Kapitel 6
»Ich glaube, ich sollte nicht …« Ihre Stimme klang dünn, gepresst, das Gefühl des Wiedererkennens drückte schwer auf ihre Brust. Sie kannte diesen Ort. Dort oben lag die Wohnhalle der Maskewes, und wenn sie die Treppe hinaufstiege, würde sie die holzvertäfelten Wände sehen, die Wandteppiche, den gedrechselten Lehnstuhl drüben neben der offenen Feuerstelle.
Sie wollte Luke zurückrufen, doch der war bereits hinter der Biegung der Treppe verschwunden.
Tess’ Blicke schweiften umher. Der leer geräumte Laden wirkte seines Lebens beraubt, als würde eine Folie das Haus von damals überziehen, das sie gekannt hatte. Hier drinnen war der Laden des Tuchhändlers gewesen, voller Stoffballen. Sie lehnten an den Wänden, lagen in farbenprächtigen Bahnen auf dem Ladentisch ausgebreitet: schimmernder Samt und feine Wollstoffe, grobes holländisches Leinen, seidiger Batist und Spitzen. Tess sah den Tuchhändler förmlich vor sich, wie er den Stoff vom Ballen wickelte, die edle Seide durch seine kurzen dicken Finger gleiten ließ …
»Nein«, flüsterte sie und griff Halt suchend an die Wand, versuchte, sich gegen den Sog der Erinnerung zu stemmen. »Nein, nicht jetzt.«
Aus dem oberen Stockwerk drang Lukes Stimme, die sich bei all dem Lärm Gehör zu verschaffen versuchte, zu ihr hinunter, und dann eine laute Stimme, die jemanden anbellte, er solle das Radio ausschalten.
»Tess?«, rief Luke.
Es gab hier nichts Ungewöhnliches. Es war ein leer geräumter Laden, nichts weiter. Tess holte tief Luft, setzte zögernd den Fuß auf die unterste Stufe, wagte sich langsam etwas weiter hinauf. Jetzt würde gleich das laute Knarren der schlecht eingepassten Schwelle zu hören sein.
Nur dass diese Stufen aus Metall waren. Es gab keine hölzerne Schwelle, kein Knarren. Natürlich nicht.
Du bildest dir Dinge ein.
Tess überwand sich und stieg weiter die Treppe hoch, wappnete sich für den Anblick, der sie oben erwartete. Luke stand da und redete mit dem Vorarbeiter, und während sie die letzten Stufen erklomm, zwang sie sich dazu, sich umzusehen.
Der Raum wirkte größer und heller als erwartet. Die Decke war herausgenommen worden, sodass die alten freiliegenden Dachbalken zu sehen waren. Das Sonnenlicht, das in ihrem Schlafzimmer im Haus nebenan Mangelware war, konnte hier, unbehindert durch ein weiteres Stockwerk, durch zwei Dachfenster hereinfluten.
Die Wandtäfelung war verschwunden, desgleichen die Wandteppiche. Der Verputz war bis hinunter auf die schmutzig grauen Balken abgeschlagen worden, und Staubpartikelkörner tanzten in der Luft und bedeckten in einer dicken Schicht den Boden, wo dereinst Binsenmatten die Dielenbretter geschützt hatten. An der Stelle, wo der Lehnstuhl gestanden hatte, war ein Sägebock aufgebaut, auf dem ein nagelneues Brett lag. Intensiv schlug ihr der Geruch nach frisch gesägtem Holz entgegen, wie vorhin in Richards Arbeitszimmer.
