Kapitel 11: Die Tränen von Harrashess
Wir müssen nach unten, zum Dungeon“, schrieb Marina im Raid-Chat. Wie wir alle presste auch sie sich mit aller Kraft gegen die Wand, wie um darin zu verschwinden. Wir konnten nur hoffen, dass die Schwadron von Eisenkerlen auf Level 300, die nun im gesamten Palast umhermarschierte, uns nicht entdeckte. Sobald einer der Wachmänner in unsere Nähe kam, blieb er kurz stehen, als ob er etwas wahrnehmen würde, doch bisher waren alle gleich darauf weitergezogen. Hätten die Avatare in Barliona über schlagende Herzen verfügt, wären unsere beinahe vor Angst geborsten. Doch es verlief alles gut. Der Tarnungs-Schleier von Level 228, den Clutzer über uns ausgebreitet hatte, war seiner Aufgabe gewachsen. Angesichts ihres Vorsprungs von nahezu 100 Leveln hätten die Wachen sich nur eine Weile länger neben uns aufhalten müssen, um ihn zu durchdringen, doch darauf hatten sie bislang zum Glück verzichtet. Ich stellte mir lieber nicht vor, was passieren würde, wenn wir einem Monster auf Level 350 begegneten... Keinepaniks Schriftrollen waren Bannsprüche von Level 180 und schon bei den Level 300-Wachen wirkungslos. Und Clutzers Schleier war solchen hochleveligen Typen ebenfalls nicht gewachsen. In dem Fall stand uns also lediglich ein qualvolles Warten auf den Respawn bevor.
„Weißt du, wo der Ausgang ist?”, fragte Höllenfeuer.
„Der Weg nach unten führt durch den Thronsaal, in dem sich Geranika aufhält“, erwiderte Plinto aus irgendeiner Ecke des Palastes. Er war nun auf sich allein gestellt. „Seid vorsichtig! Die Halle steckt voller erfahrener NPCs auf hohem Level. Oder halt, wartet – ich schleuse euch hindurch. Mit meinem Tarnungs-Schleier kann uns höchstens Geranika selbst entdecken, aber dem wollen wir bei dieser Mission ohnehin nichts anhaben. Oder stimmt’s etwa nicht, Keinepanik?“
„In Ordnung“, stimmte Keinepanik unwillig zu, nachdem er mit Marina einen merkwürdigen Blick ausgetauscht hatte. „Wir warten am Eingang zum Thronsaal auf dich.“
„Ich bin schon da“, flüsterte der Schurke, der direkt hinter uns stand. „Im Dungeon gibt es keine Überlebenden mehr, also dachte ich mir, erkundige ich die oberen Stockwerke.“
„Du hast bereits den gesamten Dungeon abgeschlossen?“
„Um es mit Mahans unsterblichen Worten zu sagen: Oh, ja. Man muss sich nur an zwei Wachen auf Level 400 vorbeischleichen, dann ist man in der Schatzkammer von Armard. Bislang hat man sie noch nicht ausgelagert. Auf Gold und Edelsteine können wir nicht zugreifen, aber die Gegenstände... Und jetzt haltet die Klappe, ich breite den Schleier aus.“
In diesem Augenblick kam eine weitere Abordnung an Wachen um die Ecke, doch dank Plintos Tarnschleier bemerkten sie uns nicht und marschierten weiter.
„Lasst euch umarmen, Freunde!“, feixte Plinto und legte die Arme um Marina und mich. Dann beantwortete er Marinas fragenden Blick: „Je dichter wir beisammenstehen, desto geringer ist die Chance, dass sie uns entdecken. Mich allein können Wachen auf Level 400 nicht sehen, aber wenn sich mehrere unter dem Schleier befinden, sieht das schon anders aus. Das können wir nicht gebrauchen, deshalb die Umarmung. Komm her, Höllenfeuer! Ich werde nachher noch ein Selfie aufnehmen – Plinto und Höllenfeuer, Freunde fürs Leben...“
„Du weißt schon, wohin du dir dein Selfie stecken kannst, ja?“, knurrte Höllenfeuer.
„Natürlich! Ich werde es einrahmen und genau dort aufhängen“, parierte Plinto. Zornig verzog Höllenfeuer das Gesicht. Merkwürdig – normalerweise war Höllenfeuer standhaft. Der Krieger schien unerschütterlich zu sein. Aber irgendetwas verband ihn mit Plinto, etwas, das sehr tief reichte und ihn zwang, auf die spitzen Bemerkungen des Schurken wütend zu reagieren. War der Zwerg womöglich eifersüchtig? Es war die überzeugendste Erklärung für sein Verhalten. Ja, bestimmt war das nur Neid auf Plintos neue Position als der Spieler unseres Kontinents mit dem höchsten Level. Es war der Titel, den Höllenfeuer selbst fünf Jahre lang stolz getragen hatte.
„Ladys, ihr könnt die Einzelheiten eurer Beziehung beim zweiten Date regeln“, bemerkte Keinepanik angespannt. „Plinto hat recht – wir müssen ganz eng beieinander bleiben.“
„Habt ihr es alle gehört? Lasst mich euch an meine Brust drücken!“ Die Arme des Schurken schlossen sich enger um uns.
„Halt die Klappe, Plinto!“, wies Keinepanik ihn zurecht. „Du musst uns durch den Thronsaal bringen, also hör auf, den Clown zu spielen!“
Der Thronsaal von Armard war ein beeindruckender Anblick. Was war nur mit dem Plan einer spartanischen Ausrüstung geschehen? In der Mitte stand ein Thron aus Alabaster, auf dem Geranika saß. Umgeben war er von einer Unzahl an Untertanen, humanoiden, empfindungsfähigen Wesen in langen, grauen Umhängen, deren Füße in einem flauschigen Teppich mit einem abstrakten Muster versanken. Humanoid waren sie insofern, als sie über jeweils zwei Arme und Beine verfügten. Doch Farbe und Form ihrer Hände, die aus den Umhängen hervorragten, wiesen keine Ähnlichkeit zu denen von Menschen auf, so sehr die allgemeine Gestalt ihres Körpers auch an den Homo sapiens erinnerte. Allerdings nur teilweise. Manche verfügten über seltsame Körperanhänge. Meine Augen weigerten sich, deren Vielzahl und durchgehenden Verzerrungen zu folgen. Andere bestanden im Wesentlichen aus einer Ansammlung sich ständig bewegender Tentakel. 10, 20, 30 – es war unmöglich, sie zu zählen, da sie immer wieder unter dem Umhang auftauchten und erneut darunter verschwanden. Diese Wesen auf Level 450 waren sogenannte „Hadjeis“, wie ihre Beschreibung mir meldete. Ich beschloss, den Begriff bei Gelegenheit nachzuschlagen. Es konnte nicht schaden, mehr über die Berater und Herolde von Geranika zu erfahren, um die es sich hier offenbar handelte.
„Eure Lordschaft haben mich gerufen, und ich habe dem Ruf Folge geleistet.“ Die Stimme des Hadjeis klang, als würde man mit Styropor über Glas reiben. Sie war so abstoßend und störend, ich erschauerte und spürte nur noch einen Wunsch – davonzulaufen. Und damit nicht genug – außerdem verpasste sie allen in Hörweite auch noch Debuffs, die die Bewegungen verlangsamten, die Müdigkeit erhöhten, den Energieverbrauch beschleunigten und die Haupteigenschaften verringerten. Reflexartig griff ich nach meinem Stab, um einen Heilgeist zu beschwören, doch Plinto presste mich fester an sich, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Dabei warf er mir einen Blick zu, ausdrucksvoll genug, mich beschließen zu lassen: Meine Heilung konnte warten.
„Der Aggro-Radius von Geranika liegt bei 20 Metern, also bemerkt er uns nicht, wenn wir uns an der Wand entlangschleichen“, schrieb Plinto im Raid-Chat.
„Was kannst du mir über meinen Drachen berichten?“, fragte Geranika majestätisch, beinahe wie ein Imperator. Ein Blick zum Schamanen bewies mir, James Boaster hatte mich nicht belogen. Geranika war tatsächlich zu einem neuen Imperator geworden. In Zukunft mussten die Spieler sich mit einem neuen Feind auseinandersetzen, dem Drachen des Schattens. Geranika hatte seine Rolle perfekt gespielt.
