Kapitel 5: Der Ergreis
„Willkommen im Hoheitsgebiet von Astrum, Graf“, begrüßte ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann im Anzug mich. „Sie dürfen dieses Gebäude erst nach Ihrer Registrierung auf diesem Kontinent verlassen. Bei dieser Gelegenheit werden Sie auch mehr über seine Kultur, Besonderheiten und Einschränkungen erfahren. Anschließend müssen Sie über das Gelernte einen kleinen Test absolvieren. Erst wenn Sie diesen Test über unsere Kultur bestanden haben, dürfen Sie sich länger als eine Woche in Astrum aufhalten. Im anderen Fall wird man Sie nach Ablauf der sieben Tage sofort deportieren, und es ist Ihnen für die Dauer von sechs Monaten verboten, Astrum erneut zu betreten. Bitte zeigen Sie Verständnis und beachten Sie: Ich habe mir diese Regelung nicht ausgedacht.“
Vor mir erschien die Aufforderung, den Zweck meines Besuchs anzugeben. War ich ein Gast oder ein Tourist? Die mir von dem Diplomaten genannte Aufenthaltsdauer von sieben Tagen wurde in Klammern hinter der Option des „Gastes” angegeben. Für die andere Option gab es keine zeitliche Beschränkung.
Verwirrt starrte ich auf die beiden Schalter. Einerseits wollte ich lediglich die Spieler abholen und mich gleich wieder auf den Rückweg machen. Andererseits hatte ich in meinem Beutel zwei Einladungen zur Burg des hiesigen Imperators, und an diesem Ort wollte ich eine ganze Weile verbringen.
„Momentan habe ich nicht die Zeit für einen Test“, beschloss ich am Ende und klickte auf die Gast-Option. „Aber ich werde bald zurückkommen und dann sehr gern die Kultur von Astrum eingehend studieren. Sagen Sie mir doch bitte eines – wenn ich lediglich ein paar Freie Bürger von Astrum abholen und zu meinem Kontinent Kalragon bringen möchte, müssen die dann ebenfalls Unterricht in der dortigen Kultur nehmen?“
„Auf jeden Fall! Von jedem Reisenden wird erwartet, dass er sich mit der Kultur des Kontinents vertraut macht, den er besucht. Das ist eine Sache der Höflichkeit gegenüber den jeweiligen einheimischen empfindungsfähigen Wesen. Sonst könnte schließlich jemand kommen, der die Höhlen unserer Gnome besichtigt und auf einmal Löcher in die Decke bohrt, nur damit Sonnenlicht hineinfällt. Das wäre kulturell äußerst insensibel.“
„Aber es werden keine Strafen verhängt, solange sie weniger als sieben Tage auf unserem Kontinent verbringen?“
„Drei Tage“, korrigierte der Diplomat mich. „Lediglich Aristokraten wird eine Frist von sieben Tagen gewährt. Bei Adeligen bezweifelt niemand den Grad ihrer Bildung. Gewöhnliche Leute dürfen lediglich drei Tage auf dem anderen Kontinent verbringen. Während dieser drei Tage wird überprüft, ob sie das Training absolvieren müssen oder nicht. Für diesen Erstaufenthalt von wenigen Tagen ist lediglich eine vorläufige Registrierung erforderlich. Weitere Beschränkungen gibt es nicht.“
„Ich danke Ihnen für diese Erklärung.“ Ich war dem NPC tatsächlich aufrichtig dankbar. Wie auch immer man es betrachtete – ich betrat jetzt zum ersten Mal einen fremden Kontinent und hatte viel zu lernen. Nach Abschluss des denkbar einfachen Registrierungsverfahrens öffnete ich die Tür der Botschaft und betrat den benachbarten Kontinent.
„Hallo!“, erklang Kalateas Stimme direkt neben mir. „Wir sind alle bereit. Du kannst sofort mit dem Transport der Leute beginnen. Lediglich Antsinthepantsa und ich haben Sprachpakete installiert, also müssen wir dolmetschen. Obwohl, warte... mein Tank spricht die Sprache des Dunklen Imperiums, Kartoos.“
„Kartoss“, korrigierte ich die Schamanin. „Wie kommt denn das?“
„Das hat zwei Gründe“, antwortete ein kräftiger Mann in einer hübschen, goldenen Rüstung, ein Krieger auf Level 288. „Zum einen verfolge ich aufmerksam die Spielmechanismen. Beim letzten Update hat sich, was das Axtwerfen betrifft, einiges geändert, und ich musste eine Prüfung in Kartoss absolvieren. In dem Zusammenhang habe ich mich häufig und lange mit den dortigen Kriegern unterhalten – also musste ich ihre Sprache lernen. Leraz galvart, Kalatea-kun? “ Ich vermutete, die letzte Frage war an Kalatea gerichtet, nicht an mich.
„Bjorg fragt, ob du ihn verstehen kannst.“
„Oh, ja, ich verstehe ihn sehr gut“, erwiderte ich in Kartossianisch. Plötzlich fiel mir etwas ein. „Ist Bjorg nicht eigentlich ein Frauenname?“
„Das ist der zweite Grund.“ Der Krieger grinste. „Ich spiele erst seit etwa fünf Jahren in Astrum. Vorher war ich in Kalragon. Ich war schon immer ein großer Fan der nordischen Mythologie. Aus diesem Grund wollte ich meinem Avatar einen mächtig klingenden Namen geben – Bjorg. Erst später habe ich herausgefunden, dass es gar kein Männername ist. Ich meine, Bjork, mit einem ‚k‘ am Ende ist ein Frauenname, aber das ändert nicht viel. Das ist mir aber egal – mir gefällt der Name noch immer.“
„Ich wusste immer, dass die besten Krieger auf unserem Kontinent zu finden sind“, lächelte ich und reichte Bjorg die Hand. „Willkommen in unserer Raid-Gruppe, Krieger!“
„Du darfst mich gern Valentin nennen, oder abgekürzt Val. Das wäre mir sogar lieber.“
„Abgemacht. Ich heiße Daniel, oder Dan. Aber jetzt sollten wir unsere Unterhaltung beenden – Kalatea fürchtet bestimmt bereits, ich wollte dich abwerben!“
„Wenn ich ernsthaft diesen Verdacht hätte“, die Schamanin grinste und bewies mir damit, dass auch sie Kartossianisch sprach, „würdest du dich längst in deinem Kokon befinden, wo du die nächsten zwölf Stunden auf den Respawn warten musst. Ich habe dir doch schon gesagt, Mahan – mein Orden rekrutiert nur die allerbesten Spieler.“
„Schamanen...“
„Nicht nur. Bei uns ist ein Tank Mitglied – Bjorg –, und außerdem haben wir diverse Magier für die Aktivierung der Portale, und außerdem Druiden, Paladine... Im Orden des Drachens sind alle Klassen willkommen. Bist du bereit, mit dem Transport der Leute zu beginnen?“
„Klar. Wer ist als Erstes an der Reihe?“
„Bjorg, Antsinthepantsa und drei Elementalisten-Schamanen. Sie haben den Auftrag, das Ausspähen zu...“
„Moment – Element-was-Schamanen?“, unterbrach ich Kalatea. Von solchen Schamanen hatte ich bisher noch nie etwas gehört.
„Elementalisten-Schamanen sind solche, denen statt eines Totems ein Elementwesen zugewiesen wurde.“
„Elementwesen sind doch diese enormen Konzentrationen aus Feuer oder Erde oder Wasser, richtig?“
„Oder Luft, korrekt. Du hast Level 100 längst überschritten – hast du denn noch keinen Zugang zu ihnen?“
„Ähm... Wahrscheinlich schon, aber meine Kräfte wurden für eine gewisse Zeit vom System blockiert. In ein paar Tagen werde ich sie endlich zurückbekommen. Dann lerne ich bestimmt auch mehr über die Elementwesen und welchen Wein man am besten dazu trinkt. Könnten Sie mir vielleicht schon einmal das eine oder andere über diese Wesen verraten? Einfach nur als freundschaftlicher Austausch?“
„Ein freundschaftlicher Austausch?“ Kalatea hob die Augenbrauen. „Die Legenden von Barliona bieten dem Orden des Drachens also eine Zusammenarbeit an?“
„Ähm... jaaa...“ Mir war nicht ganz klar, worauf Kalatea hinauswollte.
„Ich nehme dein Angebot im Namen des Drachenordens an“, erklärte Kalatea sehr förmlich, und sofort erschien eine Meldung:
Die Legenden von Barliona und der Orden des Drachens sind jetzt Verbündete.
Bitte bestätige.
„So einfach ist das?“, fragte ich ungläubig, zögerte aber noch, sofort auf den Schalter zu drücken. „Wir sind Verbündete, ohne dass wir über die Bedingungen des Bündnisses gesprochen haben?“
Das ging mir zu schnell. Überhaupt ging alles viel zu schnell. Man musste wahrlich kein Genie sein, um zu vermuten, dass Kalatea aus irgendeinem Grund sehr an diesem Zusammenschluss gelegen war. In der letzten Zeit reagierte ich jedoch immer mehr allergisch darauf, wenn Leute etwas von mir wollten.
„Hast du irgendwelche Probleme damit?“ Kalateas Augenbrauen wanderten noch höher.
„Eine Menge Probleme, um ehrlich zu sein“, erwiderte ich und drückte den Schalter „Ablehnen“. „Bei allem Respekt Ihrem Orden gegenüber – ich kenne mich mit den Regeln für ein solches Bündnis nicht aus und habe keine Ahnung, welche Pflichten ich damit eingehe. Da will ich für meinen Clan nichts riskieren. Womöglich muss ich am Ende die Hälfte der täglichen Beute an den Bündnispartner übertragen oder so etwas, weil ich derjenige bin, der um diese Zusammenarbeit gebeten hat.“
„Es ist also tatsächlich so, wie man es mir berichtet hat – du hast das Vertrauen in andere Menschen verloren. Vollständig. Ich akzeptiere deine Entscheidung und bin bereit, dir erneut eine Allianz anzubieten, sobald du deine derzeitigen Probleme gelöst hast. Lass es mich wiederholen – der Orden arbeitet nur mit den besten Leuten zusammen, und du bist einer davon.“
„Okay, sprechen wir später noch einmal darüber.“ Ich nickte und wandte mich an den Krieger. „Bist du bereit, Valentin?“
„Na klar“, lächelte Bjorg. „Aber kannst du mir noch rasch verraten, mit welcher Art von Mobs wir es zu tun haben?“
„Nichts, das sich für einen Krieger von deinem Level als zu kompliziert erweisen sollte. Wölfe, Füchse, Hasen und Igel – alle höchstens auf Level 150. Das einzige Problem ist, dass du sie nicht umbringen kannst. Dafür brauchen wir Leute von meinem Kontinent.“
„Was meinst du damit?“
„Bei uns auf dem Kontinent gibt es dieses, ähm, Ding, das ‚Schatten‘ genannt wird. Momentan können Spieler von einem anderen Kontinent Kreaturen nicht umbringen, die unter seinem Einfluss stehen. Wir haben es so satt, mit dem Zeug umzugehen, dass ich es nicht einmal richtig erklären kann, was diese Schatten eigentlich sind.“
„Ist es das, wovon im zweiten Film über ein Szenario auf deinem Kontinent die Rede ist?“ Kalatea hatte es sofort kapiert.