Tess ballte die Hände zu Fäusten und versuchte krampfhaft, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Luke erklärte den Bauarbeitern das Problem mit dem Geräusch, doch diese schüttelten die Köpfe. »Wir haben hier nirgendwo Spuren von Ratten gesehen. Sie sehen ja selbst, wir haben überall den Verputz abgeschlagen und die Balken freigelegt.«
»Kann was anderes diese Geräusche verursachen? Vielleicht liegt es an den Leitungen?«
Tess drehte sich langsam um die eigene Achse und betrachtete aus halb geschlossenen Augen den Raum. Er war nicht exakt so wie früher. Wände waren versetzt, Mauern nachträglich für Fenster durchbrochen worden, und irgendwann hatte man die Feuerstelle stillgelegt, doch es war eindeutig die Halle der Maskewes, sie spürte es instinktiv. Vor ihr, an der gegenüberliegenden Wand, hatte der gedrechselte Lehnstuhl gestanden, hinter ihr die Treppe gelegen, und dort, wo jetzt eine Mauer dieses Gebäude von ihrer Wohnung trennte, war die Tür zu Mr Maskewes Kabinett gewesen – das jetzt ihr Schlafzimmer war.
Sie hörte Musik. Das Schlagen der Trommel, die ins Ohr gehende Melodie der Flöten. Und Lachen. Unsicher blickte Tess sich um und fragte sich, woher die Musik kam. Hatte man das Radio wieder eingeschaltet? Sie schaute hinüber zu Luke, wollte sich an seiner Präsenz festhalten, doch plötzlich verschwamm das Bild vor ihren Augen, der Boden unter ihren Füßen geriet ins Wanken, während die Musik immer lauter wurde und der Raum sich zu drehen begann, immer schneller und schneller und schneller …
»Schneller, schneller!« Nell tanzte mit ihrem jüngeren Bruder Peter, ihrem Liebling. Er war jetzt acht, ein Flachskopf mit einer Stupsnase und sonnigem Gemüt. Flink und ungestüm wie er war, erinnerte er Nell an sich selbst als Kind. Beim Gehen machte er den Eindruck, als würde er im nächsten Moment davonsausen. Nell musste unwillkürlich an Peter denken, immer wenn sie beim Kochen sah, wie der Dampf den Deckel des Topfs anhob. Als hätte all die Energie, die in ihrem kleinen Bruder steckte, in seinem Körper nicht ausreichend Platz.
Peter tanzte so schnell und schwungvoll, dass Nell außer Atem geriet. Sie drehten sich lachend im Kreis, mitten in der überfüllten Halle, bis sie vor Vergnügen kreischten.
Der Winter hielt die Stadt in seinem eisigen Griff. Durch die bittere Kälte waren die Straßen von Glatteis überzogen, doch drinnen im Haus der Maskewes war die Halle aufgeheizt von den Leibern der großen Gästeschar, und sie erstrahlte im Licht der unzähligen Kerzen. Im Kamin prasselte ein gewaltiges Feuer. Die Männer, die davorstanden, hatten ihre pelzverbrämten Umhänge zurückgeschlagen, und ihre vom Wein geröteten Gesichter glühten im Schein der Flammen. Es ging ums Geschäft, wie immer bei diesen Männern. Mehrmals hatte Nell beobachtet, wie sie in die Handflächen spuckten und dann mit einem Handschlag das Geschäft besiegelten. Sie waren Kaufleute, selbst an Weihnachten.
Ihre Ehefrauen hatten sich in eine andere Ecke der Halle verzogen, klatschten und tratschten, nickten und schüttelten die Köpfe, hoben ihre Stimmen, um die Musik und die stampfenden Schritte der Tanzenden zu übertönen. Die langen Tafeln waren abgeräumt und an die Wände geschoben, damit das Jungvolk tanzen konnte, und die Musikanten in der Ecke trommelten, flöteten und zupften, was das Zeug hielt.
Für Nell, die sich mit Peter mitten auf der Tanzfläche im Kreis drehte, verschwamm der Raum zu einem einzigen Wirbel aus Farben und Geräuschen. Immer schneller drehten sie sich, bis Nell schwindlig wurde, bis jäh dieser seltsame Moment auftrat, wo alles kreischend zum Stillstand kam. Die anderen Leute trudelten fort, und sie stand allein inmitten der großen Halle. Peter war verschwunden; Mr Maskewes prächtige Gobelins waren verschwunden. Keine Kissen, keine Kerzen mehr. Kein Feuer im Kamin, keine im Schein der Flammen schimmernden Zinnbecher. Der Raum war kahl, öde, bar jeder Farbe, jeder Wärme, jeden Lebens. Nell war so bestürzt, dass sie strauchelte.
