zu stellen und zu zahlen, was du brauchst. Wenn du nebenher an deinen eigenen Projekten arbeiten möchtest – kein Problem. Aber ich brauche deine Hilfe.“
„Ich darf an meinen eigenen Projekten arbeiten? Das heißt also, du wirst mich nicht anbrüllen und mir irgendetwas von Fristen und Leistung erzählen?“
„Natürlich werde ich dich anbrüllen – aber nicht deswegen. Wenn du Altameda die Möglichkeit der Teleportation nimmst oder so etwas, fresse ich dich bei lebendigem Leibe auf, und dann kannst du dein Handwerk aus dem Bauch eines Drachens heraus weiter ausüben!“
„Ich habe dir doch schon gesagt, deiner kostbaren Burg wird nichts passieren!“ Gnums Gesicht hatte sich merklich aufgehellt. „Muss ich irgendetwas unterschreiben? So von wegen: ‚Hiermit übereigne ich dir meine Wohnung, mein Auto und meinen Hund als Gegenleistung für die Verwendung deiner Materialien für meine eigenen Zwecke‘?“
„Du hast deine Zahnbürste vergessen. Ich bestehe darauf, dass du mir die ebenfalls überlässt.“
„Da hast du recht – ohne Zahnbürste ist alles andere nichts wert. Aber mal ernsthaft – willst du einen schriftlichen Vertrag aufsetzen? Was sind die Bedingungen?“
„Keine.“ Ich zuckte mit den Schultern und verdiente mir durch meine Antwort ein wenig Karma für mich selbst. „Wenn du arbeiten willst, dann arbeitest du. Und wenn nicht, dann arbeitest du eben nicht. Wie hast du so schön gesagt? Ich kann graben, ich kann nicht graben, und ich kann auch etwas einschrauben – oder etwas in dieser Richtung. Das ist der Inhalt unserer inoffiziellen Vereinbarung. Ich habe nur eine Bedingung – wenn du etwas in größeren Mengen brauchst, musst du mir das rechtzeitig sagen, damit ich es günstig für dich beschaffen kann.“
„Ich dachte, du hättest ganze Berge an imperialem Stahl?“, fragte Gnum überrascht. „Mehr als das brauche ich eigentlich nicht.“
„Tja, ich hatte Berge aus imperialem Stahl, doch es ist nicht mehr viel übrig. Ich verfüge hauptsächlich über Spektralerz. Alles andere hat sich Phönix unter den Nagel gerissen.“
„Spektralerz...“, wiederholte Gnum mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. „Das – ähm... Das sind doch diese leuchtenden Nebelbrocken mit den Umrissen von Felsen, oder? Es gibt keine Beschränkung für das Handwerkslevel, und kein Mensch weiß bisher, welches Rezept bei ihnen wirkt, richtig? Wie viel davon hast du?“
„Nicht sehr viel. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht genau erinnern, aber auf jeden Fall zwei oder drei Stapel, glaube ich.“
„Okay, verstanden. Nimmst du auch Alyx?“
„Was? Wer oder was ist Alyx? Und was soll ich damit machen?“ Ich kapierte nicht, was er wollte.
„Na, nimmst du auch Alyx in deinen Clan auf? Alyx ist Raniada. Ich glaube, du bist ihr einmal begegnet. Sie ist eine Freundin meiner Frau.“
„Warum ist mit dir bloß immer alles so furchtbar kompliziert? Die Freundin deiner Frau... Warte mal... Ist Raniada nicht die neue Miss Malabar?“
„Jepp.“
„Selbstverständlich nehme ich sie – zu denselben Bedingungen wie bei dir. Weißt du was? Vereinfachen wir die Sache doch ein wenig...“ Ich schickte Gnum eine Einladung, sich meinem Clan anzuschließen. Der Totenbeschwörer dachte kurz nach und nahm dann an. Sofort wirbelte ein kleiner, molliger Engel im Lendenschurz um ihn herum – ein Goblin.
„Heureka – es hat funktioniert!“, rief Gnum aus. Wie seine Projektion aussah, war ihm augenscheinlich egal, denn er tat nichts, um deren Erscheinungsbild zu verändern.