„Wir sind noch immer dabei, ihn gesundzupflegen“, schrillte der Hadjei. „Seine Genesung verläuft langsamer als gedacht – er hat zu lange Zeit im Feuer des Drachens verbracht. Wir konnten bisher etwa 40 % seiner Schuppen wiederherstellen, doch uns fehlen die Ressourcen, die Heilung fortzusetzen.“
„WIE BITTE???“ Geranika hatte die Stimme nicht erhoben, dennoch verwandelte sein leises Brüllen uns in bewegungslose Statuen. Freundlich winkte uns die Mitteilung zu, dass uns ein „Stopp“-Debuff ereilt hatte, mit einer Dauer von einer Minute. „Du wagst es, mir zu erklären, ich hätte nicht genügend Ressourcen für die Heilung meines Drachens?“
„Ja, Eure Lordschaft, genau das will ich damit sagen“, erwiderte der Hadjei ungerührt. „Wir haben unsere Reserven an imperialem Stahl erschöpft, und dies ist eine der Hauptzutaten für das Schmieden von Drachenschuppen. Wir brauchen schon für eine einzelne Schuppe zu viel davon. In unseren beiden Minen wird rund um die Uhr gearbeitet, aber es wird dennoch nicht genug Material abgebaut. Wenn wir die derzeitige Geschwindigkeit beibehalten, wird es sieben Jahre dauern, bis der Drache vollständig wiederhergestellt ist.“
Geranika kniff die Augen zusammen. „Was schlägst du vor? Du würdest es nicht wagen, vor mir zu erscheinen, wenn du nicht einen Plan hättest.“
„Eure Lordschaft, ich schlage vor, wir kaufen imperialen Stahl von den Freien Bürgern. Es gibt in Malabar und Kartoss genügend Freie Bürger, denen ihre Reputation beim eigenen Imperium gleichgültig ist.“
„Und was bieten wir ihnen als Bezahlung an?“
„Gold. Die Freien Bürger lieben Gold. Wir brauchen insgesamt 300.000 Stapel Stahl.“
„Aber das ist doch... Haben wir denn so viel Gold?“
„Ja, Eure Lordschaft!“
„Gut, sende deine Boten und Spione aus“, beschloss Geranika. „Sorg dafür, dass die Freien Bürger noch heute von unserem Angebot erfahren. Mit Gold können wir nichts anfangen. Sobald ich erst einmal meinen Drachen einsetzen kann, werden beide Imperien auf die Knie fallen und mich geradezu anflehen, ihre Schätze an mich zu nehmen. Aber nun etwas anderes – was ist mit den Gefangenen?“
„Nichts. Sie weigern sich, zu reden. Ich bitte um Eure Erlaubnis, sie foltern zu dürfen.“
Geranika schüttelte den Kopf. „Nein. Ich brauche sie lebendig. Es wird die Verhandlungen mit dem Dunklen Lord ungemein erleichtern, wenn ich alle Trümpfe in der Hand halte.“
„Aber Ihr habt doch bisher noch niemals mit einem anderen Imperator verhandelt!“
„Bisher hatte ich auch nicht...“
„Bruder!“ Ein weiteres empfindungsfähiges Wesen stürmte in den Thronsaal. Die Wachen sprangen aus dem Weg wie von der Kugel getroffene Kegel. Wir waren noch nicht weiter vorgedrungen als bis zur Hälfte und drückten uns jetzt wieder eng an die Wand. Shiam!
„Der Feind ist in den Palast eingedrungen!“
„Deine Warnung kommt etwas spät, Shiam“, grinste Geranika. „Der Narr hat die Kühnheit besessen, sich im Thronsaal zu verstecken. Ich habe ihn bereits getötet, und zwar höchstselbst.“
„Nein, Bruder – ich spreche hier nicht von einem einzelnen Schurken oder sogar einer ganzen Bande von Schurken. Selbst wenn sich mehrere davon im Palast befinden, es könnte mir nicht gleichgültiger sein. Mir geht es ausschließlich um den Feind!“
„Den Feind?“ Geranika runzelte die Stirn. „Du meinst den einen, ganz bestimmten Feind?“
„Oh, ja“, erwiderte Shiam. „Genau den meine ich. Die Schatten haben mir gemeldet, dass er sich im Palast versteckt.“
„Anscheinend erwartet dich ein flauschiger Teddybär, Mahan“ , spottete Clutzer im Chat. „Die Jagd auf den Drachen beginnt!“
„Dann ist die Prophezeiung eingetroffen“, bemerkte Geranika und erhob sich von seinem Thron. „Der Vampir hält sich im Palast auf! Schließt die Ausgänge! Ich werde alles persönlich durchsuchen, jeden Winkel! Ich danke dir für die Meldung, Bruder!“
„Plinto??“ Wir drehten uns zu dem verblüfften Schurken um, der noch immer Marina an sich presste, den Mund erstaunt geöffnet. Geranika und seine Leute verließen den Saal und schlossen die Tür geräuschvoll hinter sich. Wir waren allein.
„Wie wäre es, wenn wir die Magier aus dem Palast schicken?“, meldete ich mich zu Wort und lenkte damit die Aufmerksamkeit von Plinto ab. „Wenn Geranika sie aufspürt, können wir später nie wieder zum Palast teleportieren. Man wird sofort Wachen im Raum postieren, und dann ist es nicht mehr möglich, uns hier einzuschleichen. Das sollten wir nach Möglichkeit vermeiden.“
„Das macht doch keinen Unterschied“, wandte Clutzer ein. „Wenn sie das Portal finden, werden sie auf jeden Fall Wachen abstellen.“
„Nur Spieler können das Portal sehen“, erklärte Keinepanik. „Also gut – ich habe den Magiern gesagt, sie sollen sich zurückziehen. Verschieben wir den Kampf um den Palast auf morgen.“
„Okay, jetzt müsst ihr nichts mehr befürchten“, sagte Plinto und betrachtete die geschlossene Tür. „Für den Rest des Wegs reicht auch Clutzers Schleier. Verdammt! Es kann doch nicht sein, dass es hier nur einen einzigen Ausgang gibt!“
Der Schurke tarnte sich und huschte von Wand zu Wand. Ich konnte mich irren, aber ich spürte eine gewisse Nervosität bei ihm. Nun, schließlich verkündete der Gebieter des Schattens nicht jeden Tag die persönliche Jagd auf einen bestimmten Spieler. Plinto zufolge hatten sich in den Stockwerken unter uns Wachen auf Level 400 befunden, doch die suchten jetzt alle eifrig nach dem Vampir im Palast, also war der Weg für uns frei. Ich konnte den Leuten nur viel Glück wünschen. Der Vampir war nur wenige Schritte von Geranika entfernt gewesen, in dessen eigenem Thronsaal, und dennoch hatte der hochentwickelte Imitator des Gebieters des Schattens nichts bemerkt.
„Sieh doch nur, Mahan“, flüsterte Clutzer und deutete auf Geranikas leeren Thron. „Glaubst du, der Kerl hat etwas dagegen, wenn wir höchst sorgfältig in Bezug auf sein Zepter eine Enteignung vornehmen?“
„Wie kompliziert du dich ausdrückst!“, flüsterte ich zurück und näherte mich dem Alabasterthron. „Sag doch direkt, was du meinst – lassen wir sein Zepter mitgehen!“
„Hier entlang, Mahan!“ Keinepanik deutete auf einen versteckten Durchgang an der gegenüberliegenden Wand, doch ich beeilte mich nicht, dem Todesritter zu folgen. Clutzer hatte recht – es wäre unverzeihlich gewesen, den Palast von Armard aufzusuchen, ohne ein Souvenir mitzunehmen! Geranikas Zepter war nichts als eine schlanke, eiserne Rute mit einer Kugel als Knauf. Es war weder mit Edelsteinen noch Schnörkeln noch Inschriften verziert und wirkte in diesem aufwendigen Thronsaal geradezu fehl am Platz. Eine solche Rute war bestimmt sehr nützlich, wenn man jemanden verprügeln wollte, und Geranika würde sie gewiss nicht vermissen!