„Genau das, ja.“
„Ich glaube nicht, dass wir damit ein Problem haben – wir haben doch Antsinthepantsa, und sie hat ihre Klasse upgedatet, bevor sie sich nach Astrum begeben hat. Sie ist Teil der ersten Gruppe.“
„In Ordnung. Dann brechen wir am besten gleich auf. Wir haben nicht viel Zeit.“
„Wieso denn nicht? Drei Tage sollten doch gut ausreichen, einen Dungeon abzuschließen!“
„Ich an Ihrer Stelle wäre mir da nicht so sicher, dass wir tatsächlich drei Tage zur Verfügung haben“, erwiderte ich. „Die Programmierer, die für unseren Kontinent zuständig sind, verhalten sich momentan unvorhersehbar. Was höchst ärgerlich ist, das dürfen Sie mir gern glauben!“
Die Burg Altameda ist ein Level aufgestiegen! Derzeitiges Level: 26
Das Level eines Berufs hat sich verbessert: „Architekt Level 3“
-15 % für die Kosten des Neuaufbaus zerstörter Gebäude.
Aha – Plintos Skulpturen befanden sich jetzt also am richtigen Ort. Ich war mir sicher, Viltrius rannte gerade geschäftig in der Burg umher, um die unerwarteten Neuerwerbungen von Staub und Schmutz zu befreien. Und warum auch nicht? Das Prestige eines Haushofmeisters einer Burg auf Level 26 überstieg schließlich das einer Ruine auf Level 25. Diese dummen NPCs!
„Hallo, mein Schätzeleinchen!“, meldete sich Anastaria in meinem Kopf. „Ich bin erstaunt! Woher hast du denn das Geld für die Verbesserung der Burg? Unterschlägst du noch immer Gelder aus der Clan-Kasse?“
„Ein Freund von mir hat mir einmal erklärt, es sei unhöflich, Damen mit Schimpfworten zu belegen. Daher schlage ich vor, du unternimmst einen Spaziergang an einem dir bekannten Ort“, entgegnete ich, ohne jedes Bedürfnis, mich über Staceys Sticheleien aufzuregen.
„Wie kann ich das denn, wenn du mich doch nicht mitnehmen willst?“
„Ich habe dir schon gesagt, meine Süße – wenn du uns in diesen anderen Dungeon begleiten willst, musst du mir alles zurückgeben, das du mir innerhalb der ersten halben Stunde nach deiner Rückkehr zu Phönix aus dem Beutel geklaut hast. Wenn du dazu nicht bereit bist... Nun, ich habe dir ja bereits gesagt, wohin du dich dann begeben kannst.“
„Ich stelle fest, unsere ‚Dates‘ waren nicht vergebens“, bemerkte sie befriedigt. „Wir können jetzt beide sagen, was wir wollen, ohne drumherum zu reden... Allerdings muss ich dein Angebot ablehnen. Das Auge brauche ich selbst, und die Krastils kann ich unmöglich zurückgeben, solange ich nicht weiß, wofür sie gut sind.“
„Wozu brauchst du denn das Auge?“, erkundigte ich mich überrascht. „Du hast doch bereits Zugang zum Grab des Schöpfers!“
„Ich will die erste Tötung, Kindchen! Oder hast du etwa tatsächlich geglaubt, die würde ich dir überlassen?“
„Okay, wenn du sonst nichts zu sagen hast, geh mir doch bitte nicht weiter auf die Nerven.“ Ich entschied mich gegen eine Aggro als Reaktion auf Anastarias Trolling und beschloss, die Unterhaltung zu beenden.
„Okay, also bis bald. Und vergiss nicht – morgen haben wir ein weiteres Date! Unsere Familie muss schließlich stark und verbunden bleiben. Ich erwarte dich um zwölf Uhr im Goldenen Hufeisen. Küsschen!“
So gern ich diese... Frau... auch mit ein paar höchst ausgesuchten Worten belegt hätte – ich hielt mich zurück. Ich hatte eine Aufgabe – in den beiden Dungeons zwei Gegenstände finden, mir ein Krastil und die Tränen von Harrashess unter den Nagel reißen, zwei davon Anastaria und Höllenfeuer unterjubeln und sie aktivieren. Natürlich wäre es eine nette Sache, wenn ich unterwegs auch noch die Hauptburg von Phönix in die Luft jagen könnte, aber das hing von den Umständen ab. Bei dieser Sachlage durfte ich mich von dieser... Kreatur... nicht aus der Ruhe bringen lassen. Das war sie nicht wert.
„Der letzte Teil der Raid-Gruppe steht bereit. Wir können sie holen, sobald deine Abklingzeit abgelaufen ist.“ Geräuschvoll ließ sich Bjorg neben mir auf den Boden fallen. „Mann, ihr habt hier echt geile Mobs! Ich kann sie aber tatsächlich nicht töten. Übrigens, wir haben deine Fleita mal schnell auf Level 90 gebracht. Du hast doch nichts dagegen, oder?“
„Es ist nicht meine Fleita, aber danke. Ja, es ist schon komisch, dass du Schattenmobs nicht umbringen kannst. So einfach ist es also nicht, den Kontinent zu wechseln, was?“
„Nein, einfach ist das nicht. Man muss ein spezielles Training absolvieren. Als ich das letzte Mal nach Kalragon zurückgekehrt bin, hat das System mir befohlen, mich an den Mentor der Krieger zu wenden und eine Questreihe zu beginnen, die für ein Update meiner Klasse sorgt. Das ist alles ziemlich interessant, aber es kostet viel Zeit, und die hatte ich damals nicht. Das behindert mich jetzt, sonst könnte ich die Mobs vollständig vernichten.“
Ich nickte meine Zustimmung, brachte die restlichen Schamanen per Wimpernschlag zu unserem Kontinent, gründete eine Raid-Gruppe und machte mich selbst zu deren Anführer. Dann befahl ich allen, mit dem Erledigen der Mobs im Dungeon zu beginnen, damit wir keine Zeit verloren, und meldete mich bei Kreel. Es war mir übrigens erstaunlich leichtgefallen, Anastarias Angebot abzulehnen, das sie mir bei meinem letzten Gespräch mit Kreel gemacht hatte – ich hatte nicht vor, Renox zu retten. Die Programmierer hatten beschlossen, dass dieser NPC sterben musste. Unter den Umständen hatte es wenig Sinn, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Ich hätte einen Zahn darauf verwettet: Falls Anastaria tatsächlich über eine Quest zur Rettung von Renox verfügte, war diese undurchführbar.
„Ich grüße dich!“ Wie vereinbart war Kreel online, ich rief ihn also nicht vergebens an.
„Hallo Kreel, hier ist Mahan. Wir beginnen gerade unseren Raid im Dungeon. Willst du uns von Anfang an begleiten, oder soll ich dich erst für den letzten Boss rufen?“
„Glaubst du denn, ihr könnt den Dungeon so schnell abschließen?“, fragte der Titan erstaunt.
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht schaffen wir es in einer Nacht – oder wir brauchen mehrere Monate. Zwei Dungeons gleichzeitig abzuschließen habe ich bisher noch nie versucht, ich kenne mich also mit der Logistik nicht aus. Was ist, wenn wir etwas übersehen und uns dadurch unsere Chance vermasseln, auf den Boss zu treffen? Das gilt für dich übrigens ebenso wie für mich.“
„Da kann ich dir nur zustimmen – zwei Raids gleichzeitig, das ist ziemlich interessant. Machen wir es doch so – ihr erkämpft euch den Weg zum letzten Boss, und ich mir den zu meinem. Es steht zu hoffen, dass wir in meinem Dungeon vorher nur noch ein weiteres Monster erledigen müssen. Sobald das geschafft ist, rufe ich dich an und hole dich zu uns, und das Gleiche gilt umgekehrt für euch. So kommt es mir am effektivsten vor.“
„Kapiert. Viel Glück, Titan!“
„Pah... Werde bloß nicht dramatisch! Dir auch viel Glück, Schamane!“
Die Verbindung brach ab. Ich spielte eine Weile mit dem Amulett und warf es dann zurück in meinen Beutel, bevor ich ein anderes hervorholte. Es wurde Zeit, Plinto hierher zu holen.
„Warum gehst du eigentlich nicht selbst mit?“, wunderte sich der Schurke, nachdem ich ihn in die Raid-Gruppe eingeladen hatte.
„Ich hasse es, ein Waggon zu sein“, gab ich ehrlich zu. „Ich soll 15 Schamanen dabei zusehen, wie sie etwas Einzigartiges vollbringen, und kann nicht mitmachen, weil mir meine Fähigkeiten fehlen. Natürlich könnte ich ihnen zuschauen und lernen, wie andere die Schamanenklasse spielen, aber... Nun ja, es gibt immer eine Menge ‚Abers‘.“
„Wie du willst.“ Plinto grinste und holte sein berühmtes Besteck aus der Scheide. „Ich jedenfalls kann mir die Gelegenheit unmöglich entgehen lassen, meine Stilettos zu schwingen! Ich sollte den Programmierern mal vorschlagen, einen Hindernisparcours für Schurken zu entwerfen, den die Spieler abschließen müssen, ohne dabei auch nur eine einzige Fähigkeit ihrer Klasse einzusetzen. Sie dürfen nur ihre von Gott gegebenen Hände einsetzen. Es sind alle so sehr gewohnt, immer nur dieselben alten Fähigkeitskombinationen einzusetzen, die meisten haben glatt vergessen, dass Barliona kein prähistorisches Spiel mit streng vorgeschriebenen Mechanismen ist. In dem Spiel muss man kreativ sein!“
„Ähm...“, erwiderte ich.
„Ist schon gut – du hast kein Wort verstanden, richtig?“ Plinto feixte.
„Was soll ich denn verstehen?“
„Es ist mir strenggenommen verboten, dir das innerhalb des Spiels zu sagen. Ich habe sogar einen entsprechenden Vertrag mit dem Imperator geschlossen. Also wiederhole ich einfach, was ich bereits gesagt habe: Die Klassenfähigkeiten in bestimmten Kombinationen miteinander zu verbinden, ist in Barliona reine Gewohnheit – es ist nicht hartkodiert. Wenn du willst, dass etwas geschieht – eine Schlacht, die Erschaffung eines Gegenstands oder eines Schachspiels, jetzt speziell auf dich bezogen, oder was auch immer –, musst du kreativ sein. Du musst die Werkzeuge verwenden, die vorher noch nie jemand erwogen hat einzusetzen. Nur so kannst du in Barliona zu einem wahren Anführer werden. Nachdem du dich ja nicht der Raid-Gruppe anschließt, solltest du einmal darüber nachdenken.“
„Du redest gerade über das Handwerk?“, vermutete ich. Wahrscheinlich bezog sich das alles auf die von Plinto bereits erwähnte Tatsache, dass sich auch das Handwerk im Kampf als nützlich erweisen könnte. Allerdings war ich davon ausgegangen, dass es sich ausschließlich auf ihn beziehen würde. Ich hatte vermutet, dass sich die Bildhauerei mit ihren Meißeln auf die typischen Waffen eines Schurken auswirken würde, die Dolche. Anders als Plinto beschwor ich jedoch Geister und setzte keine Waffen im eigentlichen Sinn im Kampf ein. Obwohl ich im Design-Modus durchaus Dinge herstellte. Und ohne Gegenstände... Hmmm...