„Natürlich hat es funktioniert – warum bitte sollte es auch nicht? Ich gratuliere dir zum Eintritt in unseren Clan, und so weiter und so fort.“ Ich öffnete den Bildschirm mit den Einstellungen und passte Gnums Eigenschaften an. „Von jetzt an hast du die Aufsicht über die Weingläser... Außerdem kannst du in den Clan aufnehmen, wen immer du willst. Die einzige Bedingung... Ach, vergiss es – ich bin zu faul, dir das zu erklären. Du wirst es schon selbst herausfinden.“
„Warte mal – du meinst, wen immer ich will?“ Gnums Augen verengten sich listig.
„Hast du vor, mir bis in alle Ewigkeit dumme Fragen zu stellen?“, erwiderte ich ebenso listig. „Übrigens, einen netten, kleinen Amor hast du da als Projektion. Ich wage mir nicht einmal auszumalen, was du anstellen musstest, damit das System dir dieses kleine Wunder zugeteilt hat.“
„Nun ja, weißt du, da war diese eine Sache... Ich habe den falschen Dämonen beschworen... Etwas missverstanden... Wie auch immer, es ist eine lange Geschichte, aber dieser kleine Goblin ist ziemlich geil, also lass ihn gefälligst in Ruhe!“
„Ich habe nichts gegen den Kerl – er passt gut zu dir“, bemerke ich, als der winzige fliegende Teufel Salven von noch winzigeren Flammenpfeilen in die Umgebung feuerte. „LOL und so weiter...“
„So, und was jetzt?“, erkundigte sich Gnum.
„Wenn das System für dich ein solches Monster auswählt, stelle ich mir lieber nicht vor, womit Svard enden könnte. Bestimmt mit etwas, das sehr episch ist. Und pink.“
„Pink? Wieso denn das?“
„Kannst du dich an Svard nicht erinnern? Er kleidet sich wie ein Clown. Ist so stur wie ein Maulesel. Arbeitet so emsig wie eine Ameise. Ist hinterlistig wie eine Spinne. Denk doch mal nach – welche Figur könnte all diese Eigenschaften in sich vereinen? Eigentlich nur ein pinkfarbenes Nilpferd mit einer weißen Toga. Eine andere Projektion kann ich mir für Svard nicht vorstellen.“
„Hmmm... Du, hör mal, ich muss los – ich habe ein paar geschäftliche Dinge zu erledigen. Also, wo ist die Burg?“
„Warte, ich schicke dir die Koordinaten.“ Es war schwer, mir das Grinsen zu verkneifen, als der Gnom hastig davoneilte. Er konnte nur zwei Ziele haben – entweder erst Raniada, dann Svard, oder umgekehrt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
„Wir sehen uns später!“, rief er über die Schulter zurück. Er rannte bereits. Endlich durfte ich mir das Grinsen gestatten. Wenn der Totenbeschwörer nicht innerhalb kürzester Zeit Svard in meinen Clan brachte, verstand ich die Welt nicht mehr.
Ich zögerte noch eine Weile, dann nahm ich eines meiner Amulette zur Hand.
„Juppheidi und juppheida!“
„Hallo Plinto! Was planst du für die nächsten Tage? Ich habe hier ein Geschäft, das könnte 100.000 Millionen wert sein...“
„Falls du vorhast, jemanden umzubringen, kannst du mich gleich vergessen. Ich bin noch eine ganze Woche lang kein richtiger Schurke.“
„Ähm...“ Erst jetzt fiel mir ein, dass Plinto ja ebenfalls einer der wenigen Spieler war, denen man ihre Fähigkeiten genommen hatte, damit die anderen Spieler aufholen konnten. Halt!