Doch im nächsten Moment schon schwenkte Peter sie wieder im Kreis, ihre Umgebung kehrte an ihren gewohnten Platz zurück. Nell blinzelte ein paarmal, doch das seltsame Bild von vorhin blieb verschwunden. Alles war so, wie es sein sollte.
»Was quält dich?«, fragte Peter laut, um die Musik zu übertönen, und blickte Nell stirnrunzelnd ins Gesicht, doch diese schob das Bild der öden Halle resolut beiseite und zauberte wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht. Heute war Weihnachten. Eine Zeit, in der man fröhlich war, sich nicht seltsamen Tagträumen hingab.
»Nichts«, erwiderte sie, als der Tanz mit einem Paukenschlag endete. Die Tanzenden, atemlos und erhitzt, lachten und applaudierten und baten um eine Zugabe. »Mir geht es gut«, beruhigte sie ihren Bruder.
»Dann lass uns weitermachen!« Peter packte ihre Hand, doch Nell zögerte.
»Später«, vertröstete sie ihn. »Ich will erst mit Tom tanzen.« Gedankenverloren drehte sie den Granatring an ihrem Finger, während ihre Blicke suchend durch die Halle schweiften. Tom wirkte den ganzen Tag schon nervös und angespannt, was gar nicht zu ihm passte. Sie wollte zu ihm, ihn berühren, ihn dazu bringen, wieder zu lächeln.
»Du kannst beim nächsten Mal mit Tom tanzen«, widersprach Peter. »Komm jetzt, schnell, sonst drängen sie uns aus der Reihe!«
Doch eine andere Stimme schob sich dazwischen, ehe Nell ihrem kleinen Bruder antworten konnte. »Tanz mit mir.« Ein Befehl, keine Bitte.
Die Stimme gehörte Ralph Maskewe, prächtig anzusehen in seinem kunstvoll bestickten Wams aus rotem Samt und der geschlitzten kurzen Hose. Seine langen Strümpfe waren makellos rein und saßen perfekt, seidene Bänder um die Knie verhinderten, dass sie rutschten. Steif bauschte sich seine gestärkte, schneeweiße Halskrause. Oh, er war mit Abstand der bestgekleidete und ansehnlichste Mann im ganzen Saal. Niemand konnte dies leugnen.
Ralph war stets höflich, stets aufmerksam, doch irgendetwas an diesen kieselgrauen Augen stieß Nell immer noch ab. Sie mochte den Blick nicht, mit dem er sie ansah – als würde er sie festnageln, niederhalten wollen, ein Schmetterling unter der erhobenen Pfote einer Katze.
Ralph streckte ihr seine Hand entgegen. »Tanz mit mir«, wiederholte er, während Peter sich verdrückte und dabei hinter Ralphs Rücken eine Grimasse schnitt.
Nun wäre es ein Gebot des Anstands gewesen, dass Nell vor Ralph knickste und sich höflich bedankte. Dass sie ihre Hand lächelnd in seine legte und sich von ihm zur Tanzfläche führen ließ, doch etwas in ihr begehrte auf. Sie wurde die Überzeugung nicht los, dass Ralph sie nur deshalb um den Tanz bat, weil er wusste, dass es ihr widerstrebte, ihn zu berühren.
»Ich danke Euch, aber ich warte auf Tom«, erwiderte Nell, die Hände flach an ihre steifen Röcke gelegt.
»Tom ist in Gesellschaft seines Lehrherrn«, erklärte Ralph. Seine Stimme war weich und glatt, aber irgendwie klebrig, wie die Schleimspur von Schnecken, die man frühmorgens auf den Steinen sah. Jedes Mal, wenn Nell sie hörte, verspürte sie das Bedürfnis, sich das Gesicht zu waschen.