„Dein Stirnrunzeln verrät mir, dass dir eine Idee gekommen ist, über die du eingehend nachgrübeln möchtest“, stellte Plinto fest. „Da will ich dich mal nicht weiter stören. Du kannst mir später berichten, auf welchen Trichter du gekommen bist.“
Der Schurke verschwand hinter dem schimmernden Schleier, der den Eingang zum Dungeon verbarg, und ließ mich tief in Gedanken versunken zurück. Geister rufen und Handwerk – wie konnte ich diese beiden Dinge miteinander kombinieren, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten? Dem Handbuch zufolge beeinflusste das Handwerk alle Berufe, legte die Fähigkeit fest, die feineren Details eines Berufes zu erlernen, und erlaubte die Herstellung ungewöhnlicher Gegenstände. Es bestand zu einem gewissen Prozentsatz sogar die Wahrscheinlichkeit, selbstständig ein einzigartiges Rezept zu entdecken und zu lernen. Aber was hatte das alles mit den Geistern zu tun? Ich musste meine Trumpfkarte „Frage einen Freund“ einsetzen!
„Delra gantar derta est! Prakti verza!“, schallte Kalateas Stimme aus dem Amulett.
„Hi Kalatea, hier ist Mahan.“ Ich ignorierte den Schlachtenlärm im Hintergrund. „Haben Sie einen Augenblick Zeit?“
„Was glaubst denn du?“, brüllte die Schamanin.
„Es dauert nur eine Sekunde. Besteht zwischen Handwerk und Geisterbeschwörung irgendeine Verbindung?“
„Nein! Wenigstens habe ich es niemals so festgelegt oder ausprobiert. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge – die Eigenschaften, die sich auf das Handwerk beziehen, und die, die mit der Geisterbeschwörung zu tun haben.“
„Aha. Danke, das war es auch schon. Und, wie läuft es?“
„Überhaupt nicht!“, rief sie und fluchte laut in Astrumianisch. „Die Mobs im Dungeon sind alle auf Level 200. Das ist für uns ein Kinderspiel. Aber dass wir sie nicht wirklich umbringen können, das... Nun ja, das bringt uns um... Wir haben schon beinahe den ersten Boss erreicht, aber alle Erfahrungspunkte fließen Antsinthepantsa, Aozaki und deiner Schülerin zu.“
„Aozaki? Wer ist denn das?“
„Eine meiner Schamaninnen. Wie sich herausstellt, hat sie eine gewisse Zeit auf deinem Kontinent verbracht und das Fertigkeitstraining für das Update mitgemacht. Es gibt bei uns also noch jemanden, der Malabarisch spricht. Wie auch immer, sie hat mir erzählt, dass es sie ganze fünf Tage gekostet hat, ihre Fertigkeiten upzudaten. Fünf Tage! Das bedeutet, man wirft uns aus Kalragon hinaus, bevor wir den Dungeon abschließen können!“
Es klang mir ganz danach, als würde Kalatea die Beherrschung verlieren. So aufgeregt hatte ich die Schamanin vorher noch nie erlebt. Innerlich gratulierte ich mir dazu, dem Dungeon ferngeblieben zu sein. Bestimmt würden sonst gerade alle Spieler wütend auf mich losgehen.
„In dem Fall habe ich einen Vorschlag“, erklärte ich. „Unterbrecht den Kampf, registriert euch, absolviert den Kulturunterricht, und in einer Woche treffen wir uns wieder hier. Wir müssen den Dungeon nicht heute abschließen. Wenn das erst in einer Woche möglich ist, dann ist es eben so.“
„Varga est!“, befahl Kalatea ihrer Raid-Gruppe und sprach anschließend weiter: „Einverstanden. Kannst du unseren Transport nach Anhurs organisieren?“
„Solange ihr euch irgendwo auf diesem Kontinent bewegt, ist der Transport kein Problem. Das Portal von Altameda steht euch jederzeit zur Verfügung.“
„Wirst du uns auch die Burg zeigen?“, fragte sie sofort.
„Nicht die gesamte Burg“, lehnte ich ab, als ich an Plintos Skulpturen und seinen Wunsch dachte, sie geheim zu halten. „Etliche Bereiche stehen Gästen nicht offen. Aber im Rest dürft ihr euch gern frei bewegen.“
„Also gut. Alle mal herhören – wir verlassen den Dungeon. Es hat wenig Sinn, eine Erste Tötung anzustreben, wenn uns dafür keinerlei Erfahrungspunkte angerechnet werden. Varga est! Dalran!“
Die Schamanen zogen sich aus dem Schatten-Dungeon zurück, und ich rief Kreel an und schilderte ihm die Situation. Er versicherte mir, alle getroffenen Absprachen blieben bestehen. Anschließend meldete ich mich bei Viltrius und bat ihn, ein Portal zu aktivieren, das die gesamte Raid-Gruppe einschließlich Plinto und Bjorg nach Altameda brachte. Es war zwar bereits reichlich spät, doch keiner der Gäste vom Nachbarkontinent ließ sich die Besichtigung eines solch einzigartigen Ortes entgehen. Die Burg hatte schließlich in einem Film eine der Hauptrollen gespielt...
Erschöpft ließ ich mich auf meinen Schaukelstuhl fallen. „Viltrius, bitte führe unsere Gäste in Altameda herum und aktiviere für sie anschließend ein Portal nach Anhurs.“
Ich hatte für heute genug und keinerlei geistige oder physische Kraft mehr, die Gruppe zu begleiten. Die Gäste konnten in der Burg nichts anstellen. Es war unmöglich, die Koordinaten von Altameda herauszufinden oder aufzuzeichnen, es zu verlassen oder Plintos Statuen zu untersuchen. Das Einzige, das ihnen freistand, war, ein wenig herumzulaufen und sich alles anzuschauen.
„Was für eine wunderschöne Burg!“ Etwa eine halbe Stunde später war Kalatea zurück. Ich hatte die 30 Minuten im Kampf gegen meine überquellende Mailbox verbracht – und inzwischen war es bereits halb zwei Uhr nachts. Clanrekrutierungen, Geldforderungen, Drohungen, Fragen, Spam, Angebote von Quests, Fragen zur Spielmechanik – es war alles vorhanden. Ganz besonders amüsierte mich die E-Mail eines Spielers namens Sabantul: „Mahan, ich verfüge über eine Schatzkarte, die ich dir gern für 300.000 Goldstücke verkaufen möchte.“ Eine Weile lang starrte ich auf den Text. Einen so eklatanten Versuch, mir das Geld aus der Tasche zu ziehen, hatte ich bisher noch nicht erlebt. Ob es wohl Leute gab, die tatsächlich darauf hereinfielen? Ich wollte die Nachricht gerade in meinen Spam-Ordner schieben, als meine Hand sich plötzlich verkrampfte und stattdessen auf „Antworten“ klickte:
Hallo!
300.000 ist ein bisschen viel für eine Schatzkarte. Wie kommst du denn auf so einen Betrag? Ich zahle dir 10.000 für die Karte, und kein Goldstück mehr. Bitte beachte auch, dass ich die Karte nicht gesehen und keine Ahnung habe, woher du sie hast. Für 300.000 wirst du die Karte niemandem andrehen können – daher wird dies das beste Angebot sein, das du erzielen kannst.
Ich konnte es nicht erklären, warum ich diese Antwort schrieb, nur, dass ich das dumpfe Gefühl hatte, das Richtige zu tun. Also ignorierte ich meinen Verstand und gab dem Drängen nach. Schließlich war ich doch ein Schamane, oder etwa nicht?
„Mahan, ich denke immer noch über deine Frage zu Handwerk und Geistern nach“, erklärte Kalatea. „Aber ein Zusammenhang ist unwahrscheinlich.“
„Einerseits ja“, stimmte ich zu. „Andererseits, wer weiß schon so genau, was die Programmierer alles im Software-Code untergebracht haben? Soweit ich weiß, sind Sie diejenige, die die Anforderungen für die Schamanenklasse aufgestellt hat, und außerdem auch der hauptsächliche Tester der Software dafür. Nur was, wenn die Sache mit dem Handwerk nicht speziell an eine Klasse gebunden ist? Was, wenn es als Mechanismus über alle Klassen hinweg eingeführt wurde?“
„Das ist unmöglich! So etwas kann man nicht zwischen verschiedenen Klassen verteilen, ohne das Gleichgewicht zu stören. Was das betrifft, ist man in Barliona äußerst streng.“
„Verfügen Sie über ein Handwerk?“
„Das ist eine Frage, die man einem anderen Spieler nicht stellen sollte. Ich werde sie dennoch beantworten – nein. Ich verfüge nicht über ein Handwerk. Im Gegensatz zu Aozaki. Und nachdem sie äußerst neugierig und experimentierfreudig ist, hätte sie es bestimmt längst herausgefunden, wenn irgendein Zusammenhang bestünde.“
„Ich kann keine vernünftigen Argumente dafür oder dagegen vorbringen. Es... es ist nur eine Idee, die mir gekommen ist. Bisher habe ich insofern noch nichts ausprobiert. Wenn Sie es Aozaki gestatten, eine Weile hierzubleiben und mit mir an dieser Sache zu arbeiten, finden wir vielleicht etwas heraus. Oder zumindest könnten wir wenigstens nachweisen, dass zwischen den Geistern und dem Handwerk tatsächlich kein Zusammenhang besteht. Momentan hat es noch wenig Sinn, darüber zu diskutieren, was möglich ist und was nicht.“
„Die anderen Mitglieder des Ordens sind keine Sklaven. Wenn sie möchte, kann sie bleiben.“ Ich hörte aus Kalateas Stimme eine Spur Aggro heraus. Es drängte sich mir das Gefühl auf, dass sie mit Unterhaltungen solcher Art so ihre Schwierigkeiten hatte. Nun, sie konnte sich zum Teufel scheren! Ich hatte ohnehin wenig Lust, mich in ihrem Kopf näher umzuschauen.
„Dann sind wir uns also einig.“ Ich gähnte. „Bis morgen früh!“
Und... EXIT!