„Moment mal – da stellt sich mir gleich eine Frage. In dem Video, das Clutzer mir gezeigt hat, konntest du doch Anastaria und Höllenfeuer töten!“
„Klar – aber vergiss nicht, die beiden verfügen derzeit ebenfalls nicht über ihre Fähigkeiten. Momentan sind sie nichts als zwei große Konservenbüchsen mit einer enorm hohen Anzahl an Trefferpunkten. Dass sie all ihre kostbaren Eigenschaftspunkte in Ausdauer und Intelligenz gesteckt haben, hilft ihnen auch nicht gerade weiter. Sie hätten sie lieber für etwas verwenden sollen, das ihnen bei einem Kampf tatsächlich etwas bringt. Ich habe sie mithilfe von ein paar guten Dolchen und meiner hohen Beweglichkeit abserviert, ohne meine übliche Beschleunigung oder sonstige Kinkerlitzchen.“
„Na gut. Wir müssen uns dringend unterhalten. Ich kapiere das alles noch immer nicht. Du hattest dich in der Ebene unsichtbar gemacht – und das ist doch eine typische Schurkenfähigkeit. Wo bist du gerade? Ich kann in einer Sekunde bei dir sein.“
„Ähm...“, zögerte Plinto. Meine gesamte Welt fiel in sich zusammen. Ich konnte mich an keine einzige Situation erinnern, in der der Schurke nicht sofort eine bissige Antwort parat gehabt hätte. Wenn er sich nicht mit mir treffen wollte, obwohl er nicht in irgendeiner Schlacht steckte, konnte das nur eines bedeuten... „Also gut, ich schicke dir die Koordinaten.“
Rasch gab ich die Zahlen im Feld für den Wimpernschlag ein und teleportierte. Ich rechnete fest damit, Plinto entweder gar nicht anzutreffen oder seine schlanke Ferse gerade noch so in einem Portal verschwinden zu sehen.
„Wenn du auch nur einem Menschen etwas davon sagst“, drohte er mir, als ich neben ihm erschien, „kannst du vergessen, dass du mich kennst. Total! Du bist der erste Spieler, der das zu sehen bekommt. Willkommen in meiner Werkstatt! Oh, und du kannst deine Kinnlade wieder vom Boden aufheben.“
Ich starrte auf zehn Skulpturen aus einem schneeweißen Stein. Da waren Yalininkia, Eluna, ein mir unbekannter Schurke, der seine Dolche schwang, ein sehr fein ausgestalteter Baum, der an einen Wächter erinnerte, Frauen, Männer, Monster, Tiere... Die riesige Höhle, tief in den Freien Landen, war gefüllt mit Skulpturen. Unter deren Eigenschaften befand sich bei allen ein merkwürdiger Eintrag:
Schöpfer: Meister-Bildhauer Plinto der Blutrünstige.
„Ich will verdammt sein!“, hauchte ich und atmete die angehaltene Luft erst dann wieder aus, als der Balken mit dem „Verbleibenden Sauerstoff“ erschien.
„Ich habe gestern herausgefunden, dass ich für eine neue Skulptur ein weiteres Zertifikat erwerben kann, darum wollte ich mich heute kümmern. Dafür bekomme ich bestimmt einen weiteren Punkt für mein Handwerk.“
„Du hast dich auch aufs Handwerk spezialisiert?“ Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und sah Plinto verblüfft an.
„Na, welche Überraschung!“, knurrte der Schurke bissig. „Plinto weiß, wie er etwas mit seinen Händen herstellen kann...“
„Ich kann es nicht glauben!“, rief ich aus. Ich kam mir vor wie in der verkehrten Welt. „Du bist ein Meister?“
„Du konntest doch immer sehen, dass ich ein Meister bin! Das steht deutlich in meinen für alle sichtbaren Eigenschaften. Deshalb musste ich ja auch in der Tarnung und im Aufspüren meinen Meister machen. Aber du wolltest mir etwas sagen?“
„Ja... Nun gut, nein... Hör mal, warum versteckst du all das hier in der Höhle? Deine Werke sind großartig!“
„Na, weil meine Reputation als Plinto der Blutrünstige sofort im Arsch ist, wenn die Leute davon erfahren! Wie soll denn jemand einen Spieler fürchten, der ein Handwerker ist? Und es ist schließlich nicht so, als ob es mich kratzen würde, ob die Leute meine Arbeiten sehen oder nicht. Mir gefällt es, dass sie existieren. Ich bringe es nicht über mich, sie nach der Erschaffung wieder zu zerstören. Deshalb habe ich diese Höhle gefunden und alle Werke hierhergebracht. Und manchmal begebe ich mich an diesen Ort, um mich von der Welt zu erholen.“
„Das ist... das ist verrückt! Es kommt mir vor, als würde ich träumen!“ Ich betrachtete die Skulpturen näher: + 10 für die Attraktivität eines Gebäudes, + 5 % für die Ausdauer der Burgverteidiger, + 32 für die Attraktivität eines Gebäudes, + 23 für... Das ging immer so weiter mit den Boni und verbesserten Eigenschaften für Burgen.