Er deutete hinüber zum Kamin, wo Tom in der Tat bei Mr Todd stand. In Anbetracht des Feiertags hatte Tom sein bestes Wams und seine beste kurze Hose angezogen. Doch er wirkte steif darin, als würde er viel lieber seine gewohnte Kniehose und seine lederne Joppe tragen, und jäh verspürte Nell zwischen ihren Schulterblättern einen feinen Stich des Unbehagens. Etwas stimmte nicht. Es war nicht nur die Kleidung, sondern hatte mit seiner Körperhaltung zu tun, der Art, wie er die Schultern einzog, wie der Muskel in seiner Wange zuckte. Es passte nicht zu Tom, so ernst auszusehen.
»Komm, Nell.« Ein feines Lächeln spielte um Ralphs Mundwinkel. Er genoss ihr Unbehagen. »Du wirst dir eine bessere Ausrede ausdenken müssen.«
Nell fiel keine ein. Trotzig reckte sie das Kinn. »Ich bin jetzt Eleanor«, erwiderte sie stattdessen. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Mein Bruder nennt dich Nell.«
»Das ist etwas anderes.«
»Wieso das?«
»Tom und ich sind miteinander verlobt.«
Ralph schüttelte mitleidig den Kopf. »Dem ist wohl nicht so, denke ich«, sagte er. »Tom hat mit unserem Vater gesprochen, und mit deinem. Sie sind einer Meinung. Tom hat seine Lehrzeit noch nicht beendet. Er kann sich derzeit keine Ehefrau leisten, und wenn er einmal dazu in der Lage sein wird, braucht er eine, die ihm zur Ehre gereicht.«
»Tom hat mir alles erzählt«, entgegnete Nell. »Ich bin ein ungestümer Wildfang, die aufmüpfige Tochter eines verarmten Kaufmanns, kurzum, keine gute Partie für einen Maskewe, wie Euer Herr Vater findet.« Nells Stimme verriet ihre Verbitterung.
»Kannst du es leugnen?«
Nell krallte ihre Finger in den Stoff ihres Rocks. »Ich wäre Tom ein gutes Eheweib«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich werde ihm eins sein. Wir wissen, dass man uns in Bälde nicht heiraten lässt. Es ist nicht von Belang. Ich werde in der Zwischenzeit keinen anderen heiraten, und Tom wird ebenfalls ledig bleiben. Wir haben einander die Ehe versprochen. Er hat mir einen Ring geschenkt – seht Ihr?« Sie hielt ihre Hand hoch, und der Granatstein an ihrem Finger funkelte im Kerzenschein. »Und ich habe ihm ein Messer geschenkt. Wir haben unser Gelöbnis vor Zeugen abgelegt. Es ist abgemacht.«
»Abgemacht?« Ralphs Lächeln verwandelte sich in ein spöttisches Grinsen. »Du verstehst nichts von Abmachungen, Eleanor. Es braucht mehr als einen billigen Ring und ein Messer, damit ein Verlöbnis zustande kommt. Ich rate dir dringend, mach dir nicht meinen Vater zum Feind«, fügte er mit seidenweicher Stimme hinzu, worauf sie, die Drohung erkennend, einen Schritt zurückwich.
»Ich will mir niemanden zum Feind machen«, erwiderte sie beherzt. »Ich will nur Tom heiraten.«
»Hast du nicht gelernt, dass man nicht immer alles bekommt, was man haben will?«, versetzte Ralph. »Nun komm schon, nimm dein Kinn herunter und lass uns tanzen.« Er streckte ihr in einer gebieterischen Geste erneut die Hand entgegen. »Du solltest freundlich zu mir sein, Eleanor«, fügte er hinzu. »Wenn du klug bist, solltest du versuchen, mich auf deine Seite zu ziehen.«
Er hatte recht, wie Nell zugeben musste. Sie sollte klüger und umsichtiger vorgehen. Trotzdem, allein die Vorstellung, ihre Hand in seine zu legen, war ihr zutiefst zuwider. Doch wie sie sehr wohl wusste, hatte sie keine andere Wahl. Tom stand halb von ihr abgewandt neben dem Kamin, nickte zustimmend zu irgendeiner Bemerkung seines Masters. Er konnte nicht zu ihrer Rettung herbeieilen, und wieso sollte er auch? Ralph war sein Bruder. Ralphs Vater war der Taufpate ihres kleinen Bruders. Nell hatte keinen Grund, nicht mit Ralph zu tanzen.