Gegenstand erworben: „Zepter der Macht“
Beschreibung: verborgen
Eigenschaften: verborgen
Gegenstandsklasse: Relikt
Einschränkungen: Level 500 und darüber
Wende dich an den Schöpfer, um mehr über die Eigenschaften zu erfahren.
„Mahan, ich glaube, wir sollten uns jetzt ganz schnell von hier verziehen“, drängte Clutzer und kratzte sich am Kopf, als erneut etwas im gesamten Palast widerhallte:
Dong!
Das Relikt wurde gestohlen!
„Warum immer ich?“, maulte ich.
Clutzer schob mich zum Durchgang, der zum Dungeon führte. „Plinto, du musst ihn mit deinem Schleier schützen!“, rief er. „Geranika wird jeden Moment hier auftauchen! Ich führe ihn aus dem Saal!“ Clutzer dachte nicht lange nach, sondern aktivierte seine Beschleunigung 1 und hastete zur Tür.
„WER WAGT ES, MEIN ZEPTER ZU STEHLEN?“ Diesmal erhob Geranika tatsächlich seine Stimme, und sofort erstarrte ich wie festgenagelt mitten in der Bewegung. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich Clutzer gerade noch zur Tür huschen. War er entkommen oder nicht? „STOPP! HALTET IHN AUF!“
„Himmel, Mahan, haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass du keine Sachen mitnehmen darfst, die anderen Leuten gehören?“ Direkt in meinem Ohr hörte ich Plintos spöttische Stimme. „Stopp“ war Geranikas spezieller Bannspruch. Es war eine uralte Waffe, in unzähligen Rollenspielen eingesetzt, die schlichtweg alles und jeden lähmte. Nur hatte anscheinend jemand vergessen, Plinto davon zu unterrichten. Der Schurke schenkte dem jedenfalls keine Aufmerksamkeit, dass er der einzige Spieler war, der sich noch bewegen konnte. Der Schurke hatte seinen Tarnschleier über uns ausgebreitet.
„Weißt du, was wir beide nun tun werden?“, flüsterte er weiter und riskierte damit, von Geranika entdeckt zu werden. „Wir werden jetzt dieses Trio dort ans Messer liefern.“ Mit dem Kopf deutete er in Richtung der drei eingefrorenen Statuen neben uns – Höllenfeuer, Keinepanik und Mirida.
„Warum?“ Nachdem ich nicht einmal sprechen konnte, musste ich die Frage im Clan-Chat eintippen.
„Weil wir sonst alle dran glauben müssen“, erwiderte Plinto. „Du hättest dir Geranikas Zepter nicht unter den Nagel reißen dürfen. Das war eine verdammt blöde Idee!“
„Eure Lordschaft!“ Einer der Hadjeis hatte die Halle durchschritten und blieb nun neben uns stehen. „Es befinden sich hier noch weitere Eindringlinge!“
„Wir verschwinden jetzt, mitsamt unserem Tarnschleier“, bemerkte Plinto, als Geranika den Blick auf unsere Gruppe richtete.
„Was zum Teufel soll das, Mahan?“ Der Raid-Chat füllte sich rasch mit nicht sehr freundlichen Mitteilungen, also zog ich das Fenster aus meinem direkten Sichtfeld und entspannte mich. Plinto trug mich in aller Ruhe die Treppe hinunter, und der Debuff würde in ein paar Minuten abklingen. Ich hatte also genügend Zeit, über die Situation nachzudenken. Worüber regte Keinepanik sich bloß auf? Hatte er mir etwa verboten, irgendetwas zu stehlen? Nein! Also konnte er mir den Buckel herunterrutschen!
Die Rahmen von Keinepanik, Mirida und Höllenfeuer färbten sich grau. Allzu viel Zeit hatte Geranika anscheinend nicht an sie verschwendet. Die Frage war nur, auf welche Weise sie respawnen würden – mit einem Debuff oder ohne? Falls sie mit einem Negativbonus versehen ins Spiel zurückkehrten, würden die drei mich garantiert bei lebendigem Leibe verspeisen. Mitsamt meinem kleinen Zeh.
„Clutzer hat überlebt“, grinste Plinto, als Geranikas „Stopp“ abgelaufen war und ich wieder gehen konnte. „3 Minuten und 40 Sekunden, und er ist unbeschadet. Guter Junge! Ich muss weiter mit ihm arbeiten. Wenn er so weitermacht, wird er noch zum Anfängerschurken des Jahres! Sag mal, Mahan, wofür brauchst du diese dämliche Eisenrute?“
„Es ist eine Trophäe“, brummte ich. Ich war nicht in der Stimmung, Plinto gegenüber zuzugeben, dass unser Plan zu scheitern drohte. Genaugenommen sollte er von unserem Plan sogar auf keinen Fall erfahren, damit er ihn Anastaria nicht verraten konnte. Ach, die sollten doch alle zur Hölle fahren!
„Plinto, ich habe eine Frage an dich. Aber du musst mir versprechen, sie ehrlich und vollständig zu beantworten.“
„Solange du mich nicht nach meiner Konto- und PIN-Nummer fragst... Schieß los! Du stellst zu Beginn einer Unterhaltung immer dumme Fragen. Wenn du wissen willst, weshalb ich mich trotz Geranikas Bannspruch bewegen kann – ich trage den Zahn des Patriarchen bei mir. Mich kann nichts und niemand aufhalten.“
„Wen interessiert das schon, wie du dem Stopp-Bannspruch entgehen konntest? Ich will etwas ganz anderes wissen. Man hat mir gesagt, Anastaria hätte dich voll in der Tasche und wäre die Patentante deines Sohnes. Außerdem hättest du dich als Anführer der Schattenlegion ausschließlich nach ihren Wünschen gerichtet und dich meinem Clan nur angeschlossen, weil sie es verlangt hätte. Und angeblich erstattest du ihr täglich Bericht über meinen Clan und...“
„Schon kapiert. Man hat dir erklärt, ich wäre Anastarias Schoßhündchen. Willst du mir das damit sagen?“ Plinto grinste, doch sein Tonfall war alles andere als spöttisch. Um genau zu sein, hatte ich den Schurken nicht mehr so ernst erlebt, seit... Nun, so ernst und gefasst hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Genau das hat man behauptet.“
„Und mit ‚man‘ meinst du Höllenfeuer und Keinepanik – die beiden Spieler, auf die sich Anastaria in den letzten fünf Jahren mehr verlassen hat als auf alle anderen, richtig? Kommt dir das nicht auch merkwürdig vor?“
„Was meinst du damit?“
„Ich werde nicht lange um die Sache herumreden. Es stimmt alles, was du gerade gesagt hast. Stacey ist tatsächlich die Patentante meines Sohnes. Ich stehe voll und ganz hinter ihr, denn sie ist es, die mich in dieses Spiel eingeführt hat. Ich habe mich deinem Clan tatsächlich nur angeschlossen, weil sie es verlangt hat, und...“
„Aber ich bin doch derjenige, der dich aufgenommen hat“, warf ich ein, doch Plinto hielt dem rasch entgegen.
„Man hat dich manipuliert wie eine Marionette. Anastaria hat diesen Auftritt mit dem Zügel des Phönix inszeniert, den sie mir angeblich schuldete. Du bist aufgekreuzt und hast ihn gekauft. Hast du wirklich geglaubt, ich hätte nicht einmal fünf Millionen Goldstücke auf der hohen Kante? Mahan, für so naiv hätte ich dich nie gehalten! Stacey hatte mich gebeten, auf dich aufzupassen und dich vor allen Gefahren zu schützen, damit du in aller Ruhe deinem Handwerk nachgehen konntest.“
„Meinem Handwerk?“
„Leise! Vergiss nicht, wo wir sind! Du hattest eine ganz einfache Aufgabe – das Schachspiel herzustellen und so den Eingang zum Grab des Schöpfers zu öffnen. Um dir das zu ermöglichen, sollte ich mich deinem Clan anschließen, statt mit der Schattenlegion nach Kartoss zu wechseln.“
„Mit anderen Worten, du bist Anastarias Handlanger.“ Traurig strich ich Plinto von der Liste der Leute, denen ich vertraute. Die war in der letzten Zeit mächtig zusammengeschrumpft. Momentan befanden sich darauf nur drei Namen: Draco, Fleita und ich selbst. Wenn auch meine Schülerin mich noch verriet, dann...