„Also, wen willst du umlegen?“, kam Plinto zum Grund meines Besuchs zurück.
„Niemanden... Sag mir, wie du es geschafft hast, auf der Ebene vor dem Grab mit Tarnung zu arbeiten.“
„Das war eine Schriftrolle. Clutzer hat mich angerufen, mir berichtet, dass dort irgendwas abgehen würde, und verlangt, dass ich anwesend bin. Viltrius hat mich zu Clutzers Koordinaten teleportiert. Ich habe mich versteckt und mir die Show angesehen. Nachdem du das Spiel verlassen hattest, habe ich beschlossen, ein wenig Karussell zu spielen. Stacey und Höllenfeuer waren ja weitgehend schutzlos und nicht auf einen Angriff vorbereitet. Ich habe sie mit einem Schlag gegen die Schläfe betäubt und ihnen anschließend den Rest gegeben. Um fair zu bleiben – am Ende haben die Henker von Phönix mich ebenfalls erwischt, aber das spielt keine Rolle. Ich bin Höllenfeuer jetzt 12:9 voraus.“
„Ich verstehe.“
„Hör mal – ob du es glaubst oder nicht, ich habe keine Lust, irgendetwas zu erklären oder zu beweisen oder um irgendetwas zu bitten. Wenn du weiter mit mir zusammenarbeiten willst, verwandelst du dich besser zurück in den alten Mahan, den ich kenne – den, mit dem man alle möglichen verrückten Dinge anstellen konnte. Wenn nicht, kann ich für dich nur hoffen, dass niemand etwas von dieser Höhle erfährt.“
„Du hast recht - was passiert ist, das ist nun einmal passiert. Zurückgehen und irgendetwas ändern kann ich nicht, also müssen wir nach vorn schauen. Ich habe vor, einen neuen Dungeon zu raiden, aber ich brauche dafür einen hochleveligen Kämpfer. Als ich dich angerufen habe, war mir vorübergehend entfallen, dass du ja nicht über deine Fähigkeiten verfügst. Aber ich möchte dich trotzdem einladen. Hast du Lust, ein paar Stunden lang deine Messer fliegen zu lassen?“
„Wann?“
„Wir betreten den Dungeon in vier Stunden. Ich kann dich zum Eingang bringen.“
„Sind es nur wir beide?“
„Nein, uns begleiten ein paar Schamanen. Aber von den Legenden wird sonst niemand dabei sein.“
„Aha. Du planst also irgendwelchen Unfug, und dafür brauchst du einen Schurken auf hohem Level?“
„Oh, ja – einen, mit dem man alle möglichen verrückten Dinge anstellen kann. Ich habe verschiedene Pläne, aber allein kann ich die alle nicht umsetzen. Ich würde viel zu schnell sterben.“
„Redest du über das, was Clutzer erwähnt hat?“
„Nicht ganz, aber es ist etwas Ähnliches. Ich will mitten in der Hauptburg von Phönix Armageddon detonieren lassen.“
„Na gut, das bringt die Burg ein einziges Level herunter, und dann vielleicht...“
„Das ist das Ergebnis einer einzigen Schriftrolle, ja.“
„Hmmm...“
„Aber was, wenn wir gleich drei auf einmal aktivieren?“
„Ich weiß nicht einmal, was ich dir sagen soll. Der Clan hat nicht genug Geld, gleich drei dieser Schriftrollen zu kaufen, aber so, wie ich dich kenne, besitzt du sie bereits. Richtig?“
„Ja.“
„In dem Fall bin ich gern zu einem feurigen Tango in der Hauptburg von Phönix bereit. In einer Woche, wenn ich meine Fähigkeiten zurückhabe. Willst du einfach nur die Burg in die Luft jagen, oder willst es richtig gründlich machen?“
„Was meinst du damit?“ Verständnislos runzelte ich die Stirn.