Sie setzte ein Lächeln auf, legte ihre Finger in seine kühle Hand. Sie war weder feucht noch verschwitzt oder schmutzig, dennoch war Nell so angeekelt, dass sie unwillkürlich ein klein wenig zurückzuckte. Ralph wusste Bescheid. Er lächelte, als er sie zum Tanz führte.
»Du siehst sehr hübsch aus heute Abend, Eleanor«, sagte er nach einer Weile, mit einer Zärtlichkeit in der Stimme, die sie noch mehr erschauern ließ als seine Häme.
»Ich dachte, ich sei ein Wildfang?«
»Ein schöner Wildfang.«
Nell mochte es nicht, dass Ralph sie schön fand. Sie hatte sich für Tom gekleidet und zurechtgemacht, hatte sich zufrieden begutachtet, als sie und Alice einander das Mieder geschnürt hatten. Nells Mieder war bestickt, ihre Röcke standen dank des Polsterrings um ihre Hüften hübsch weit ab und raschelten gefällig beim Tanzen. Weil Weihnachten war, hatte sie ein rotes Band um den Ausschnitt ihres Hemds gefädelt und ihren Kragen und die Abschlüsse ihrer Ärmel mit Rüschen besetzt.
»Du siehst schön aus«, hatte Alice bemerkt, während sie zu guter Letzt Nells Röcke zurechtzupfte.
Es gefiel Nell, von Alice als schön bezeichnet zu werden, doch aus Ralphs Mund hörte sich das Wort irgendwie falsch und ungut an.
Nell wünschte, sie würde statt mit ihm wieder mit Peter tanzen. Der jetzige Tanz war langsamer, getragener, doch die anderen Tänzer machten bald eine Tollerei daraus. Nicht jedoch Nell und Ralph. Sie drehten sich gemessen im Kreis, verbeugten sich voreinander, legten ihre Handflächen aneinander, ehe sie sich erneut drehten, wobei Nell überallhin schaute, nur nicht in Ralphs Gesicht.
Die Musikanten spielten, die Tänzer drehten sich. Zwischen all den Köpfen und Schultern erhaschte Nell einen Blick auf Tom. Mr Todd hatte sich in der Zwischenzeit Mr Maskewe zugewandt, und Tom spähte nun in Richtung Tanzfläche. Hielt Ausschau nach ihr. Seine Miene war ernst, entschlossen.
Die nächsten Tanzschritte führten Nell weiter von Tom fort, und sie reckte den Hals, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Endlich bemerkte er sie, und wie immer, wenn sie einander erblickten, meinte sie, diesen kleinen Ruck zu spüren, dieses Gefühl, dass nun alles wieder eingerastet und richtig war, wie wenn ein guter Schreiner Schwelle und Balken passgenau zusammenfügt. Und wie immer lächelten die beiden sich an. Sie konnten gar nicht anders.
Doch schon im nächsten Moment erstarb Nells Lächeln, als nämlich Ralphs Finger sich jäh und schmerzhaft um ihre Hand schlossen. Der Griff währte nur eine Sekunde, nur so lange, wie die Tanzschritte dauerten, um Nell im Kreis zu führen, dann ließ er ihre Hand wieder los.
»Ich bitte um Vergebung«, sagte er und lächelte angesichts ihrer Miene. »Ich habe doch nicht zu fest zugepackt?«
Nell befeuchtete ihre Lippen. Ihre Hand schmerzte, und Unbehagen befiel sie, als sie dieses Lächeln in seinem Gesicht bemerkte, das irgendwie seltsam, ja, krank wirkte. Ralph war wütend, wie sie erkannte. »Nicht der Rede wert«, sagte sie nach kurzem Zögern, dennoch war sie von nun an peinlich darauf bedacht, nicht mehr zu Tom hinzusehen.