„Lass mich die Frage von vorhin wiederholen: Zwei Leute, auf die Anastaria sich während der letzten Jahre massiv gestützt hat, haben mich bei dir verpetzt und dir erklärt, ich wäre Anastarias Spion. Kommt dir das nicht seltsam vor? Und sie haben das auch noch auf eine Weise eingefädelt, dass ich gezwungen bin, alles zuzugeben. Keinepanik hatte schon immer das Talent, seine Sätze so zu formulieren, dass es schwer zu erkennen ist, was der Wahrheit entspricht und was nicht. Anastaria hält dich für einen klugen Menschen. Also denk nach – was bezwecken die beiden damit?“
„Sie wollen mich vor zu vielen Informationen schützen“, stieß ich hervor und sah mich im ersten Raum der Schatzkammer um. Hier gab es Berge von Gold, Edelsteinen und Truhen. Wenn die Tränen sich tatsächlich irgendwo darunter befanden, würde ich meine liebe Mühe haben, sie auszugraben.
„Oh, wie fürsorglich von ihnen! Sie denken an nichts anderes als daran, wie sie ihren kleinen Liebling schützen können...“
„Plinto, du...“ Ich stockte. Es fiel mir schwer, zu sprechen. Bis gerade eben war ich fest überzeugt gewesen, Plinto wäre an meiner Seite, weil er dort sein wollte – so wie Porthos, einer der drei Musketiere. Die Wahrheit hatte sich als sehr viel einfacher und unerfreulicher herausgestellt, und jetzt wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Am schlimmsten war, dass mein Verstand zwar darauf beharrte, Plinto hätte mich hintergangen, aber meine Vorahnung laut brüllte, ich könnte dem Schurken dennoch vertrauen, weil er mich niemals verraten würde. Der Konflikt war äußerst qualvoll.
„Ein letztes Mal – Mahan, setz deinen Verstand ein! Überlege, warum Keinepanik und Höllenfeuer gerade jetzt Zwietracht zwischen uns säen wollen. Es spielt doch keine Rolle, warum ich in deinem Clan bin. Entscheidend ist, warum die beiden es darauf anlegen, dass du ausgerechnet jetzt auf meine Unterstützung verzichtest.“
„Warum bist du nach dem Vorfall vor dem Grab des Schöpfers im Clan geblieben?“, wollte ich von Plinto wissen, als ich endlich die Kraft gefunden hatte, meine aufwühlenden Emotionen zurückzudrängen. Barliona war ein Spiel, bei dem es um echtes Geld ging. Entsprechend waren Betrug und Verrat an der Tagesordnung, denn ohne Betrug und Verrat ließ sich nur schwer Geld scheffeln. Jeder Spieler verriet früher oder später andere. Die Frage war nur, was diesen Verrat auslöste. Für manche waren es wohlklingende Titel, für andere Liebe, der Wunsch hervorzustechen, Geld, Gegenstände... Was auch immer. Und jeder Verräter akzeptierte seine eigenen Kriterien für einen Verrat, die Kriterien, mit denen er bereit war, sich abzufinden. Ich musste mich jetzt mit Plinto und meinen Gefühlen ihm gegenüber abfinden. Über alles andere konnte ich später nachdenken.
„Warum ich geblieben bin?“ Einen Augenblick starrte Plinto die Wand an, als stünde darauf die Antwort, dann fuhr er fort: „Weil es das Richtige war. Weil ihr beide gerettet werden müsst, Anastaria und du. Am Abend nach diesem Vorfall bin ich zu Anastaria gegangen. Ich wollte nur eines von ihr wissen – ‚Warum?‘ Und weißt du, was sie mir geantwortet hat? Und bitte beachte – wenn sie jemals erfährt, dass ich dir das erzählt habe, bin ich geliefert. Sie hat mit einem regelrechten Anfall reagiert, ist total ausgeflippt und hat mich mit einem wahren Redestrom übergossen. Ich habe nur wenige einzelne Sätze verstanden. Darunter waren: ‚Ich bin ein Miststück‘, ‚Ich habe ihn verraten‘, ‚Ich fühle mich schrecklich‘ und ‚Ich liebe ihn‘. Hat sie mir dabei etwas vorgemacht? Möglich ist das. Aber das war der Augenblick, in dem ich beschlossen habe, dich beim Weiterspielen zu unterstützen und dich dazu zu zwingen, die Situation gründlich zu überdenken. Es ist nicht an mir, dir klarzumachen, wie gestellt und unglaubwürdig die Szene vor dem Grab war, das musst du schon selbst herausfinden. Du hast lange überlegt, warum Stacey so gehandelt hat. Hätte sie dich vorwarnen können? Natürlich. Aber sie hat es aus irgendeinem Grund nicht getan. Was ist die nächste logische Frage? Richtig – warum hat sie darauf verzichtet? Was uns gleich zu unserer ersten Frage zurückbringt – warum haben Höllenfeuer und Keinepanik dir ausgerechnet jetzt verraten, dass ich für Anastaria arbeite?“
„Hast du Phönix die Koordinaten von Altameda mitgeteilt?“
„Nein! Mahan, du bist krank! Du brauchst Hilfe!“
„Ja oder nein?“
„Nein! Und bevor du dich weiter in Verschwörungstheorien ergehst, solltest du wissen, dass die Koordinaten aller Hauptburgen der Clans öffentlich bekannt sind. Gut, vielleicht kommt nicht jeder an diese Informationen heran, aber doch sehr viele. Deshalb werden die Hauptburgen normalerweise lediglich als Basis verwendet, in der man sich versammelt, aber niemals, um Schätze zu lagern. Wenn du irgendwann Zugang zur Imperialen Bibliothek bekommst, schau doch mal im Buch mit dem Titel ‚Burgen‘ nach, auf einer der letzten Seiten. Ich garantiere dir, es wird dich überraschen, was du dort über Altameda nachlesen kannst. Und die Koordinaten der Burg werden nach jedem Sprung an einen neuen Standort automatisch aktualisiert. Auf diese Weise habe ich den neuen Standort in Erfahrung gebracht, nachdem du mitsamt deiner Burg geflohen bist.“
„Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?“, fragte ich ungehalten.
„Weil du mich niemals gefragt hast.“ Der Schurke zuckte mit den Schultern. „Ich spiele schon weit länger als du und weiß eine ganze Menge Dinge, aber du hast dir nie die Mühe gemacht, von meinem Wissen zu profitieren. Wenn ich dir ungefragt alle Informationen weitergeben wollte, wären wir auf Jahre hinaus beschäftigt. Hast du etwa so viel Zeit? Oh – das hier ist verschlossen!“
Plinto zog seinen Dietrich hervor und bohrte im Schlüsselloch herum. Ich nutzte die Pause in unserem Gespräch, um nachzudenken. Wie auch immer man es drehte und wendete – Plinto hatte recht. Ich musste überlegen, wofür Keinepanik mich brauchte. Er hätte die gesamte Operation ohne Weiteres auch ohne mich durchziehen können. Dennoch hatte er mich nicht nur eingeweiht, sondern mir auch die Hauptverschwörer vorgestellt, um mir sein Vertrauen in mich zu demonstrieren. Es war, als wüsste Keinepanik, dass ich nicht zur Polizei gehen, sondern bei seinem Komplott bis zum Ende mitmachen würde. Nur, warum vertraute er mir so maßlos? Wenn ich einmal vom schlimmsten Fall ausging, war Keinepanik derjenige, der über Omega für meine persönliche Sicherheit verantwortlich war. Also hatte er keinen Grund, sich Sorgen zu machen, ich könnte ihn bei den Behörden anzeigen - die Sache mit dem Support-Mitarbeiter schien in diese Richtung zu deuten. Andererseits hatte man sich sofort auf meinen Wunsch nach einer Umsiedlung eingelassen und mir sogar gestattet, nach draußen zu gehen. Dort hätte ich ebenso gut weglaufen oder um Hilfe rufen können. Oder von jemandem entdeckt und gefilmt werden. Falls tatsächlich Keinepanik hinter Omega steckte, kapierte ich seine Beweggründe nicht.