„Ich meine damit, müssen sich die Führung von Phönix, zum Beispiel Anastaria, Höllenfeuer und ihre Raider zu dem Zeitpunkt in der Burg befinden? Willst du den größtmöglichen Schaden hervorrufen, oder nur mit einem Furz die Luft verpesten?“
„Ich will den größtmöglichen Schaden hervorrufen.“
„Kapiert. Ich übernehme die Planung. Und was den Dungeon betrifft – nun, wenn deine Schamanen sich der Extra-Unterstützung nicht schämen, bin ich gern bei dem Raid dabei. Ich muss nur für ein paar Stunden in der Realität verschwinden und meine Familie informieren.“
„Die Schamanen werden sich nicht schämen. Hör mal, darf ich diese Skulpturen nach Altameda bringen? Was meinst du? Außer mir weiß niemand, wo sich die Burg befindet. Und selbst wenn sie jemand durch Zufall finden sollte, kommt der noch lange nicht in den Thronsaal. Du weißt genauso gut wie ich, dass früher oder später jemand über diese Höhle stolpern wird. Schließlich hast du sie auch irgendwie entdeckt.“
„Wie kommst du denn darauf, dass nur du weißt, wo sich Altameda befindet?“ Spöttisch hob Plinto die Augenbrauen. „Wenn du willst, kann ich dir die genauen Koordinaten meines privaten Gemachs nennen – und folglich auch der gesamten Burg.“
„WAS?? Du hast mir irgendwelchen Mist in die Burg gesetzt!“, brüllte ich, ohne Plinto weiter zu Wort kommen zu lassen. Was zum Teufel sollte das schon wieder? Wie kam es bloß, dass mit Worten alle so furchtbar edel und aufrichtig waren, man jedoch, wenn es um Handlungen ging, immer alle möglichen Fallstricke fand?
„Nun beruhige dich mal wieder! Niemand hat irgendetwas in deine Burg gesetzt. Das hätte Viltrius dir längst verraten. Aber was weißt du über die Fähigkeiten eines Meisters des Aufspürens?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung von diesem Scheiß!“
„Ah, da ist er ja endlich wieder, unser furchtloser Clan-Anführer, und kreischt, dass die Wände wackeln. Ich möchte darauf hinweisen, dass du der erste Mensch bist, der von meiner Meisterschaft im Aufspüren erfährt. Alle anderen halten mich bloß für einen Meister der Tarnung. Mit den Einzelheiten will ich dich nicht langweilen, aber grob gesprochen ist es so: Sobald ein Spieler in diesem Bereich eine bestimmte Entwicklung erreicht hat, kann er ein sehr wichtiges kleines Ding erwerben, das sich Markierung nennt. Ein Meister des Aufspürens kann einem Gegenstand oder Spieler eine solche Markierung zuweisen und später, wann immer er will, den genauen Standort dieses Gegenstands oder Spielers sehen. Man wird eine solche Markierung leicht wieder los. Du musst nur einen Priester oder den Imperator bitten, dich zu segnen. Bloß, wer macht sich schon diese Mühe? Höchstens diejenigen, die über diese Fähigkeit Bescheid wissen, und das sind nicht viele. Ich habe dir, Altameda, und, um genau zu sein, jedem eine solche Markierung verpasst, mit dem ich jemals zusammengearbeitet oder den ich getroffen habe.“
„Als wir uns in Dochtheim das erste Mal getroffen haben, hast du mich gefragt, wohin Anastaria verschwunden ist. Also konntest du sie nicht auf deiner Karte sehen.“
„Damals hatte ich ihr noch keine Markierung zugeteilt. Und bevor sie sich nach Fernstatt begab, hat Anastaria alle Buffs zurückgesetzt. Dadurch wurden auch alle Markierungen entfernt.“
Ich horchte auf. „Aber jetzt weißt du, wo sie ist?“
„Natürlich. Moment... Augenblicklich befindet sie sich gerade...“ Plintos Blick bewölkte sich, während er seine Karte studierte. „Hm... Sie befindet sich nur wenige Meter von einem anderen Spieler entfernt, den ich ebenfalls mit einer Markierung versehen habe. Er heißt Kreel. Seine Koordinaten sind...“
„WAS??“, rief ich entsetzt. Stacey war mit Kreel zusammen? Sie begleitete ihn im Drachen-Dungeon? Das Miststück hatte mich also ein weiteres Mal hintergangen und sicherte sich jetzt meine Erste Tötung?