Der Tanz schien ewig zu dauern, doch endlich legten die Musikanten ihre Instrumente beiseite und labten sich an dem Bier, das man ihnen hingestellt hatte. Nell, die Lider gesenkt, machte vor Ralph einen Knicks.
»Ich danke Euch für den Tanz«, sagte sie.
»Nell!« Tom fasste sie an der Hand, noch während Nell, Ausflüchte murmelnd, im Begriff war, vor Ralph zu flüchten. Sie überlegte nicht, wohin, wusste nur, sie musste schleunigst weg von diesem Mann.
»Oh, Tom!« Sie klammerte sich erleichtert an seinen Arm. »Wo warst du? Ich musste mit deinem Bruder tanzen.«
»Das ist mir nicht entgangen. Aber du hattest keine Freude dabei.«
»Er macht mir Angst«, gestand Nell.
»Er ist ein kalter Fisch, aber er meint es nicht böse«, verteidigte Tom seinen Bruder, wie es seine Art war. In Wahrheit kannte er Ralph nicht wirklich. Tom konnte nicht begreifen, warum Nell seinen Bruder so wenig leiden mochte. Sie hatte Tom nie von ihrem Verdacht erzählt, dass Ralph es war, der sie damals in der Truhe eingeschlossen hatte. Sie verschwieg ihm auch jetzt, dass Ralph ihr eben beim Tanzen Schmerz zugefügt hatte. Denn selbst wenn Tom ihr glauben würde, was könnte er gegen seinen älteren Bruder ausrichten?
Plötzlich hatte Nell das Gefühl, ersticken zu müssen. Die Hitze und der Lärm in der Halle erdrückten sie förmlich.
»Hier drinnen ist es so heiß«, sagte sie zu Tom. »Gehen wir kurz an die frische Luft.«
Sie stahlen sich hinunter in den Hof, beachteten das Pärchen nicht, das in dem dunklen Schatten unter der Treppe zugange war, ignorierten das gedämpfte Keuchen und Stöhnen der beiden, das Rascheln der bis zur Taille hochgeschobenen Röcke, das auch der Lärm, der aus dem Festsaal nach draußen drang, nicht ganz ersticken konnte.
Draußen glitzerten die mit Raureif überzogenen Dächer im Sternenlicht, es herrschte eine solche Eiseskälte, dass Nell mit den Zähnen klapperte.
Tom trampelte mit den Füßen. »Ich hätte einen Umhang mitnehmen sollen«, sagte er.
»Mir macht die Kälte nichts aus«, erwiderte Nell, obwohl ihr die eisige Luft in die Wangen schnitt und Tränen in die Augen trieb. Ihr Atem stand als weiße Wolken zwischen ihren Gesichtern. »Ich habe den ganzen Abend nichts von dir gehabt.«
»Ich weiß.« Tom holte tief Luft, atmete langsam aus. »Ich soll nächstes Frühjahr wieder nach Hamburg gehen«, kündigte er unvermittelt an. »Mr Todd hat heute Abend mit meinem Vater geredet. Sie sind sich einig.«
Die Taubheit in Nells Zehen breitete sich in ihrem Körper bis hinauf zu ihrem Herzen aus. »Für wie lange?«
»Ein Jahr, oder zwei. Vielleicht auch länger.«
»Zwei Jahre!«, rief sie erschüttert aus.
»Es ist Teil meiner Lehrzeit. Du weißt doch, wie es ist, Nell.«
Ja, das wusste sie. Sie hatte es immer gewusst. Tom hatte den Beruf des Kaufmanns erlernt. Jetzt sollte er die Geschäfte seines Lehrherrn im Ausland betreuen und seine Ausbildung vervollständigen. Nicht alle jungen Männer hatten so viel Glück. Nell sollte sich für ihn freuen.
»Wir wussten, dass es einmal so kommen wird«, fuhr Tom unbeirrt fort. Er war Nell heute Abend aus dem Weg gegangen, bis er den Mut aufgebracht hatte, es ihr zu sagen.