Der Deckel des Kokons glitt langsam beiseite und enthüllte dabei die Decke meines bescheidenen Zimmers. Ich konnte nicht mehr denken. Es war, als ob mein Gehirn sich für Wartungsarbeiten abgemeldet hätte. Also kletterte ich schwerfällig aus der Kapsel, bereitete mir ein schnelles Abendessen/Frühstück und ließ mich stöhnend aufs Bett fallen. Mein Kopf schmerzte, als wäre eine Herde Wildpferde hindurch galoppiert. Mehrfach. Ich dachte daran, welche enormen Unterschiede zwischen der für einen Langzeitaufenthalt bestimmten Kapsel für Sträflinge und meinem Billigmodell bestanden. Ich musste so schnell wie möglich zur modernsten Version upgraden. Verdammt! Mir fiel ein, dass ich diese Wohnung ja bald für lange Zeit verlassen musste, wenn nicht sogar für immer. Das war mir doch glatt entfallen. Ich konnte nur hoffen, dass Sergej mir eine Luxuskapsel besorgte. Sonst würde ich ihn umbringen, sehr langsam, und sehr brutal!
Mit diesem glücklichen Gedanken schlief ich ein.
* * *
Der nächste Morgen begann für mich um zehn vor elf, mit einem schrillen Alarmton meines Kokons. Ich hatte vor dem Einschlafen den Wecker für mein Date mit Anastaria gestellt, und die Kapsel erinnerte mich nun daran. Herzloses Stück Schrott! Meine Kopfschmerzen waren weniger schlimm als in der Nacht, waren als ein dumpfes Pochen im Hinterkopf jedoch konstant vorhanden. So etwas konnte ich jetzt nicht brauchen! Ich musste mir eine Auszeit von Barliona nehmen. Ich beschloss, mich mit Stacey zu treffen, Kreel anzurufen und mich danach gleich wieder abzumelden. Sollten die Schamanen sich doch selbst darum kümmern, ihr Visum für Kalragon zu beschaffen! Sollte Kreel den letzten Boss im Dungeon notfalls allein töten! Und sollte ganz Barliona zur Hölle fahren! Meine Gesundheit war mir wichtiger.
Hallo Wanderer!
Man hat dich bereits freigelassen? Prima! Wie wäre es, wenn wir den Abend gemeinsam verbringen? Bei mir? Dann können wir uns bei ein paar Bierchen gründlich ausquatschen. Ich bestelle dir einen Fahrer – du bist doch momentan arbeitslos und also knapp bei Kasse, oder? Er wird dich um sechs Uhr abends abholen. Sei pünktlich!
Ich hatte, bevor ich wieder in die Kapsel glitt, noch rasch meine realen E-Mails überprüft und zu meiner Überraschung diese Nachricht von Sergej vorgefunden. Er hatte alles bereits einen Tag früher erledigen können! In sieben Stunden war ich den seltsamen alten Mann und seine Henkersknechte los, und dann konnte ich meine Pläne verfolgen, ohne dass mein Leben bedroht wurde - durch ihn, oder durch Phönix und seine Mitglieder, die mich im realen Leben aufspürten. Von so viel Geld, zwei Milliarden, würde Ehkiller sich nicht trennen, ohne nicht vorher alle anderen Möglichkeiten erschöpft zu haben. Wenn ich er wäre, würde ich das Problem sehr direkt angehen...
Klingt gut! Ich werde auf den Fahrer warten!
„Du siehst viel zu fröhlich aus“, bemerkte Anastaria, nachdem ich mich ihr gegenüber auf einem Stuhl niedergelassen hatte. „Hast du dich endlich entschlossen, mich doch in deinen Dungeon mitzunehmen, und willst mir jetzt die freudige Nachricht überbringen?“
„Du hast fast richtig geraten.“ Provozieren ließ ich mich von ihr nicht! „Aber nur fast. Ich habe dir ja meine Bedingungen genannt – du bekommst nur dann Zugang zu diesem Schatten-Dungeon, wenn du...“
„Himmel, du kannst einem echt auf die Nerven gehen!“, fiel sie mir verärgert ins Wort. „Krastil, Krastil, Auge, Krastil. Pah!“
„Die haben heute ein besonderes Tagesgericht“, bemerkte ich. Nein, ich würde mich nicht mit Anastaria streiten. „Ich überlege die ganze Zeit, woran der Geschmack mich erinnert.“
„Grygz hat mir übrigens all seine Krastils verkauft“, erklärte Anastaria, als hätte ich nichts gesagt. Sie legte die Kugeln eine nach der anderen vor mir auf den Tisch. „Jetzt bin ich der einzige Spieler, der Krastils besitzt. Es hilft dir gar nichts – wir müssen irgendwie zu einer Einigung kommen.“
„Oh, nein! Was für ein Unglück! Wie soll ich diesen Todesstoß nur überleben?“, spottete ich, obwohl mir diese Nachricht innerlich einen gewaltigen Schock versetzte. Der Anführer der Piraten war also aus dem Spiel – jetzt gab es nur noch einen NPC, bei dem ich mir ein Krastil besorgen konnte: den Hochmagier von Anhurs. Die Frage war nur, wusste auch Anastaria darüber Bescheid? Und noch wichtiger war eine andere Frage – würde der Hochmagier mir sein Krastil überlassen? Ich musste ihn in die Zange nehmen und gleich von zwei Seiten bearbeiten, einmal selbst und dann über den alten Mann und seine Programmierer. Auch wenn ich Letzterem plante, sehr bald zu entwischen – ich musste den Hochmagier dazu überreden, sein Krastil mir zu geben, und zwar ausschließlich mir.
„Ich werde schon ein weiteres finden.“ Mir fiel auf, dass Anastaria mich scharf beobachtete. Anscheinend hoffte sie, meine Reaktion würde ihr verraten, ob ich bluffte oder nicht. „Außerdem gibt es in Barliona weit mehr zu entdecken als Krastils.“
„Das stimmt allerdings. Hast du schon die neuesten Nachrichten über die Armard-Kampagne gehört?“ Im jähen Themenwechsel war Anastaria ja schon immer gut gewesen.
„Ähm... Nein... Warum? Was ist denn passiert?“
„Es gibt in Malabar einen kleinen Clan, der sich ‚Verwüstung‘ nennt. Sein Anführer ist ein Magier namens Musubi. Im Wesentlichen ist das ein Clan für Raids. Wer keinen Spaß an Raids hat, bleibt bei denen nicht lange. Auf eine mysteriöse Weise ist es diesem Clan gelungen, in die Stadt Armard vorzudringen und sich dort in einem Keller zu verschanzen.“
„Das ist ja klasse! Aber warum erzählst du mir das?“
„Lass mich doch einfach ausreden! Die Mobs von Armard haben sich mit den Leuten gar nicht erst abgegeben, sie haben einfach den Keller abgesperrt. Warum sollten sie auch etwas riskieren? Diese Imitatoren sind schlau, das kann ich dir sagen! Teleportations-Schriftrollen funktionieren in Armard nicht, und der Clan saß fest und konnte nicht entkommen. Es wurde versucht, sie durch Magier nach Anhurs zu holen, doch auch das hat nicht geklappt. Die Situation schien hoffnungslos. Den Clanmitgliedern blieben nur zwei Möglichkeiten – abzuwarten, bis der Schalter ‚Spieler steckt fest‘ erschien, oder in der Hoffnung auf einen Respawn immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.“
„Ich ahne eine dritte Option kommen...“
„Natürlich! Dem Clan war klar, dass sie die Kosten von Ausrüstung, Kräutern und Zaubersprüchen nur durch ihr bisschen Beute nicht wieder hereinholen konnten. Daraufhin beschloss Musubi, sich in die Realität abzumelden. Anschließend verkaufte er die Teleportation ins Zentrum der Stadt Armard in den Foren - für teures Geld. In seiner Raid-Gruppe waren mehrere Magier. Die konnten ohne Weiteres...“
„Warte mal – du hast doch gesagt, die Teleportation funktioniert in Armard nicht!“
„Das stimmt nicht ganz. Schriftrollen funktionieren nicht. Damit kann man sich nicht an irgendeinen Ort im Schattenimperium teleportieren. Ebenso kann man, wie sich herausgestellt hat, einen Spieler nicht mithilfe von Magiern aus Armard wieder zurückholen. Aber es ist möglich, dass Magier in Armard Leute mithilfe eines Portals in die Stadt hinein teleportieren. Etamzilat und Undigit haben sich für Musubis Angebot interessiert und beschlossen, ihre Raid-Gruppen nach Armard zu schicken. Das Achievement der ‚Stadteroberung‘ hat ihnen das Hirn vernebelt. Sie wollten die Ersten sein, die den Befehl des Imperators erfüllen. Sie haben dem Magier eine Menge Geld gezahlt, und 50 der besten Spieler aus jedem der beiden Clans haben sich in den abgeriegelten Keller teleportieren lassen. Zuerst fiel ihnen nicht auf, dass es keinen Ausweg gab, weil sich alle auf die scheinbar bevorstehende Schlacht vorbereitet haben. Doch als immer mehr Spieler eintrafen und es sich herausstellte, dass es keinen Weg hinaus gab...“
„Haben Etamzilat und Undigit Musubi gezwungen, ihnen das gezahlte Geld zu erstatten?“ Es entlockte mir unwillkürlich ein Grinsen, als ich mir den Gesichtsausdruck der beiden Clan-Anführer vorstellte.
„Das haben sie versucht, aber Musubi hat sich standhaft geweigert. Er hat behauptet, er hätte die Spieler der Clans wie vereinbart zur Stadtmitte von Armard gebracht und damit seine Verpflichtung erfüllt. Als er das hörte, hat Undigit einen entscheidenden Fehler gemacht.“
„Er hat den Wächter gerufen“, riet ich.