„Nun sieh mal einer an, wie aufgeregt du bist“, spottete Plinto. „Wie ein echter eifersüchtiger Ehemann, der gerade entdeckt hat, dass seine Frau ein Date mit einem anderen Mann hat...“
„Die beiden sind im Dungeon!“, kreischte ich. Ich konnte mich nicht beherrschen. „Und zwar in genau dem Dungeon, den ich unbedingt selbst abschließen muss!“
„Halten sie sich darin schon lange auf?“, erkundigte sich der Schurke.
„Es sind nur noch zwei Stockwerke übrig.“
„Dann kannst du die Sache vergessen. Du kannst sie nicht mehr einholen, und zwar selbst dann nicht, wenn die beiden niemanden am Eingang abgestellt haben, der dir den Zutritt verwehrt.“
„Aber warum sollte ich den Dungeon denn vergessen? Ich muss mich doch nur ihrer Gruppe anschließen, dann wird mir ihr Fortschritt angerechnet.“
„Glaubst du wirklich, Anastaria ist bereit, eine Erste Tötung mit dir zu teilen?“
„Fünf Millionen pro Spieler“, murmelte ich. Auf einmal wurde mir klar, warum Kreel einen so hohen Preis für jeden weiteren Teilnehmer verlangt hatte.
„Sie haben dir angeboten, dich an der Raid-Gruppe zu beteiligen, wenn du ihnen dafür fünf Millionen zahlst?“ Plinto stand die pure Neugier ins Gesicht geschrieben. „War das ihre Forderung? Oder glaubst du, das ist der Betrag, bei dem sie dich mitmachen lassen?“
„Das hat Kreel verlangt.“
„Bei der Gelegenheit... Über wie viel Geld verfügt der Clan eigentlich noch?“
„36 Millionen.“
„Kann ich mir vielleicht fünf davon ausleihen? Ich zahle sie zurück, sobald ich kann.“
Ich wusste sofort, wie ich darauf reagieren musste. „Ich gebe dir die fünf Millionen für deine Skulpturen. Bei allem Respekt für deine Urheberrechte daran und so weiter – ich könnte sie wirklich gut gebrauchen. Du hast die Burg doch gesehen – Dekoration gibt es da bislang noch so gut wie keine. Ich sorge dafür, dass Viltrius den Namen des Urhebers verbirgt, dann erfährt niemand, dass sie von dir stammen. Wenn du willst, kann ich sie sogar im Keller unterbringen.“
Der Schurke warf mir einen kritischen Blick zu und grinste. „Du bist ernsthaft bereit, fünf Millionen für diese Schädigung meiner Reputation auszugeben?“
„Nur für die entfernte Gefahr einer solchen Schädigung, nicht für deren sicheres Eintreten. Und bitte beachte – das Risiko ist auch nicht viel größer, als dass jemand diese Höhle entdeckt. Eher sogar geringer, möchte ich mal behaupten, denn in der Burg sind die Skulpturen geschützt.“
„Und wo willst du sie aufstellen?“
„Wenn es dir reicht, dass der Urheber verborgen wird, in der Haupthalle. Ansonsten irgendwo im Keller. Eigentlich spielt das keine Rolle, solange nur die Boni wirken, die sie verleihen.“
„Also gut – dann ruf gleich Kreel an. Wir machen das gemeinsam, und er bekommt zwei neue Waggons für seinen Zug.“
Ich holte ein Amulett und meldete mich zuerst bei meinem Haushofmeister.