»Ich weiß. Es ist nur …« Nell konnte den Satz nicht beenden. Ihr war zwar die ganze Zeit klar gewesen, dass es nicht so weitergehen würde mit ihnen beiden, doch jetzt, wo es tatsächlich feststand, erschütterte die Nachricht sie bis ins Mark.
Nell war keine Närrin. Weder sie noch Tom besaßen die Mittel, um zu heiraten. Doch solange es möglich war, sich hin und wieder für ein paar Stunden wegzustehlen oder wenigstens einen heimlichen Kuss in irgendeinem dunklen Gässchen zu tauschen, so lange hatte Nell sich geweigert, an die Zukunft zu denken. Sie hatten aufgepasst, so gut sie es vermochten, doch ehrlich gesagt hatten sie es miteinander getrieben, wo immer sich Gelegenheit bot, sei es unter freiem Himmel oder an eine Hauswand gelehnt. Nell hatte heimlich die alte Mutter Dent aufgesucht, die kräuterkundige weise Frau, die auf der Gemeindeflur lebte, weit außerhalb der Stadt. Nell war nicht die erste junge Maid, die bei der Alten aufkreuzte, und würde sicher nicht die letzte sein. Für einen Penny und ein Stück Käse zeigte ihr Mother Dent die Stellen, wo der Weiße Andorn wuchs, dieses Kraut mit den kantigen Stielen, den behaarten runzligen Blättern; wie man den Pflanzensaft mit Honig vermischte oder die Blätter trocknete und daraus ein Tränklein braute. Nell und Tom waren vorsichtig, und sie hatten Glück, aber ihr Geheimnis blieb nicht lang verborgen. Bald wusste jedermann, dass die beiden ein Liebespaar waren.
»Wie soll ich es aushalten ohne dich?«, jammerte Nell.
Da nahm Tom sie in die Arme. Er sagte nichts, doch er drückte sein Gesicht in ihr Haar, während er sie eng umschlungen hielt. Er packte Nell so fest, dass es beinahe so wehtat wie vorhin, als Ralph ihre Hand umklammert hielt, doch diesmal begrüßte Nell den Schmerz. Als Toms Finger sich durch ihr Mieder bohrten, spürte sie, wie es ihr das Herz zerriss. Sie umfing ihn mit der gleichen Verzweiflung, ohne sich darum zu kümmern, dass sie womöglich beobachtet wurden. Das Wissen, dass Tom eines Tages wieder fortgehen würde, hatte seit jenem Pfingstsonntag unten an der Foss in einem Winkel ihres Verstands genistet. Sie hatte es so gut wie möglich verdrängt, doch nun war es an die Oberfläche gekommen und ließ sich nicht mehr ignorieren.
»Ich werde dich vermissen«, sagte Tom, ohne das Gesicht aus ihrem Haar zu nehmen. Ihre samtene Kappe war nach hinten gerutscht, gleich würde sie zu Boden fallen.
»Ich werde auf dich warten«, versprach Nell verzweifelt. »Du bist mein Verlobter, was immer unsere Väter auch dagegen sagen werden.« Sie löste sich ein wenig aus seiner Umarmung und zeigte ihm den Ring an ihrem Finger. »Dies war dein Geschenk an mich«, erklärte sie mit Leidenschaft. »Ich weiß, was das bedeutet. Es wird nie einen anderen Mann in meinem Leben geben«, beteuerte sie. »Ich habe es geschworen.«
Nell presste sich wieder an seinen warmen Körper. »Vielleicht wird es gar nicht so schlimm werden.« Sie bemühte sich, tapfer zu sein, aber ihrer Stimme mangelte es an Überzeugung. »Zumindest wirst du frei sein, wenn deine Zeit dort um ist. Dein Vater wird dich unterstützen, und wenn du einmal selbst Kaufmann bist, kannst du tun, was dir gefällt. Dann werden wir heiraten. Wir haben immer gewusst, dass wir damit noch warten müssen.«
Ihre Füße waren gefühllos von der Kälte, aber sie ertrug es nicht, sich aus Toms Armen zu lösen. Durch sein gepolstertes Wams spürte sie sein Herz schlagen. Er wollte sie nicht verlassen, das wusste sie, aber ihr war auch klar, dass er sich auf die kommende Zeit freute. Er sehnte sich danach, übers Meer zu fahren, das schwankende Deck unter seinen Füßen zu spüren, seine Nase in den Wind zu halten, die Gischt auf seinem Gesicht zu spüren, sich das Salz von den Lippen zu lecken. Es würde ihm in Hamburg gefallen. Vielleicht würde er über den Geschäftsbüchern seines Masters brüten, aber er würde auch seine Hände in Säcke voll duftender Gewürznelken tauchen, Ballen getrockneten Ingwers auswickeln. Er würde kostbare Trinkgläser prüfend ins Licht halten und mit der Hand über edle Pelze streichen. Er würde dem Ächzen und Stöhnen der Planken lauschen und den Flüchen der Matrosen. Seine Welt würde weit werden.