„Genau! Er hatte den Vertrag mit Musubi in Barliona unterschrieben und beschloss, sich auf die strengste Auslegung der Spielregeln zu berufen. Wahrscheinlich hat er gehofft, dabei auch noch einen Profit einstecken zu können.“
„Und dann erschien der Wächter“, drängte ich Anastaria, ihren Bericht fortzusetzen. „Es fand ein Verfahren statt. Soweit ich das verstehe, gibt es in Armard nach dem Update ja nur einen einzigen Wächter.“
„Genau. Geranika tauchte auf und war höchst verwundert, so viele Spieler in einem seiner Keller vorzufinden. Er verkündete, er müsse diese ungeheuerliche Angelegenheit gründlich untersuchen. Anscheinend hatte ihm das vorher noch niemand gemeldet. Anschließend wurde das Verfahren durchgeführt. Geranika entschied zugunsten von Musubi, der sich ja tatsächlich an die getroffene Vereinbarung gehalten hatte. Anschließend versetzte er die gesamte Raid-Gruppe des Clans der Verwüstung an einen Ort außerhalb von Armard, damit die sich in alles Weitere nicht mehr einmischen konnte. Er hat ihnen sogar ein paar Gegenstände als Belohnung für ihr ‚nettes Geschenk‘ überlassen. Keiner weiß, was dabei genau für Musubi herausgesprungen ist, aber seit drei Tagen hat ihn niemand mehr online gesehen. Doch das ist nicht so wichtig – kommen wir zurück zum Keller. Wo sich Geranika mit 100 hochleveligen Spielern einmal gründlich unterhalten hat.“
„Es gibt also, mit anderen Worten, in Armard einen Keller, der nicht nur voller Spieler, sondern auch voller Legendärer Gegenstände steckt?“
„Nicht ganz. Sicher weiß ich das alles nicht. Keinepanik will mir das Video nicht zeigen, und ohne Beweise glaube ich gar nichts. Allerdings besagen Gerüchte, Geranika würde über eine Macht verfügen, die der des ‚Vorübergehenden Rostens‘ ähnlich ist. Das ist ein höchst unangenehmer Bannspruch, der eine Art Nebel hervorruft. Alle Gegenstände, die dieser Nebel berührt, verlieren nach und nach ihre Haltbarkeit, bis sie völlig zerstört sind. Der Debuff lässt sich ganz leicht wieder entfernen – man braucht nur gewöhnliches Wasser. Allerdings muss man das Objekt zuerst einmal aus dem Nebel entfernen, sonst wird der Debuff gleich erneut verhängt.“
„Und wir haben es hier mit einem hermetisch abgeriegelten Keller vollgestopft mit Spielern zu tun, die sich kaum bewegen können“, murmelte ich. Auf einmal kam mir der Verlust, der Undigit und Etamzilat bevorstand, nicht mehr lustig vor. Sich von Ausrüstung trennen zu müssen, die man extra für einen Raid angelegt hatte, das war in der Tat ein herber Schlag.
„Der Debuff hält zehn Minuten an“, fuhr Anastaria fort. „Mit jeder Minute gehen zehn Prozent Haltbarkeit verloren. Und wirkt selbst an den Gegenständen, die man in seinem Beutel hat. Was glaubst du – wie haben die Spieler es am Ende hinaus geschafft?“
„Sie konnten entkommen?“, fragte ich erstaunt.
„Natürlich! Schließlich war doch Keinepanik mit in der Gruppe, und er würde es sich nie gefallen lassen, alles zu verlieren, wofür er so hart gearbeitet hat. Also hat er einen Fluchtplan entwickelt. Ich bin gespannt, ob du erraten kannst, was er sich ausgedacht hat.“
„Im Keller befanden sich noch immer zwei unterschiedliche Raid-Gruppen, richtig?“ Mir war sofort eine Idee gekommen. „Am einfachsten ist es, wenn beide die jeweils andere Gruppe umbringen. Ich weiß ja nicht, wie dieser Rost genau funktioniert, aber nach dem Respawn sind auf jeden Fall alle Debuffs verschwunden. Natürlich bedeutet das, am Ende muss einer überleben und im Keller zurückbleiben...“
„1a, Mahan“, lächelte Anastaria. „Du kriegst einen Donut als Bonus! Was für ein intelligenter, kleiner Schatz du doch bist. Also, man hat ausgelost, welcher Spieler zurückbleiben und damit alles verlieren würde, und anschließend damit begonnen, sich gegenseitig umzubringen. Geranika konnten die Spieler übrigens auch mit vereinten Kräften nichts anhaben. Nun liegen die Erben der Titanen und die Azurdrachen mit dem Clan der Verwüstung im Krieg. Undigit hat versprochen, jedem 1.000 Goldstücke zu zahlen, der einen Spieler des Clans umbringt. Tja, so sieht es aus...“
„Hmmm... merkwürdig. Für so dumm hätte ich Undigit nicht gehalten!“
„Kannst du mir bitte mal erklären, was du damit meinst?“
„1.000 Goldstücke für einen Kill, der nichts anderes erreicht, als einen Spieler für zwölf Stunden aus dem Spiel zu entfernen. Ich würde nach Erreichen des nächsten Levels – damit ich keine Erfahrungspunkte verliere – einen Vertrag mit einem anderen Spieler abschließen, der mich immer wieder umbringt. Anschließend melde ich mich monatelang nur dazu im Spiel an, beim Respawn zu landen. Zweimal am Tag in einem 12-Stunden-Intervall. Und bringe vorher all mein Inventar in Sicherheit. Das bedeutet 60.000 Goldstücke im Monat, und das Geld könnten wir beide Spieler uns teilen, ohne viel dafür tun zu müssen.“
Anastaria lachte laut. „Mahan, du bist ein echtes Wunder! Die Anführer der großen Clans sind es so sehr gewohnt, mit Millionen um sich zu werfen, dass ihnen die 60.000 wie ein Tropfen auf dem heißen Stein vorkämen. Obwohl auch ein Tropfen für den richtigen Spieler ein ganzer Ozean sein kann. Ich werde gleich meinem Vater von deiner Idee berichten. Vielleicht können wir mit jemandem von der Verwüstung zu einer Vereinbarung kommen... Hör mal, ich muss los. Unser familiäres Treffen haben wir ja einstweilen wieder einmal hinter uns. Aber ich wollte dich noch fragen, ob du mit mir zu einem Ball gehst?“
Die unerwartete Frage ließ meine Augenbrauen in die Höhe schnellen. „Wohin bitte soll ich mit dir gehen?“
„Zu einem Ball. Ich habe eine Einladung zu einer Veranstaltung in der Provinz Shaldan, für heute in vier Tagen. Wenn man eine bessere Hälfte hat, muss man zum Ball seinen Partner mitbringen, und genau betrachtet bist du ja immer noch meine bessere Hälfte. Man hat mir verraten, dass der Gouverneur nach dem Ball gern mit mir – und meinem Begleiter – sprechen möchte. Dein Clan kann die gesteigerte Reputation bei einer weiteren Provinz doch sicher gut gebrauchen, oder?“
Hmmm... Reputation des Clans bei der Provinz Shaldan. Brauchte ich das? Himmel, ich war mir ja noch immer nicht sicher, ob ich den Clan selbst brauchte, geschweige denn so etwas! Nun gut, ich hatte mich anscheinend dazu entschlossen, den Clan einstweilen weiterzuführen, und sogar vertraglich eine Firma damit beauftragt, neue Mitglieder einzustellen, aber mehr hatte ich für den Clan bislang nicht getan. Und mit dummen Ausreden für meine Untätigkeit durfte ich mir selbst nicht kommen, so von wegen, ich hätte keine Zeit oder so etwas. Wenn ich es gewollt hätte, wäre es kein Problem gewesen, die Zeit dafür zu finden, den Clan voranzubringen. Ja, ich musste in dieser Richtung etwas unternehmen, und zwar so bald wie möglich. Entweder musste ich an der Entwicklung des Clans arbeiten, sein wahrer Anführer werden, oder es gab die Legenden von Barliona bald nicht mehr. Das war jetzt höchst vereinfacht formuliert, aber es war eine Schlussfolgerung, die sich mir aufdrängte.
„Dan, ich muss mich beeilen. Nun sag schon – begleitest du mich?“
„Also gut, plan mich ein, Herzogin“, beschloss ich. „Aber ich mache das nur, um mit dem Gouverneur sprechen zu können.“
„Oh, wie süß – du nennst mich ‚Herzogin‘. Das erinnert mich an die Tage, die wir miteinander verbracht haben. Und die Nächte...“ Anastarias flötende Stimme weckte in mir den starken Wunsch, ihr den Hals umzudrehen.
„Bis morgen!“ Sie zögerte einen Augenblick, ihr Körper zuckte, fast wie aus alter Gewohnheit, in meine Richtung, als ob sie mich küssen und sich dabei auflösen wollte, doch zum Glück war ihr der Tisch im Weg. Sie seufzte enttäuscht, winkte mir zu und aktivierte ein Portal weiß der Teufel wohin. Das war eindeutig 1:0 für den Tisch!
Sobald ich das Goldene Hufeisen verlassen hatte, stattete ich Elizabeth einen Besuch ab.
„Mahan! Ich habe gehört, dass du das Problem mit den Kühen gelöst hast!“ Elizabeth war begeistert.
Da ich schon da war, unterzog ich mich auch gleich noch einem Reinigungsprozess, um mich von allen Markierungen zu befreien. Wer wusste schon, wie viele davon die Schurken von Phönix mir im Laufe der Zeit verpasst hatten? Womöglich gar keine – aber andererseits konnten sie mich längst auch behängt haben wie einen Weihnachtsbaum. Momentan durfte ich Anastaria auf keinen Fall verraten, wo sie ein weiteres Krastil finden konnte, und ich musste unbedingt als Erster mit dem Hochmagier von Anhurs sprechen.
Quest abgeschlossen: „Verlorene Kühe“
+ 100 Reputation bei den Priestern der Eluna und 30 Silberstücke.
„Momentan habe ich keine weiteren Aufgaben für dich“, fügte Elizabeth mit enttäuschter Stimme hinzu und breitete die Arme aus. „Unsere Priester sind momentan höchst erfolgreich und erfüllen alle Aufgaben. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich sie alle noch beschäftigen soll. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dir keine weitere Quest gebe.“
„Kein Problem“, versicherte ich ihr. „Momentan habe ich ohnehin nicht so viel Zeit. Aber ich habe noch etwas Geschäftliches mit dir zu besprechen, Elizabeth, genauer gesagt, zwei Dinge. Das eine ist – ich möchte dich um deinen Segen bitten, um mich von allen Markierungen zu befreien, die irgendwelche Schurken mir verpasst haben.“
„Warte, lass mich das überprüfen“, erklärte die Hohepriesterin. Ihre Augen verwandelten sich zu Eis. Kurz darauf erhielt ich eine Systemmeldung:
Buff erhalten: „Segen der Hohepriesterin“
+ 5 % für alle Haupteigenschaften
Dauer: 24 Stunden
„Man hatte dir drei Markierungen aufgedrückt“, erklärte Elisabeth mir, nachdem sie zu ihrem normalen Aussehen zurückgekehrt war. „Eine stammte von Plinto dem Blutrünstigen, eine von Seelenstehler dem Grandiosen und eine von Mata Delkar.“
„Oh, ja, die kenne ich alle drei“, log ich schamlos. Warum Plinto meine Bewegungen nachvollziehen wollte, konnte ich ja verstehen. Aber was war mit den beiden anderen, dem Seelenstehler und Mata? Das war mir ein Rätsel. Dabei fiel mir etwas ein. „Verrätst du allen, von wem die Markierungen kommen, die du entfernst?“
Plinto hatte mir ja beteuert, er würde Anastaria dauernd mit Markierungen versehen, und geschworen, sie wüsste davon nichts. Allerdings hatte Elizabeth meine Markierungen gerade nicht nur entfernt, sondern mir auch deren Urheber verraten.