„Viltrius, aktiviere doch bitte ein Portal für die folgenden Koordinaten...“ Ich schlug unseren Standort auf der Karte nach und gab dem Goblin die Koordinaten durch. „Schicke Vimes hierher. Er muss ein paar Skulpturen holen. Deine Befehle lauten wie folgt: Wenn es dir gelingt, den Urheber dieser Skulpturen zu verbergen, stellst du sie in der Haupthalle auf. Wenn nicht, musst du sie irgendwohin bringen, wo sie niemand sieht, ihre Boni aber noch ihre Wirkung entfalten. Das ist Nummer 1. Und Nummer 2 – ab sofort haben der Gehässige Gnum und Plinto freien Zutritt zur Burg. Hast du alles verstanden?“
„Jawohl, Meister!“, antwortete er, und ein Portal öffnete sich neben uns, aus dem kurz darauf der Tauren trat, mit einem ziemlich abschreckenden Gesichtsausdruck.
„Was muss ich transportieren, Meister?“, fragte mein Sicherheitschef mit lauter Stimme.
„Die Statuen. Sie müssen in die Burg gebracht werden. Und zwar im Eiltempo!“
Er begann sofort mit der Arbeit. Aber ich hatte noch nicht alles erledigt, worum der Schurke mich gebeten hatte. Ich überprüfte noch einmal meinen Posteingang – nein, der Titan hatte mir nicht geantwortet. Also zog ich mein Amulett für Anastaria hervor und rief sie an.
Sie meldete sich sofort. Im Hintergrund konnte ich die typischen Geräusche eines Kampfes hören, doch ihre Stimme war so charmant und ruhig, niemand hätte vermutet, dass sie sich mitten in einer Schlacht befand. Anastaria als Waggon für einen Zug... So hatte ich die Sache noch nie betrachtet!
„Hallo, mein Schatz“, begrüßte ich sie. Plinto starrte mich mit großen Augen an. Ich hatte dem Schurken nicht erklärt, auf welche Weise Stacey und ich uns inzwischen miteinander unterhielten. Das raubte ihm einen Augenblick lang seine übliche sarkastische Maske.
„Oh, Süßer, warum rufst du mich per Amulett an? Ist etwas passiert?“
„Nein, mir war nur gerade danach. Hör mal, mein Zuckerpüppchen, kann ich bitte kurz mit Kreel sprechen? Ich habe kein Amulett für ihn, und E-Mails dauern zu lange.“
„Häschen, ich glaube, momentan kann er mit niemandem sprechen. Er ist ziemlich beschäftigt“, erwiderte Anastaria bissig. „Aber ich richte ihm gern etwas aus.“
Das leichte Erstaunen in Anastarias Stimme konnte man nur wahrnehmen, wenn man sie sehr gut kannte. Es war minimal, doch mein geübtes Ohr hörte nur zu deutlich die Frage heraus: „Wie zum Teufel hast du herausgefunden, dass ich bei Kreel bin?“ Natürlich würde die Frau sich niemals gestatten, eine Schwäche zu zeigen. Daher hatte sie ihre Überraschung gleich hinter Sarkasmus versteckt.