„Wann hast du das letzte Mal mit Stacey gesprochen?“ Es wurde mir rasch langweilig, stumm dazustehen und den Schurken beim Schlossknacken zu beobachten, also beschloss ich, mir die Wartezeit mit einer Konversation zu verkürzen.
„Als du sie in den Dungeon geholt hast. Sie ist momentan in einer Reha-Klinik und nur ein paar Stunden täglich in Barliona. Sie ist noch nicht wieder fit genug für lange Unterhaltungen. Ein Wunder, dass du sie überhaupt telepathisch erreichen konntest.“
„Sie ist in einer Reha-Klinik?“
„Ja, während einer Quest ist etwas schiefgelaufen und sie war im Spiel eingeschlossen. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass die Sache sie ziemlich mitgenommen hat. Alle möglichen Anwälte des Unternehmens schwirren um sie herum und versuchen, eine gütliche Einigung für den Konflikt zu finden. Um ehrlich zu sein, ist das alles besorgniserregend. Angeblich ist sogar Johnson höchstpersönlich bei ihr aufgetaucht, hat sich entschuldigt und ihr eine Entschädigung angeboten. Aber ich will nicht lügen – ob das stimmt, weiß ich nicht. Ah, geschafft! Schauen wir mal, was der Raum hinter dieser Tür zu bieten hat. Also, hinter Tür Nummer 4 haben wir... Himmel, das darf ja wohl nicht wahr sein!“
Nach Plinto betrat nun auch ich den Saal und erstarrte mit offenem Mund. Selbst Plinto, der ja nun im Spiel schon einiges gesehen hatte, war zutiefst überrascht, nachdem er die Eigenschaften dessen studiert hatte, was vor uns lag. Die Verblüffung eines einfachen Spielers wie meiner Wenigkeit war unter den Umständen kaum zu beschreiben. Mitten im Raum lag auf einem etwa anderthalb Meter hohen Sockel ein tiefrotes Kissen. Darauf lag ein kleiner Haufen Kristalle, die ein schweflig-gelbes Licht ausstrahlten.
„Die Tränen von Harrashess“
Klasse: Einzigartiges Artefakt
Der Eigentümer einer Träne erhält den Buff der „Klage von Harrashess“: + 1.000 % Bewegungsgeschwindigkeit, + 10.000 % für alle Haupteigenschaften, + 10.000 % für Trefferpunkte, Mana und Energiewiederherstellungsrate, + 10.000 % für gewonnene Erfahrung und Reputation, + 90 für die einfache Attraktivität
Die Unterschiede im Level werden bei der Berechnung von zugefügtem Schaden und Heilung ignoriert. (Achtung: Dies gilt nicht für einen PvP-Kampf.)
Kann nicht verkauft, gedroppt, gestohlen oder zerstört werden. Die Wirkungen sind nicht kumulativ.
Status: inaktiv, nicht an einen Spieler gebunden
„30 Tränen“, murmelte Plinto und bewegte sich wie ein Zombie auf die Säule zu. „Jeder, dem eine solche Träne gehört, steigt in Barliona sofort zum Gott auf! Das ist es also, was die Jungs hierhergelockt hat! Keinepanik und Höllenfeuer wollen in den Göttermodus aufsteigen, was?“
„So kann man es beschreiben“, erwiderte ich, noch immer im Schock. Wenn Geranika nichts mit den Tränen anstellte und sie nicht verwandelte, war in Barliona ein neues Zeitalter angebrochen, mit 30 neuen Spieler-Göttern, die jeden Feind mit einer bloßen Kopfbewegung vernichten konnten. Und zwar unabhängig von dessen Level. Mit einer solchen Träne konnte ein Spieler sich bereits auf Level 1 an Geranika höchstselbst vergreifen und ihn dadurch dem Vergessen anheimstellen, dass er ihn mit Pantoffeln bewarf. „Aber die Tränen sind weder für dich noch für mich bestimmt.“
„Was meinst du damit?“, fragte Plinto, beantwortete sich die Frage jedoch kurz darauf selbst: „Du weißt, wie man jemandem eine solche Träne geben kann?“
„Ja.“ Ich betete zu allen Programmierern von Barliona, die für diesen Fehler in der Software verantwortlich waren, und fegte die 30 Tränen mit der Hand in meinen Beutel. Der Zeitpunkt war gekommen, herauszufinden, ob das Krastil funktionierte oder nicht.
„Und, wie fühlst du dich?“, tat Plinto besorgt. „Du spürst nicht etwa den Wunsch, die Welt zu verschlingen, oder?“
„Weißt du was? Es hat sich nichts verändert!“, stellte ich überrascht fest. „Die Kristalle wirken sich auf mich nicht aus.“
„Ich darf wohl nicht damit rechnen, dass du mir einen abgibst, oder?“
„Wieso denn nicht? Hier!“ Ich fischte eine Träne heraus und gab sie Plinto. Den Dungeon des Grabs des Schöpfers konnte ich auch ohne den Schurken abschließen, und sobald ich die Salva hatte, würde ich ihn wieder befreien. Irgendjemand musste schließlich mein Versuchskaninchen spielen. Außerdem würde ein kurzer Aufenthalt in der realen Welt Plinto nur guttun. Er konnte sich die Zeit mit einem Einkaufstrip vertreiben – und mit der Überlegung, für wen er arbeitete...
Du bist dabei, eine Träne von Harrashess einem anderen Spieler zu übergeben, der nicht über ein Krastil verfügt. Möchtest du den Kristall binden und aktivieren?
Ja!
„Wow!“, flüsterte Plinto ehrfürchtig, als der Balken seiner Trefferpunkte plötzlich auf einen Bruchteil des alten Zustands herabsank, ohne die Anzahl zu verringern, über die er momentan verfügte. „Mahan, ich schulde dir was!“
„Wir rechnen später ab“, entgegnete ich. „Jetzt sollten wir erst einmal von hier verschwinden.“
„Clutzer, wir brechen auf“, schrieb Plinto im Raid-Chat dem Schurken, der erstaunlicherweise noch immer nicht entdeckt worden war. „Versuche, zu entkommen, wenn du kannst.“
„Okay, ich tue mein Bestes. Viel länger halte ich ohnehin nicht durch – meine Energie ist beinahe erschöpft. Sie reicht höchstens noch für eine Minute.“
„Viel Glück!“, meldete ich mich zu Wort. „Melde dich bei mir, sobald du zurück bist. Ich nehme dich mit nach Altameda, und dann überlegen wir, was wir als Nächstes unternehmen.“
Grinsend betrachtete Plinto mich von Kopf bis Fuß. „Hör mal, wie viele Kilo wiegst du? Mir ist da gerade eine Idee gekommen...“
Wir legten die Entfernung zwischen der Schatzkammer und dem Raum mit dem Portal in unter einer Minute zurück. Plinto hievte mich auf seine Schultern, arbeitete sich durch seine Beschleunigungsgrade bis hin zu Beschleunigung 5 und sprintete, so schnell seine Beine ihn trugen, ohne Geranika oder seinen kreischenden Hadjeis irgendeine Beachtung zu schenken.
„Mahan?“, rief der Gebieter des Schattens erstaunt aus, als wir durch den Thronsaal sausten. Er versuchte, uns mit seinem Stopp-Bannspruch aufzuhalten, doch der blieb auf Plinto ohne Wirkung. Ich hingegen war den Rest unserer Flucht gezwungen, eine bestimmte Stelle von Plintos Kettenhemd zu betrachten. Schließlich verfügte ich nicht über einen Zahn des Patriarchen.
„Verdammt – das war knapp!“, knurrte Clutzer, als wir uns auf der anderen Seite des Portals trafen. Er hatte es ebenfalls geschafft. „Ich habe heute härter gearbeitet als jemals in den Minen... Sagt mal, irre ich mich, oder schaut uns dieser Baum merkwürdig an? Das macht mich nervös! Das würde mir gerade noch fehlen – wir entkommen dem Palast des Schattens, nur, um anschließend von einem Wächter zerquetscht zu werden!“
Am Rand eines weiteren Makels des Schattens, der sich um das Portal herum ausgebreitet hatte, lungerte eine riesige Eiche herum. Es war der örtliche Wächter, der sein Missfallen über das, was wir seinem Wald antaten, offen zeigte. Ich wollte den Mob nicht unnötig ärgern. Also deaktivierte ich das Portal.