„Nein, normalerweise segne ich die Spieler nur. In deinem Fall war ich nur neugierig, wer einem Harbinger nachspioniert, deshalb habe ich nachgeschaut. Aber du hattest zwei geschäftliche Dinge erwähnt – das war Nummer 1. Was ist Nummer 2?“
„Weißt du, was ein Krastil ist?“
„Eine dekorative Kugel mit einer Inschrift in einer toten Sprache, die niemand mehr spricht. Entweder das – oder die Inschrift ist zufälliger Unfug.“
„Ich brauche unbedingt ein Krastil. Weißt du, wo ich eines bekommen kann?“
„Soweit ich weiß, besitzt der Hochmagier von Anhurs ein Krastil, und beim Imperator liegen in der Schatzkammer gleich mehrere davon herum. Verschiedene andere sind über den gesamten Kontinent verteilt, ein oder zwei davon bei den Piraten. Wenn ich mich richtig erinnere, solltest du doch ebenfalls über ein oder zwei Krastils verfügen.“
„Ich besitze sie nicht mehr und muss mir jetzt einen neuen dieser kleinen Bälle besorgen.“
„Wozu denn? Die erfüllen keinerlei Funktion. Schon viele Jahrtausende lang haben die schlauesten Leute versucht, das Rätsel dieser Krastils zu lösen - vergebens.“
„Nun, ich habe eine Theorie, die ich gern überprüfen würde. Was glaubst du, ob der Hochmagier mir wohl sein Krastil verkauft?“
„Ich bezweifle es – er ist einer der wenigen verbliebenden Forscher, die sich mit der Untersuchung der Krastils befassen. Aber versuchen kannst du es ja einmal. Warum denn nicht? Ich kann dir allerdings nur raten, ihm etwas zum Tausch anzubieten, und zwar etwas, das sein Interesse weckt. Etwas Einzigartiges.“
„Einzigartig?“ Das überraschte mich. „Der Hochmagier von Anhurs sammelt Einzigartige Gegenstände?“
„Aber natürlich – wie jedes andere empfindungsfähige Wesen auch.“ Elizabeth zuckte mit den Schultern. „Das gilt übrigens auch für mich, nur leider befindet sich kein Krastil in meiner Sammlung.“
„Du machst mich neugierig – was hast du denn alles so?“ Auch wenn mein Verstand empört aufschrie – mein Hordender Hamster und meine Gierkröte, die bisher sanft geschlummert hatten, meldeten sich auf einmal laut zu Wort und drängten mich zu dieser Frage. Dabei stießen sie meine natürliche Bescheidenheit unsanft mit dem Ellbogen zurück und übernahmen energisch die Kontrolle über meinen Organismus. Es handelte sich zwar nur um eine vorübergehende Machtübernahme, doch sie reichte aus, diese Frage aus mir herauszupressen. Zu meinem Erstaunen konnte ich den beiden nur applaudieren. Das wäre doch zu interessant, mich einmal im Inventar der Hohepriesterin der Eluna umzusehen!
„Du bist noch immer derselbe alte Mahan.“ Elizabeth kicherte. „Ich muss dich leider enttäuschen – ich habe nichts, das dir als Schamane von Nutzen wäre. Mich interessieren nur Objekte, die etwas mit Eluna zu tun haben, und sie ist nicht deine Göttin.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ So rasch gab ich nicht auf. „Das Amulett der Nachwuchspriesterin hat mit einem Schamanen auch nicht viel zu tun, und doch hat es, wie du dich sicher erinnern kannst, in Dochtheim etliche Leben gerettet. Das Leben ist lang, und manchmal nimmt es so unvorhergesehene Pfade, dass man sich nur wundern kann, wie sich alles entwickelt hat. Heute ist Eluna nicht meine Göttin – nur, wer weiß denn schon, was morgen sein wird? Und übermorgen stellt sich womöglich heraus, dass sie niemandes Göttin ist. Kannst du dir etwa sicher sein, dass dies nicht geschehen wird?“
+ 20 % Charisma. Insgesamt: 61 %
„Vielleicht hast du recht“, entgegnete Elizabeth nachdenklich. „Das Leben ist so unvorhersehbar, dass man niemals weiß, ob man für immer eine Hohepriesterin bleibt oder irgendwann plötzlich für irgendetwas, das der eigene Ehemann angestellt hat, in die hinterste Ecke des Imperiums verbannt wird... Komm mit – ich zeige dir meine Sammlung!“
Du hast vorübergehend Zugang zum privaten Gemach der Hohepriesterin der Eluna erhalten. Dauer des Zugangs: 60 Minuten
„Als man Yalininkas Leiche gefunden hat“, erklärte Elizabeth, die beim ersten Gegenstand in ihrem bescheidenen Zimmer stehengeblieben war, „war die Trauer bei allen empfindungsfähigen Wesen dieses Kontinents grenzenlos. Die Elfen weigerten sich, ihre Silberflügel zurückzunehmen, denn sie betrachteten diese und damit auch sich selbst als deren Schöpfer und als mitschuldig am Tod der Erhabenen. Daher wurde die damalige Hohepriesterin damit beauftragt, die Flügel zur Erinnerung an die Glaubensheilerin zu bewahren. Zwar hatte ich kein Recht dazu, aber ich habe die Silberflügel dennoch aus der Schatzkammer in meinen Raum gebracht. Ein solcher Gegenstand darf nicht irgendwo in der Dunkelheit verstauben!“
Schweigend blickte ich auf die zwei kleinen, silbernen Flügel hinab, und meine Kehle schnürte sich vor Trauer zu. Statt des ewig jungen Mädchens, als das Yalininka in Statuen und Gemälden dargestellt wurde, sah ich eine ältere, des Lebens müde Frau vor mir, die dennoch während der letzten Minuten ihres Lebens die Kraft gehabt hatte, einem verwirrten und verlorenen Schamanen zu Hilfe zu kommen. Der sich selbst insgeheim für den Allerschlauesten gehalten hatte.
„Dies ist der Fächer von Riksha’as“, beschrieb Elizabeth die anderen Objekte, doch ich hörte nur halb zu, starrte noch immer auf die Flügel. Ihre Eigenschaften waren mir verborgen. Doch selbst wenn es einem Spieler möglich gewesen wäre, mit ihrer Hilfe zu fliegen – ich hätte ihn höchstpersönlich aus der Luft geholt und ihn verprügelt, bis er die Flügel wieder hergab. Es gab Gegenstände, Legendäre Gegenstände, die es niemandem erlaubt war, zu verwenden. Die man lediglich verehren durfte. Und dabei war es mir egal, dass dies alles nur ein Spiel war!
„Das ist Elaines Amulett, und dies das Amulett der neun Paladine der Tafelrunde“, fuhr Elizabeth fort. Sie tat so, als würde sie meine Erstarrung nicht bemerken. „Das Elfenkleid von Loe, die goldene Landkarte von Getshak, die Handschuhe von Naruem, der Umhang von Omelsi... Es sind alles Legendäre Objekte legendärer Paladine und Priester vergangener Zeiten. Meine Sammlung ist nicht gerade groß, aber jeder Gegenstand hier hat seine eigene Geschichte. Oft eine traurige und blutige, jedoch eine, die dem betreffenden Gegenstand entspricht.“
„Stacey, bist du gerade online?“, startete ich einen stummen Anruf. Ich schaltete mein Gehirn, meinen Verstand und meine sämtlichen Gefühle ab und wandte mich an Anastaria, als wäre sie ein gewöhnlicher Mensch, der mir helfen könnte.
„Ich bin hier“, meldete sie sich sofort, und in ihrer Stimme schwang keinerlei Spott mit.
„Ich brauche unbedingt das Band, das Yalininka mir zum Abschied überreicht hat. Ich hatte es Barsina gegeben.“
Eine Weile lang herrschte Schweigen, dann sagte Anastaria: „Hol mich zu dir.“
„Elizabeth, darf ich Anastaria hierherholen?“, fragte ich die über diese Bitte sehr überraschte Hohepriesterin.
„Direkt in diesen Raum?“
„Das spielt keine Rolle – es kann auch dein öffentliches Büro sein, wenn dir das lieber ist.“
„Warte.“ Nach verschiedenen Handbewegungen erklärte Elizabeth: „Jetzt kannst du sie holen, ich habe ihr Zugang gewährt.“
„Es ist eine große Ehre, diesen Ort betreten zu dürfen, oh, Ehrwürdige!“ Anastaria beugte das Haupt. Sie hatte sofort erkannt, wo sie sich befand.
„Was willst du?“, fragte Stacey mich telepathisch. „Wenn sie das Band bei mir sieht, bekomme ich alle Boni.“
„Zur Hölle mit den Boni!“, erwiderte ich grob. „Gib es ihr einfach!“ Aus der Perspektive eines Spielers tat ich gerade etwas Unerhörtes – ich überließ einem NPC einen Einzigartigen Gegenstand. Einen Gegenstand, den ich ebenso gut auch für viel Geld verkaufen könnte. Einen Gegenstand, der mir nicht einmal gehörte. Aber eines wusste ich genau – es war richtig, es zu tun.
„Bist du sicher?“
„Ja.“
„Hohepriesterin“, sagte Anastaria laut, „im Laufe seiner vielen Reisen ist mein Ehemann auch Yalininka begegnet, die ihm dieses Objekt gegeben hat.“ Sie zog das Band hervor und reichte es Elizabeth. „Ich bitte dich im Namen unserer Familie – nimm es als Geschenk an.“
Völlig überrascht nahm Elisabeth das Band entgegen, las seine Beschreibung – und ihre Augen wurden groß wie Untertassen. Es geschah schließlich nicht jeden Tag, dass Spieler ihr etwas so Kostbares vermachten.
„Ich kann keinerlei Täuschung oder Hintergedanken bei den beiden erkennen“, erklang direkt hinter mir auf einmal Elunas Stimme. „Mahan ist aufrichtig der Überzeugung, es sei richtig, dir das Band zu geben, und Anastaria glaubt ebenso aufrichtig, dass er recht hat. Dieses Paar überrascht mich immer wieder! Die beiden sind tatsächlich anders als die meisten anderen Freien Bürger!“
„Göttin!“, riefen Anastaria und ich wie aus einem Mund aus und verbeugten uns vor einer der mächtigsten Kreaturen dieser Welt.
Eluna betrachtete Elizabeth mit dem Blick einer Mutter, die sah, wie ihrem Kind etwas zum Geschenk gemacht wurde, von dem es schon immer geträumt hatte. Die Hohepriesterin stand noch immer wie erstarrt da. Es kam mir vor, als wäre der Imitator abgestürzt und müsste neu gestartet werden. „Für den Augenblick werde ich keine Entscheidungen wegen dieser Sache treffen und auch keine Reaktion zeigen, aber wir werden uns alle bald wiedersehen. Und jetzt lasst Elizabeth bitte in Ruhe – sie muss sich erst wieder fassen.“
Einige Nachwuchspriester begleiteten uns erst aus Elizabeths privatem Gemach und dann aus dem Tempel. Sie taten dies auf so höfliche Weise, dass ich mich dem nicht widersetzen konnte. Die Türen des Tempels schlossen sich zur Verärgerung einiger Spieler, die gerade auf dem Weg zu den Priestern gewesen waren, hinter uns, doch nur eine Minute später waren Anastaria und ich auf den Tempelstufen allein. Die Spieler hatten sich entschieden, nicht mit Gewalt einzudringen und keine Zeit zu verlieren. Zeit gab es ohnehin niemals genug.