„Sag ihm, er soll mich zurückrufen, sobald er Gelegenheit dazu hat. Du kannst ihm erklären, ich hätte ihm per E-Mail ein Angebot geschickt, das er unmöglich ablehnen kann. Das war es für den Augenblick, mein kleiner Waggon – Küsschen! Lass dich nicht vom Boss umbringen!“
Plinto starrte mich spöttisch an, nachdem ich aufgelegt hatte. „Du bist wirklich hinterhältig! Warum versetzt du das arme Mädchen denn in eine solche Panik? Jetzt stellt sie sich doch vor, du hättest einen Spion entweder direkt bei Phönix, oder zumindest in Kreels Clan. Sie wird überlegen, wer sie verraten haben könnte, und am Ende jeden fünften Spieler verdächtigen, dem sie begegnet. Ha! Bestimmt steht sie jetzt da und grübelt darüber nach, wem sie etwas von diesem Dungeon gesagt hat.“
„Na und? Das wird ihr guttun.“ Ich grinste. „Übrigens, besteht irgendeine Gefahr, dass sie dich als Urheber vermutet? Ich habe dein kleines Geheimnis jetzt nicht verraten, oder?“
„Phönix hat mich schon mehrfach genau unter die Lupe genommen. Ich sagte dir doch – du bist der Einzige, der darüber Bescheid weiß, dass ich auch Meister im Aufspüren bin. Anastaria weiß, dass ich Bildhauer bin. Um genau zu sein, war sie sogar diejenige, die mir den Ausbau dieses Berufs vorgeschlagen hat. Aber über das Aufspüren weiß sie nicht Bescheid.“
„Sie hat deine Skulpturen gesehen?“, fragte ich erstaunt.
„Nein, sie kennt nur meinen Beruf als Bildhauer. Von allem anderen hat sie keine Ahnung. Wir haben damals gemeinsam im Spiel angefangen. Und wenn du als Schurke ganz am Anfang stehst, ist die Bildhauerei perfekt, um deine Beweglichkeit zu verbessern. Deshalb hatte Stacey mir empfohlen, Bildhauer zu werden. Sie weiß nicht, dass ich diesen Beruf niemals aufgegeben habe - auch nicht, als meine Beweglichkeit längst ein ausreichend hohes Level erreicht hatte. Wusstest du übrigens, dass die Eigenschaft, ein Handwerker zu sein, keineswegs nur eine rein kreative ist? Du solltest dir von einem der obersten Schamanen einmal erklären lassen, wie du dein Handwerk in einer Schlacht einsetzt. Ich verwette mein rechtes Auge – das Ergebnis wird dir gefallen!“
Ich wollte Plinto gerade näher zu diesem Punkt aushorchen, als sich mein Amulett meldete.
„Mahan, hier ist Kreel. Ich habe deine E-Mail gelesen. Was soll ich sagen? Willkommen in unserer Raid-Gruppe. Für heute sind wir allerdings fertig. Wir machen morgen weiter. Du musst also gleich morgen früh online sein. Es sind nur noch zwei Bosse übrig. Wenn du willst, kannst du dich uns gern für diese beiden oder auch nur für den letzten anschließen – mir ist das gleich. Aber fehlt es dir momentan nicht ein wenig an Kräften?“
„Deshalb komme ich ja nicht allein. Ich bringe Plinto mit – einen weiteren Waggon für deinen Zug.“
„Plinto hattest du vorher nie erwähnt, aber ich sehe da keine Probleme. Soll er ruhig mitkommen. Er muss allerdings die fünf Millionen bezahlen.“
„Ich kann dir stattdessen einen Austausch anbieten. Wir stehen kurz davor, einen bisher noch jungfräulichen Dungeon zu raiden. Ich könnte dich in unsere Gruppe einladen, damit du dir eine weitere Erste Tötung sichern kannst. Im Gegenzug nimmst du jetzt Plinto mit. Ich glaube, diese Lösung ist für alle vorteilhaft.“
„Okay. Schick mir ein Amulett, damit ich dich erreichen kann.“
„Wird erledigt“, erwiderte ich, öffnete meine Mailbox und sandte es Kreel.
„Also, wir sehen uns morgen. Ach ja – Anastaria will noch mit dir reden. Ich gebe ihr mal das Telefon... ähm, Amulett...“
„Die Antwort ist nein“, erklärte ich, bevor sie etwas sagen konnte. „Ich nehme dich nicht mit in den anderen Dungeon!“
„Aber, mein Liebling, du hast doch mein Angebot noch gar nicht gehört!“, flötete sie. Im Hintergrund hörte ich Kreel lachen. „Willst du etwa nicht Renox‘ Leben retten? Ich kann dir sagen, wie du das anstellen musst.“