Clutzer bot mir ein Ölgemälde an, etwa einen Meter hoch und breit.
„Was ist das?“, fragte ich und wischte den Nebel vom Bild. Es zeigte den Thronsaal von Armard, in dem wir uns gerade eben noch befunden hatten, den Alabasterthron, eine Horde seltsamer und furchterregender Hadjeis und Geranika, der neben dem Thron stand und versuchsweise seine Krone aufsetzte. Es erinnerte mich an „Die Krönung Napoleons“ von Jacques-Louis David, oder so etwas.
„Dieses Gemälde wurde von einem großen Künstler des Schattens erschaffen. Es trägt den Titel ‚Thronbesteigung‘. Wenn ich raten sollte, würde ich behaupten, dass Geranika derjenige ist, der den Thron besteigt. Du musst mich nicht so anstarren! Wenn man von Raum zu Raum hasten muss, ständig in Furcht um sein Leben, kann man sich die Beute nun einmal nicht genauer betrachten. Ich habe einfach alles eingesteckt, das mir unter die Finger gekommen ist. Denk lieber darüber nach, wie du den Schatten von diesem Bild entfernen kannst – das ist jetzt dein Problem.“
Neben uns erklangt die Glocke eines Herolds, noch bevor ich diesem Stümper von einem Dieb die passende Antwort geben konnte. „Graf, der Imperator wünscht, Sie dringend zu sprechen. Bitte folgen Sie mir.“
„Gilt die Ladung nur für mich?“
„Ja. Plinto und Clutzer rate ich, sich an den Schurkentrainer in Anhurs zu wenden. So wie ich das verstanden habe, erwartet alle Meister, die es geschafft haben, nach Armard einzudringen und dort einen halbstündigen Kampf zu überleben, eine hohe Belohnung. Bitte betreten Sie das Portal, Graf.“
Mir blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung des Herolds Folge zu leisten. Beim Verlassen des Portals erwartete mich eine Überraschung. Ich war direkt in den Thronsaal von Malabar gebracht worden. Auf dem Thron saß Imperator Naahti, und vor ihm stand kein anderer als Geranika, die Arme verschränkt und mit extrem düsterer Miene.
„Ich grüße die beiden Imperatoren“, sagte ich mit einem Lächeln, als mir klar wurde, dass weder der Imperator noch Geranika zuerst das Wort an mich richten würden. Und so schlecht Geranikas Laune auch zu sein schien - der Imperator grinste wie ein Honigkuchenpferd, und seine Freude strahlte auf seine gesamte Umgebung aus. Ich erlag ihr sofort.
„Gib mir mein Zepter zurück, du Dieb!“, brüllte Geranika, statt meine Begrüßung zu erwidern. Erst jetzt erkannte ich, dass es sich nicht um den echten Gebieter des Schattens handelte, sondern lediglich um seine Projektion. So naiv war Geranika dann doch nicht, sich selbst der Gnade des Imperators von Malabar zu überlassen. Nicht einmal, um sein Zepter zurückzubekommen.
„Sie haben mich gerufen, Hoheit?“ Ich beschloss, Geranika zu ignorieren. Verschlechtern konnte unsere Beziehung sich unmöglich, und ich hatte keine Lust, der dummen künstlichen Intelligenz irgendetwas zu erklären.
„Sag mir, hast du tatsächlich Geranikas Zepter gestohlen?“ Der Imperator schaffte es endlich, sein Grinsen zu unterdrücken, und stellte die Frage mit normaler Stimme.
„Nun, ‚stehlen‘ würde ich es nicht nennen“, wich ich aus, nur für alle Fälle. Wer wusste schon, welche Probleme der Imitator des Imperators am Ende mit einem Diebstahl hatte? „Ich habe es mir angeeignet. Als Trophäe. Ich habe es auf dem Schlachtfeld errungen. Sie können sich die Option aussuchen, die Ihnen am besten gefällt.“
„Du hast es gestohlen!“ Der normalerweise durch nichts zu erschütternde Geranika hatte heute wirklich einen schlechten Tag. So aufgebracht hatte ich den Gebieter des Schattens schon seit dem Dunklen Wald nicht mehr erlebt.
„Wie hast du vor, es zu verwenden?“ Der Imperator folgte meinem Beispiel und beachtete Geranika nicht länger.
„Das weiß ich noch nicht“, gab ich zu und holte das Zepter aus dem Beutel. Sofort war ich von 20 Herolden umgeben, die Steine des Lichts in Händen hielten. Der Imperator wollte ersichtlich nicht, dass sich der Einfluss des Schattens in seinem Palast ausbreitete. „Welchem Zweck dient das Zepter denn?“
„Ich verfüge über einen Thron“, erklärte der Imperator. „Ohne Thron verliere ich meine Macht. Für den Imperator des neuen Reiches gilt das Gleiche, was das Zepter betrifft. Ohne diesen Gegenstand wird Geranika in zwei Monaten sterben. Deshalb frage ich dich erneut – was hast du mit diesem Stab vor?“
„Aus der Tatsache meiner Anwesenheit hier schließe ich, ich muss das Zepter zurückgeben?“, mutmaßte ich.
„Ich würde es anders formulieren“, entgegnete Naahti. „Du kannst es gegen etwas anderes eintauschen, etwas Gutes für das Imperium tun, ein unschuldiges Leben retten. Du kannst dir die Option aussuchen, die dir am besten gefällt.“
„Schon gut, ich stimme einem Austausch zu“, knurrte Geranika grimmig. „Ich werde sie freigeben. Und nun her mit dem Zepter!“
Erst jetzt wurde mir der Grund für die gute Laune des Imperators klar. Er hatte längst beschlossen, den Stab gegen seine Frau einzutauschen. Was ich davon hielt, war ihm gleichgültig. Es interessierte das Oberhaupt von Malabar nicht im Geringsten, was ich wollte. Die Programmierer konnten den Tod eines feindlichen Herrschers selbstverständlich nicht zulassen. Deshalb konfrontierte man mich mit einer unumstößlichen Tatsache: Ich hatte das Zepter zurückzugeben. Oh, nein – nicht mit mir! Mein Hordender Hamster und meine Gierkröte plusterten sich auf, bereit, den gestohlenen Gegenstand bis aufs Blut zu verteidigen! Das zwang mich zu dem Versuch, mehr herauszuholen als die Freilassung der Frau des Imperators:
„Bitte entschuldigen Sie, Hoheit, aber ich habe dem Austausch bisher nicht zugestimmt. Meiner Meinung nach...“
„Was willst du noch?“, fiel Geranika mir ins Wort. „Gegenstände, Wissen? Nichts davon kann ich dir geben, denn du gehörst nicht zum Reich des Schattens. Geld? Das wäre mehr als lächerlich!“
„Ich möchte Ihren Palast besichtigen.“ Ich grinste. Es war die Bezahlung, die den Gebieter des Schattens am meisten ärgern würde. „Führen Sie mich herum, zeigen Sie mir alles, und anschließend sorgen Sie dafür, dass ich unbeschadet zurückkehren kann. Wir werden uns gemeinsam im Palast umsehen und betrachten, wie alles angeordnet ist, den Ausblick genießen, die Skulpturen und Gemälde studieren. Sie sind übrigens wunderschön! Das kann ich sogar beweisen.“
Ohne lange nachzudenken, holte ich das Ölgemälde hervor, das Clutzer sich angeeignet hatte. „Sehen Sie doch nur – die kunstvolle Gestaltung, der Pinselstrich, die Komposition, die Graustufen...“
„DU HAST DAS EINZIGE PORTRAIT GESTOHLEN, DAS VON MIR EXISTIERT?“ Nun verlor Geranika vollends die Beherrschung.