„Ich danke dir“, sagte ich und blickte dabei auf die Dachziegel des Gebäudes auf der anderen Seite des Platzes. Was auch immer ich dieser Frau gegenüber inzwischen empfand – sie hatte mir gerade einen großen Gefallen getan. Und auch wenn mir das vielleicht keine großartigen Boni einbrachte, war ich mir doch sicher: Dieses Geschenk würde sich in Zukunft für mich auszahlen. Ob auf gute oder schlechte Weise – ohne Wirkung würde es nicht bleiben.
„Nein, ich danke dir“, erwiderte Anastaria, deren Blick ebenfalls auf den Dachziegeln haftete. „Hast du die Silberflügel gesehen?“
„Nun, übersehen kann man die ja unmöglich...“
„Ich hätte die niemals für echt gehalten. In dem Video deiner Begegnung mit Yalininka waren sie ja nicht einmal zu sehen. Und doch sind sie hier... Ein echtes Wunder...“
Ich schwieg, denn ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Anastaria hatte einem NPC einen Einzigartigen Gegenstand überlassen, ohne Fragen oder Forderungen zu stellen. Es war ihr bewusst gewesen, dass sie das Band nie mehr zurückbekommen würde. Dennoch hatte sie meiner Bitte nachgegeben. Ohne die Episode vor dem Grab des Schöpfers hätte ich mir nichts weiter dabei gedacht, doch jetzt war ich mir unsicher und überlegte unwillkürlich, was sie damit bezweckte.
„Hey, Sonnenschein – wohin bist du denn so plötzlich verschwunden?“, hörte ich Staceys überraschte Stimme in meinem Kopf, nachdem ich mich per Wimpernschlag vom Tempel entfernt hatte.
„Die Probleme der Priester sind gelöst, Süße, und sonst hatte ich dort nichts zu tun.“
„Das verstehe ich. Aber du hättest mich wenigstens an den Ort zurückbringen können, von dem du mich geholt hast!“
„Tut mir leid, mein Schatz, ich bin momentan zeitlich äußerst knapp dran. Du musst deine Magier anrufen und dich von ihnen transportieren lassen.“ Ich erwähnte die mysteriösen Schurken-Markierungen nicht, die mir angehaftet hatten. Warum sollte ich auch? Sollte sie ruhig weiter denken, ich wüsste von nichts und hätte mir den Segen der Hohepriesterin ohne direkten Grund erbeten. Damit fühlte ich mich besser.
* * *
„Was bringt den Schamanengrafen in meine bescheidene Unterkunft?“, begrüßte der Hochmagier von Anhurs mich, als ich sein Büro betrat. Die vielen Stufen hoch in den Turm hatten mich außer Atem gebracht. Und dennoch wollten die Programmierer mir weismachen, meine Sinnesfilter wären voll aktiviert? Beim Kampf gegen die Stufen hätte ich mir beinahe einen Muskel gezerrt!
Trotz meiner Sehnsucht, mich in die Realität abzumelden und zu schlafen, hatte ich beschlossen, mich zu dem Ort zu begeben, an dem sich der mit Ausnahme des Imperators einzige mir bekannte Eigentümer eines Krastils befand. Womöglich konnte ich hier all meine Probleme auf einen Schlag lösen!
„Ich grüße Sie, Ehrwürdiger“, erklärte ich, keuchend vor Atemnot und dennoch mit dem Schlaf kämpfend. Ich sollte den Programmierern ein Video meines Aufstiegs im Turm des Hochmagiers schicken und sie fragen, ob Spieler mit aktivierten Sinnesfiltern anschließend so erschöpft sein sollten. „Ich habe etwas Geschäftliches mit Ihnen zu besprechen.“
„Um welches Geschäft handelt es sich?“ Der Magier zupfte seinen angegrauten Bart zurecht und setzte sich an einen Tisch, auf dem sich leere und halb leere Fläschchen türmten.
Endlich schaffte ich es, Atem zu schöpfen und mich aufzurichten. „Ich habe das Gerücht gehört, dass Sie sich im Besitz eines Krastils befänden. Ich möchte es gern von Ihnen eintauschen.“
„Du möchtest mir etwas für mein einzigartiges Krastil aus Adamant geben?“ Überrascht hob der Hochmagier die Augenbrauen. „Wozu brauchst du das denn? Besitzt du vielleicht Informationen, die etwas über die Verwendung der Krastils aufdecken könnten?“
„Ich habe lediglich eine Vermutung“, beschloss ich, seine Neugier zu wecken. „Überprüfen kann ich sie allerdings nur, wenn ich tatsächlich über ein Krastil verfüge. Ich bitte nicht einmal darum, dass Sie es mir auf Dauer überlassen. Wir können gern eine Rückgabe in ein bis zwei Monaten vereinbaren. Ein Herold kann diesen Vertrag gewiss bezeugen.“
„Hmmm!“, brummte der Magier. „Du hast es geschafft, mich neugierig zu machen, Schamane. Lass es mich einmal wiederholen – du möchtest dir das Krastil ausleihen, das ich besitze, und versprichst, es mir in spätestens zwei Monaten zurückzugeben. Habe ich dich richtig verstanden?“
„Völlig richtig.“
„Du musst mir aber anschließend verraten, wofür du das Krastil gebraucht hast, wenn sich deine Vermutung als richtig erweisen sollte. Und falls nein, musst du mir sagen, was du überprüfen wolltest. Erklärst du dich damit einverstanden?“
„Einverstanden.“
„In dem Fall gilt es nur noch eine Kleinigkeit zu regeln – welche Gegenleistung erhalte ich, wenn ich dir das Krastil ausleihe?“
„Informationen“, bot ich aufs Geratewohl an. „Sie studieren die Krastils und...“
„Junger Mann!“, unterbrach der Magier mich. „Ich befasse mich schon seit Jahrhunderten mit den Krastils, und während dieser Zeit sind so viele Leute mit ähnlichen Vorschlägen wie du zu mir gekommen, dass ich sie schon gar nicht mehr zählen kann. Alle wollten nur eins – dass ich das Krastil, verkaufe, tausche oder sogar verschenke. Ich muss nicht einmal lange überlegen, wer der Letzte in der Reihe war. Erst gestern hat deine Ehefrau, Anastaria, mir im Austausch für mein Krastil diverse wundervolle Gegenstände angeboten. Wie willst du es schaffen, sie zu überbieten? Warum sollte ich das Krastil ausgerechnet dir geben?“
Anastaria wusste also längst über das Krastil des Hochmagiers Bescheid. Das war gar nicht gut!
Ich spielte eine meiner Trumpfkarten aus. „Ich bin bereit, Ihnen im Austausch gegen das Krastil das Schachspiel von Karmadont zu überlassen, das ich geschaffen habe.“ Eine nach der anderen stellte ich die Figuren auf seinen Tisch.
Der Hochmagier erstarrte und blickte auf die Figuren, als wären sie eines der Weltwunder, doch er hatte sich rasch wieder erholt und erklärte lächelnd: „Ich habe es vernommen, ich habe es vernommen...“ Er strich sich über den Bart. „Der Schamanen-Juwelier hat sich auf den Pfad des Schachspiels begeben und das wichtigste Ziel bereits erreicht – die Öffnung des Grabs des Schöpfers. Was kümmert es dich, dass du damit ganz Barliona ins Chaos gestürzt hast? Solche Kleinigkeiten spielen für den Schamanen-Juwelier doch keine Rolle. Für ihn ist nur die eigene Schöpfung wichtig!“
„Chaos?“, wiederholte ich stirnrunzelnd. „Was hat denn Chaos mit der ganzen Sache zu tun?“
„Sobald du die Schwelle zum Grab überschreitest, wirst du auf genau das Chaos stoßen, das ich gerade erwähnt habe.“
„Dann sollte ich in diesem Fall das Grab vielleicht besser gar nicht erst betreten?“, fragte ich vorsichtig. Seine Äußerung erfüllte mich mit Sorge. Der Grund für irgendein Chaos wollte ich nicht werden!
„Dafür ist es jetzt zu spät.“ Traurig schüttelte der alte Mann den Kopf. „Selbst wenn du dich vom Grab fernhältst, werden bald andere Freie Bürger eindringen. Was macht es schon für einen Unterschied, wer die Büchse der Pandora öffnet? Der entscheidende Schritt ist längst erfolgt – der Weg steht offen.“
„Geehrter Hochmagier...“ – ich hatte beschlossen, den Kerl höflich auszuhorchen, und dafür setzte ich mein gesamtes Arsenal an Charisma ein – „… von welchem Chaos sprechen Sie? Wenn sich in dem Grab etwas befindet, das nicht gestört werden darf, dürfen wir es nicht betreten! Aber um zu verhindern, dass sich jemand in die Grabstätte begibt, muss ich erst einmal wissen, was darin zu finden ist.“
Herablassend schüttelte der Hochmagier den Kopf. „Du verhältst dich wie alle anderen Schamanen in Barliona – wenn es ein Problem gibt, muss man nur die Ursache verschleiern, und schon ist alles in Ordnung. Die Welt kann längst auf die verschiedenste Weise geendet haben, lange bevor auch nur ein einziger Freier Bürger sich in die Kammern des Grabs des Schöpfers verirrt. Geranika, das Herz des Gebieters des Chaos, die Diener des Namenlosen... Barliona schwebt jeden Tag in der Gefahr der Zerstörung und Vernichtung. Ein einziges weiteres Risiko geht da im allgemeinen Sumpf des Verhängnisses unter.“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, beharrte ich. „Auf welche Weise ist das Grab des Schöpfers eine Bedrohung für Barliona? Und woher wissen Sie davon?“
„Hast du nicht auch den Verdacht, dass wir uns von unserem eigentlichen Gesprächsthema inzwischen weit entfernt haben?“ Der Hochmagier ließ sich nicht erschüttern. „Soweit ich mich erinnere, brauchst du ein Krastil. Im Austausch dafür hast du mir das Schachspiel von Karmadont angeboten. Dieses Angebot lehne ich ab. Ich brauche das Schachspiel nicht.“
„Die Krastils können warten – Barliona nicht. Was geschieht, wenn ein Freier Bürger das Grab des Schöpfers betritt?“
„Ich glaube, unsere Unterhaltung ist zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt“, schloss der Hochmagier, der nicht bereit war, nachzugeben. „Aus diesem Grund schlage ich vor, wir trennen uns. Ich habe viel zu erledigen.“
„Ich bin bereit, Ihnen das Schachspiel schon dafür zu überlassen, dass Sie es mir verraten!“, stieß ich hervor, ehe die zwei plötzlich aufgetauchten blauen Wachen, die genauso aussahen wie Flaschengeister, mich aus dem Raum zerren konnten.