„Das Bild wirst du ebenfalls zurückgeben müssen, Mahan.“ Der Imperator lachte begeistert. „Ich kann schließlich nicht zehn Steine des Lichts nur für die Bewachung eines einzigen Gemäldes abstellen.“ Er wandte sich an den Gebieter des Schattens. „Also, was sagen Sie, mein königlicher Kollege? Sind Sie bereit, meinen Untertanen in Ihrem Palast herumzuführen?“
„Du hast in dieser Welt keinen größeren und mächtigeren Feind als mich, Mahan!“ Geranika hatte sich inzwischen wieder gefasst und trat erneut als der Herrscher auf, der sich durch nichts erschüttern ließ. „Aber dank der mir von Barliona verliehenen Befugnisse gewährleiste ich Mahans Sicherheit während seiner Besichtigung meines Palastes. Ich garantiere, dass er unverletzt zurückkehren wird. Doch sobald er zurückgekehrt ist, beginnt meine Jagd auf den Schamanen Mahan! Du Narr! Ich werde alles unternehmen, das in meiner Macht steht, um dir das Leben in Barliona zur Hölle zu machen! Du hast das Wort des Gebieters des Schattens!“
Ich ignorierte seine Drohungen. „Wie gelange ich in Ihren Palast?“
„Der Dolch wird ein weiteres Mal ein Portal nach Armard öffnen. Anschließend kannst du ihn aber ebenso gut wegwerfen – ich werde seine Fähigkeiten deaktivieren.“
Ich wandte mich an den Imperator von Malabar. Aus Geranika konnte ich nicht mehr herausholen. Aber vielleicht war er ja bereit, mir ebenfalls etwas zu geben? „Hoheit, die Vereinbarung mit Geranika ist nahezu perfekt. Ich möchte allerdings noch über etwas anderes sprechen, und zwar...“
„Du hast meine volle Unterstützung“, unterbrach Naahti mich, der zu wissen schien, worauf ich hinauswollte. „Einschließlich eines uneingeschränkten Zugangs zum Palast. Reicht dir das?“
Mein Herz setzte einen Schlag aus – das konnte nur eines bedeuten: eine Reputation der Begeisterung. Ich musste nur eine Sache klarstellen. „Betrifft das meine Reputation bei Ihnen oder beim gesamten Imperium?“ In beiden Fällen stellte es einen enormen Bonus für den Clan dar. Es war... Nun ja, Herr Kristowski würde mich vor Dankbarkeit auf den Schultern tragen!
„Es betrifft deine Reputation bei mir und beim Imperium.“ Naahti machte sich nicht die Mühe, zu feilschen. „Den Helden, der mir meine Adelaide zurückgebracht hat, werde ich niemals vergessen.“
„In dem Fall schlage ich vor, den Austausch in die Wege zu leiten“, verkündete ich triumphierend und streckte Geranikas Projektion Zepter und Gemälde entgegen. „Wie soll er vonstattengehen?“
Achievement freigeschaltet: „Freund des Imperators“
Deine Reputation beim Imperator hat den Status „Begeistert“ erreicht.
Achievement freigeschaltet: „Standesgenosse von Malabar“
Deine Reputation beim Imperium von Malabar hat den Status „Begeistert“ erreicht.
Dein Zugang zum Palast von Malabar wurde aktualisiert. Derzeitiger Zugang: 100 %
Um mich herum funkelten die Achievements und Systemmeldungen, der Clan-Chat floss über vor Freudeschreien und Glückwünschen, meine sämtlichen Amulette vibrierten mit eingehenden Anrufen. Doch ich stand noch immer im Thronsaal, bewegungslos, und beobachtete, wie der Imperator sich liebevoll über seine Frau beugte. Innerlich wimmerte ich.
Was tat ich da bloß?
Warum brauchte ich unbedingt diese Abenteuer mit dem Imperator und Geranika? Es kam mir vor, als würde ich ein Fest feiern, während um mich herum die Pest wütete. In meinem Beutel steckten 29 tödliche Gegenstände, die ich dringend den Spielern von Phönix unterjubeln musste. Stattdessen verschwendete ich meine Zeit damit, im Palast herumzuhängen und mir neue Boni zu sichern. Und wofür, zum Teufel? Ich sollte lieber über meine persönliche Sicherheit nachdenken, über die Tatsache, dass ich dabei war, einen Gesetzesbruch zu begehen, und dann, wenn die Wahrheit ans Licht kam, den Rest meines Lebens in den Minen verbringen würde. Und was tat ich? Ich organisierte eine Besichtigungstour von Geranikas Palast und erfreute mich daran, wie sehr ich einem Imitator auf die Nerven gehen konnte. Was war bloß los mit mir? Warum beschäftigte ich mich nicht mit den wirklich wichtigen Dingen? Für etwas anderes sollte in meinem Kopf kein Raum sein!
Also gut – die Entscheidung war gefallen. Es wurde Zeit, das Zögern und Zaudern einzustellen und mich der vorsätzlichen Vernichtung des Phönix-Clans zu widmen. Mit Keinepanik, Höllenfeuer und den Programmierern, die sie bestochen hatten, konnte ich mich später befassen. Ich zog ein Amulett hervor. Nach einer kurzen Unschlüssigkeit, die mich selbst überraschte, tätigte ich den Anruf. Die Show musste weitergehen...
„Ehkiller, hier ist Mahan. Wir sollten uns zusammensetzen. Ich habe ein Angebot, das du unmöglich ablehnen kannst...“
„Können wir das nicht per Amulett regeln?“
„Nein.“
„Also gut. Wir treffen uns in zehn Minuten im Goldenen Hufeisen.“ Zu meinem Erstaunen stimmte Ehkiller zu, ohne vorher unzählige Bedingungen aufzustellen. „Passt dir das?“
„Perfekt. Danke!“
Ich steckte das Amulett zurück und zog das für Plinto hervor. Keinepanik hatte geplant, Höllenfeuer als leuchtendes Beispiel eines durch eine Träne von Harrashess zum Gottstatus erhobenen Spielers zu verwenden. Doch Höllenfeuer war die nächsten Stunden noch ausgeschaltet und belegte mich dabei garantiert mit jedem Fluch aus dem Seemannshandbuch. Außerdem erschien es mir ohnehin als die bessere Lösung, Plinto für diesen Zweck einzusetzen. Es würde Ehkiller nur umso mehr davon überzeugen, dass er von den Tränen nichts zu fürchten hatte, wenn er erfuhr, dass ich eine meinem eigenen besten Kämpfer gegeben hatte. Plintos Fähigkeiten würde ich schließlich niemals aufs Spiel setzen, richtig? Das würde er jedenfalls glauben...
* * *
„So steht es also”, beendete ich meine kurze Präsentation der Tränen von Harrashess, einschließlich einer Demonstration der neuen Statistiken meines Schurken. Ehkiller hatte die ganze Zeit über stumm dagesessen, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. Was mich, ehrlich gesagt, ein wenig nervös machte. Was, wenn all meine Anstrengungen sich als vergebens herausstellten und der Plan zum Scheitern verurteilt war? Es musste schließlich einen guten Grund dafür geben, warum Keinepanik darauf bestanden hatte, Höllenfeuer zum Testspieler zu machen.
„Ich rufe einen Herold, ich brauche Unterstützung“, sagte Ehkiller unvermittelt. Erschrocken zuckte ich zusammen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen. Statt die Chance mit beiden Händen zu ergreifen, sich die Tränen für seinen Clan zu sichern, rief er einen Herold herbei? Was sollte denn dieser Unsinn?
„Sie haben mich gerufen, und ich bin...“, begann der Bote des Imperators sein Sprüchlein.
„Ich klage Mahan an, verbotene Gegenstände zu besitzen und zu verwenden!“ Ehkiller ließ den Herold nicht einmal aussprechen. Sein Vorwurf stärkte meine Verblüffung noch. Das verlief nicht so, wie ich es erhofft hatte! „Es darf die Tränen von Harrashess in Barliona nicht geben! Sie würden das Gleichgewicht des Spiels zerstören.“
„Ihre Beschwerde ist eingegangen.“ Die Stimme des Herolds hatte ihren wohltönenden, vollen Klang verloren. Das zeigte an: Der Imitator war gerade durch einen echten Menschen ersetzt worden. „Hochgeschätzter Ehkiller, ich muss Sie darüber informieren, dass Mahan diese Gegenstände ordnungsgemäß erworben hat, im Einklang mit den Mechanismen des Spiels und ohne gegen Regeln zu verstoßen. Die Tränen wurden ausschließlich für den Einsatz bei NPCs ins Spiel eingeführt. Es war nicht beabsichtigt, ihre Verwendung durch Spieler zu ermöglichen. Dennoch ist es dazu gekommen, dass nun auch Spieler die Tränen nutzen können, und was geschehen ist, kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Aus diesem Grund sind wir gezwungen, Ihre Beschwerde zurückzuweisen. Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?“
„Eine solche Träne kann ihre Eigenschaften nicht ändern, nachdem ich sie erworben habe.“
„Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Momentan erarbeiten wir gerade die Strategien, die die Einführung der Tränen ins Spiel erforderlich gemacht hat. Das Ergebnis unserer Überlegungen steht noch nicht fest.“
„Ich habe keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung getroffen. Nach Paragraf 244 Ziffer 2 der Regeln ist das Unternehmen nicht berechtigt, einseitig die Eigenschaften eines Gegenstandes zu ändern, den ein Spieler im Austausch gegen die Zahlung von Geld erworben hat.“
„Ich wiederhole, ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Meine Aufgabe besteht allein darin, Sie darüber zu informieren, dass es im Zusammenhang mit dem Besitz der Tränen zu keinem Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen für das Spiel gekommen ist.“
„In dem Fall danke ich Ihnen und möchte nun mit jemandem sprechen, der über die Befugnis verfügt, Auskunft über diese Angelegenheit zu geben. Auf Wiedersehen – ich brauche keine weitere Unterstützung durch einen Herold.“
Ehkiller trank einen Schluck aus seinem Becher, bis der Herold verschwunden war. Dann fragte er: „Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen?“
„Phönix ist der einzige Clan in ganz Malabar, der Interesse an solchen Gegenständen haben könnte. Natürlich wären Etamzilat und Undigit nur zu gern bereit, ebenfalls ein paar Tränen zu erwerben, aber ich möchte sie nicht zwischen verschiedenen Clans aufteilen. Ich strebe nicht an, alle stärker zu machen. Es reicht mir, wenn eine Fraktion sich verbessern kann.“
„Und warum verwendest du die Tränen nicht für deinen eigenen Clan?“
„Wieso sollte ich? Damit die besten Clans es mit aller Gewalt darauf anlegen, mir meine besten Spieler abzuwerben? Oh, nein – nicht mit mir! Es hat mir gereicht, was in der letzten Zeit passiert hat, vielen Dank auch! Es gibt nichts in Barliona, das wertvoller wäre als Gold.“
„Du hast dich verändert, Mahan“, stellte Ehkiller fest. In seiner Stimme schwangen Spott und ein klein wenig Herablassung mit. „Der Schamane, den ich kannte, hat sich um Geld nicht geschert.“
„Der Schamane, den du kanntest, wurde sehr geschickt und sehr zynisch von deinem eigenen Clan zerstört. Was ich jetzt bin, ist das Ergebnis deiner Handlungen. Erfreue dich daran.“
„Was willst du für die Tränen?“
„Ich besitze 29 davon. Angesichts der enormen Boni, die die Tränen einem Spieler einbringen, halte ich einen Preis von einer Milliarde pro Träne für angemessen.“
Ich hatte keine Ahnung, was mir diese Zahl eingegeben hatte. Wahrscheinlich hätte ich meine Forderung besser bei 500 Millionen gekappt, aber aus irgendeinem Grund verwandelte sich die halbe Milliarde in eine geile ganze. Etwas in Ehkillers Gesichtsausdruck verriet mir, dass er tatsächlich bereit war, so viel Geld auszugeben, wenn ich nur die richtigen Knöpfe drückte. Allerdings nicht jetzt. Im Augenblick bestand mein Job lediglich darin, ihm den Mund wässrig zu machen, und das hatte ich längst erreicht.
„Es schadet der Gesundheit, zu viel Zeit im Spiel zu verbringen“, erklärte Ehkiller und ließ mich dadurch wissen, dass er meine Forderung für inakzeptabel hielt.
„Nun, um ehrlich zu sein, ist es mir gleichgültig, wem ich die Tränen verkaufe.“ Ich zuckte mit den Schultern und demonstrierte damit, wie losgelöst ich die derzeitige Situation betrachtete. „Entweder Phönix oder dem Clan der Schwelenden Tannenzapfen im Himmlischen Imperium.“ Als ich den Clan eines anderen Kontinents erwähnte, verengte Ehkiller die Augen und starrte mich an, als ob er ein Loch in mich hineinbrennen wollte. „Ich habe nur ein Ziel – es hat sich die Chance ergeben, eine Heidenmenge Geld zu verdienen, und ich habe vor, sie restlos auszunutzen. Deshalb verlange ich eine Milliarde pro Träne. Wenn ich von dir bis morgen Abend keine Zusage habe, werde ich mich im Himmlischen Imperium umschauen, und anschließend in Astrum. Ich werde keine Probleme haben, willige Käufer zu finden.“
„Du spielst mit dem Feuer, Mahan! Was glaubst du wohl, wird mit den Tränen passieren, wenn ich erst einmal mit dem Unternehmen gesprochen habe? Solche Gegenstände dürfen im Spiel einfach nicht existieren!“
„Ich habe sie auf korrekte Weise erworben. Wenn jemand irgendetwas ändern möchte, kann ich nur sagen, ich habe mich an die geltenden Regeln gehalten, und ich werde meine Milliarden mit Zähnen und Klauen verteidigen. Vielleicht kann ich sogar noch mehr verdienen, wenn ich die Tränen einzeln in offenen Auktionen versteigere...“
„Ich muss darüber erst einmal nachdenken. In zwei Tagen werde ich dich wissen lassen, was ich entschieden habe. Kannst du so lange warten?“
„Klar – treffen wir uns in zwei Tagen wieder hier. Ach ja, ich sollte noch etwas erwähnen – wenn du die Tränen kaufst, muss ich sie persönlich den Spielern übergeben, die du dafür auswählst. Nur ich kann diese Objekte anderen Spielern geben. Das hat man für den ersten Eigentümer so festgelegt. Wir sehen uns!“
Ich verabschiedete mich und teleportierte nach Altameda, wo ich mich in meinen Schaukelstuhl setzte, die Hände triumphierend zu Fäusten geballt. Ich hatte Ehkiller in der Tasche! Entweder war ich in zwei Tagen 29 Milliarden reicher, oder ich kannte den Anführer von Phönix nicht im Geringsten. Wenn das alles geregelt war, musste ich Keinepanik und seiner Bande ihren Anteil auszahlen. Geld war zwar in unserer Vereinbarung nicht erwähnt worden, aber es war nur fair, sie zu beteiligen. Schließlich war es ihr Plan – ich war nur der Handlanger.
* * *
Die nächsten beiden Tage vergingen wie im Flug. Ich war bester Laune. Nicht einmal Höllenfeuers und Keinepaniks mürrische Gesichter kamen dagegen an, als die beiden sich in Altameda blicken ließen. Wie sich herausstellte, hatte der Gebieter des Schattens ihnen einen Debuff verschafft, der den Respawn überdauerte. Einen vollen Monat lang waren ihre Haupteigenschaften auf die Hälfte reduziert. Es tat mir natürlich unendlich leid, dass ich ihre Pläne vermasselt hatte, indem ich improvisiert hatte, wie es nun einmal meiner Natur entsprach. Auch stimmte ich ihnen sofort zu, als sie zu bedenken gaben, es wäre alles andere als sicher, dass Ehkiller sich auf eine so hohe Zahlung einlassen würde, und eine Milliarde wäre ein viel zu hoher Betrag. Doch dann überreichte Keinepanik mir die versprochenen beiden zusätzlichen Armageddon-Schriftrollen, und meine Laune stieg noch. Diesmal würde Phönix mir nicht davonkommen!
Endlich waren die zwei Tage abgelaufen, und es kam der ersehnte Augenblick:
„Mahan, hier ist Ehkiller. Ich bin mit deinen Bedingungen einverstanden. Lass uns den Handel abschließen.“