Mit einer Handbewegung gebot der Hochmagier seinen Flaschengeistern Einhalt. „Wann wirst du es endlich verstehen? Das Schachspiel ist nur als vollständiger Satz etwas wert, einschließlich Schachbrett. In jeder anderen Form ist es nichts als nette Dekoration.“
„Lieben Sie das Meer?“, fragte ich instinktiv. Ohne ein Krastil oder wenigstens Informationen darüber, was geschah, wenn jemand die Grabstätte des Schöpfers betrat, würde ich diesen Turm auf keinen Fall verlassen. Also musste ich mein einziges Trumpfass ausspielen.
„Das Meer?“, fragte der alte Mann verblüfft und schaute sogar von seinem Papierkram hoch. „Was hat denn meine Liebe zum Meer mit all dem zu tun?“
„Wie ich schon sagte, ich brauche ein Krastil, und ich brauche Informationen. Dafür bin ich bereit, Ihnen diesen Gegenstand zu geben.“ Ich öffnete meine Mailbox, suchte nach der E-Mail, die ich mir selbst geschrieben hatte, zog den Anhang in meinen Beutel und schickte dem Hochmagier einen Link. „Ich mag zwar nicht das vollständige Schachspiel besitzen. Aber in ganz Barliona kann sich niemand rühmen, Eigentümer eines solchen Objekts zu sein.“
Der Embryo eines Riesigen Tintenfischdelfins. Dafür konnte ich ohne Probleme 50 oder 60 Millionen verlangen, oder sogar mehr. Dabei handelte es sich um ein einzigartiges, lebendiges Schiff, das man hegen und pflegen musste. Ein Schiff, das jeden Clan in Barliona sofort zum unbestrittenen Meister aller Meere machen würde.
„Dieses Angebot kann ich nicht annehmen, Graf.“ Das erste Mal seit Beginn unserer Unterhaltung zeigten die Stimme des Hochmagiers und seine Form der Anrede tiefe Hochachtung anstelle von Herablassung und Hohn. „Das Krastil und die Informationen, die Sie erfahren möchten, sind einen solchen Gegenstand nicht wert.“
Der kleine Kokon in meiner Hand schien den Magier zu faszinieren. Ich hingegen konnte mir nur mühsam ein lautes Fluchen verkneifen. Dieser NPC hatte sich als weit klüger herausgestellt, als ich es war.
„Ich kann Ihnen mein Krastil nicht geben“, erklärte der Hochmagier. Meinen Zustand ignorierte er. „Es besitzt für mich großen Wert, weil es mich daran erinnert, dass nicht alles in dieser Welt der Logik und der Ordnung folgt. Allerdings kann ich Ihnen zumindest ein wenig helfen. Ich kann dafür sorgen, dass Sie eine Antwort auf die Frage erhalten, was passieren wird, wenn eine lebende Kreatur das Grab des Schöpfers betritt.“
Nach einer kaum sichtbaren Handbewegung des Magiers lösten sich die beiden Wachen in Luft auf, als bestünden sie aus Rauch.
„Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass sich in jeder Stadt unseres Kontinents, ob in Malabar, Kartoss oder den Freien Landen, die Türme der Magier ganz im Norden befinden? Das nördlichste Gebäude jeder Stadt ist immer der Magierturm.“
Er hatte recht! Als ich noch als Jäger gespielt hatte, war mir dieser Aspekt der städtischen Gestaltung in der Tat aufgefallen. Damals hatte ich dem jedoch keine Beachtung geschenkt. Vielleicht war es einfach Geschmackssache und die Designer bevorzugten diese Anordnung. Erst jetzt, nachdem ich als Schamane eine gewisse Zeit auf einem anderen Level verbracht hatte, war mir klargeworden, dass in Barliona nichts ohne Absicht geschah. Für jeden Vorfall und jedes Phänomen gab es nicht nur einen besonderen Grund, sondern auch eine Geschichte und eine Questreihe. Am wichtigsten war, wie man das alles ans Tageslicht bringen konnte.
„Das stimmt, obwohl es nirgendwo ausdrücklich erwähnt wird“, pflichtete ich dem Magier bei.
„Nein, nirgendwo. Es gibt Hunderte von Theorien über diese Anordnung, aber nur die Hochmagier der Städte kennen den wahren Grund. Weit im Norden, über die Grenzen unseres Kontinents hinaus, liegt ein noch unerforschtes Land. Alle 500 Jahre, pünktlich wie ein Uhrwerk, entsendet dieses Land eine schwarze Wolke nach Kalragon. Sie zerstört alles, das sich in ihrem Weg befindet. Dabei ist zu bemerken, dass ihr Weg keineswegs gerade, sondern im Gegenteil seltsam verläuft. Die Wolke verschwindet bei der Annäherung an die Küste, um kurz darauf neben einer unserer Städte wiederaufzutauchen. In den vergangenen Jahrtausenden haben die alten Magier diese Wolke mehrfach ignoriert, und das endete jedes Mal mit enormen Verlusten. Ganze Städte verschwanden, als hätte es sie niemals gegeben, zusammen mit ihren Bewohnern. Endlich beschloss man, dass das nördlichste Gebäude in jeder Stadt der Turm der Magier sein musste, damit uns die Vernichtung als Erstes treffen musste. Wir kämpfen nun bereits seit Ewigkeiten gegen dieses Übel, aber jedes Mal wird die Wolke stärker. Als sie das letzte Mal vor Anhurs erschien, mussten wir alle Magier in ganz Malabar zusammenrufen, um uns dagegen zu schützen.“
„Aber was hat das mit dem Krastil und dem Grab zu tun?“
„Geduld, mein junger Freund – Geduld. Im Rahmen der Suche nach einer Waffe gegen diese Geißel haben wir alle Ecken unseres Kontinents durchsucht. Dabei haben wir ganz im Norden der Freien Lande, am Fuß der Elma-Berge, eine mit Krastils gefüllte Höhle entdeckt. Sie haben die Inschriften ja gesehen – sie sind höchst mysteriös und unverständlich. Die Magier vermuteten, die Worte hätten etwas zu bedeuten, und begannen, mit den Kugeln zu experimentieren, in der Hoffnung, einen Schlüssel zu dem Rätsel zu finden. Dabei entdeckten sie den Ergreis. Das ist ein Kristall von geradezu himmlischer Schönheit, klar und rein wie eine Träne. Groß wie der Kopf eines Bisons. Tödlich wie die Macht von Geranika, verzehnfacht. Es ist schwer zu sagen, wie der Schöpfer es zulassen konnte, dass ein solcher Gegenstand, der aus einer anderen Welt stammt, in Barliona verblieb, vor allem angesichts der tödlichen Gefahr, die von ihm ausgeht. Aber so ist es nun einmal – der Ergreis befand und befindet sich in Barliona.“
„Aus einer anderen Welt?“, fragte ich neugierig. „Woher stammt dieser Ergreis denn?“
„Der Imperator Lait hat ihn mitgebracht, als er aus seiner Welt geflohen ist. Anschließend wurde der Ergreis aus Versehen aktiviert, und zwar durch Feeris, den großen Magier, der vor Urzeiten gelebt hat.“
„Einen Augenblick – ich komme nicht ganz mit. Also – die Magier haben eine Höhle voller Krastils gefunden. In dieser Höhle befand sich auch dieser Kristall, der Ergreis, den Lait nach Barliona gebracht hat. Der Kristall war ursprünglich inaktiv. Ein gewisser Feeris hat ihn irgendwann später aktiviert – wie und warum ist unklar –, und dann ist etwas Schreckliches passiert. Habe ich das richtig verstanden?“
„So ist es. Feeris und alle Magier, die sich zu dem Zeitpunkt in der Höhle befanden, sind auf der Stelle umgekommen. Anschließend hat sich die tödliche Aura des Kristalls mehr und mehr auch auf die Umgebung der Höhle erstreckt. Die überlebenden Magier hofften zuerst, die Ausbreitung würde nach einem Kilometer enden, dann nach zehn, und dann nach 100. Doch nachdem die Aura alles Leben in einem Umkreis von 500 Kilometern zerstört hatte, ohne auch nur einmal innezuhalten, beschlossen die Magier, ihre Quelle zu vernichten. Eine Teleportation war innerhalb der Aura nicht möglich, und die Greifen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht domestiziert worden. Daher mussten sie sich zu Fuß auf den Weg machen. Ein Jäger, der diese Region wie seine Westentasche kannte, führte die Gruppe an. Heute kennt ihn jeder als Karmadont. Die Geschichte schweigt darüber, wie lange die Kampagne gegen den Ergreis andauerte. Wir wissen nur, dass sie alle Mitglieder der Gruppe das Leben gekostet hat, bis auf Karmadont. 302 Magier – tot. Es weiß auch niemand, wie Karmadont es geschafft hat, die Aura des Ergreis einzudämmen. Bekannt ist lediglich, dass er es schaffte, den Kristall im Grab des Schöpfers einzuschließen. Bis heute steht nicht fest, ob der Ergreis im Grab noch immer aktiviert ist oder nicht. Zur Erinnerung an die Magier, die ihr Leben gegeben haben, wurden 302 Krastils aus der Höhle genommen. Im Laufe der Zeit wurden sie überall in unserer Welt verteilt. Bis heute konnte niemand herausfinden, welchem Zweck sie dienen.“
„Vielleicht waren sie ein Mechanismus für die Eindämmung der Macht des Kristalls?“
„In der Tat – vielleicht. Dies ist die einzige Theorie, die man bisher noch nicht überprüfen konnte. Ich mache mir keine allzu großen Sorgen, was den Ergreis im Grab des Schöpfers betrifft. Selbst wenn er noch immer aktiviert ist – wir verfügen über genügend Freie Magier, um den Kristall zu zerstören. Sie werden bereitstehen, wenn seine Aura erneut alles Leben bedroht. Doch bevor es soweit ist, werde ich noch eine weitere Theorie untersuchen.“
Auf einmal wurde mir klar, warum der Hochmagier mir das alles erzählt hatte. „Im nördlichen Bereich der Freien Lande, am Fuß der Elma-Berge – das ist eine sehr vage Beschreibung“, gab ich zu bedenken.
„Unglücklicherweise kann ich nicht konkreter werden. Ich habe keine Ahnung, ob sich die Höhle direkt in den Bergen oder irgendwo am Boden versteckt befindet und ob sie groß oder klein ist. Wenn Sie Krastils brauchen, müssen Sie einen Weg finden, diese Höhle aufzuspüren. Und jetzt, mein lieber Graf, muss ich verlangen, dass Sie mich verlassen. Ich muss mich um dringende Geschäfte kümmern. Und mich auf die nächste tödliche Wolke vorbereiten, die uns in anderthalb Jahren bevorsteht. Die Freien Magier brauchen meine Unterstützung bei ihrer Bekämpfung.“
„Ich danke Ihnen“, sagte ich aufrichtig. Erst als ich das Büro schon beinahe verlassen hatte, hörte ich den entscheidenden Satz, bei dem sich alles in mir verkrampfte:
„Diese Geschichte habe ich auch Anastaria erzählt...“