Und sie würde in York zurückbleiben.
Ärger wallte in Nell auf, weil es so ungerecht war. Ja, es würde eine harte Zeit für Tom werden, doch für sie noch viel härter. Sie konnte nur zu Hause sitzen und warten.
Doch dies war eben das Los der Frauen, wie sie sich ermahnte. Sie lehnte den Kopf zurück und zwang sich zu einem Lächeln.
»Lass uns nicht vor der Zeit allzu trübsinnig werden«, sagte sie. »Noch ist nicht Frühjahr. Wir sollten die Tage genießen, die uns noch bleiben.«
Sie gaben sich alle Mühe, doch das Wissen, dass er bald fortgehen würde, stand ständig zwischen ihnen. Nell versuchte, jeden Augenblick, den sie noch mit Tom hatte, festzuhalten. Früher hatte Nell stets über den Winter gejammert. Es missfiel ihr, morgens in einer eiskalten Kammer aufzuwachen, auf ihre erstarrten Hände zu blasen, wenn sie am Markt einkaufte. Sie hasste den Regen, der Tag für Tag vom Himmel fiel, die Straßen in einen Morast verwandelte und sich über die verstopften Rinnsteine ergoss. Früher hatte Nell stets den Frühling herbeigesehnt, es nicht erwarten können, sich aus der Stadt zu stehlen, hinaus zu den Gärten in Paynley’s Crofts. Am wohlsten hatte sie sich stets außerhalb der Stadtmauern gefühlt, wo Licht und Raum war, wo sie nicht das Gefühl hatte, eingesperrt zu sein. Sie ging gern Old Dick zur Hand, wenn er den Gemüsegarten der Harrisons bestellte, dort Zwiebeln, Rüben, Rettiche und Salat pflanzte. Auch Kräuter zogen sie dort: Reihen von Rosmarin und Lavendel, Sauerampfer und Thymian, Wurmkraut, Weinraute und Baldrian. Das Frühjahr war die Zeit, wo Nell auf dem Gartenboden kniete, ihre Finger in die warme Erde drückte und Unkraut jätete, damit die Keimlinge ungehindert wachsen konnten. Alice fand das befremdlich, doch für Nell bedeutete der Frühling die Chance, endlich der Enge der Straßen und Häuser zu entfliehen. Dann durfte sie ihren Korb nehmen und draußen Kräuter und Wildblumen sammeln, die für die Kräuterkammer benötigt wurden. Und wenn sie Glück hatte, ergab sich daraus die Gelegenheit zu einem Stelldichein mit Tom.
Der Frühling war ihre liebste Jahreszeit, doch in diesem Jahr fürchtete sie sich vor seiner Ankunft. Der Winter verging allzu schnell. Kaum hatte man Dreikönig gefeiert, kam schon Mariä Verkündigung, und kurz darauf feierten sie Ostern. Toms Lehrherr begab sich nach Hull, um die Überfahrt nach Hamburg zu regeln, und Tom blieb nichts anderes übrig, als sich allmählich von seiner Familie und seinen Freunden zu verabschieden.
»Es ist bald so weit«, setzte Tom Nell in Kenntnis. Seine Siebensachen steckten bereits in der Segeltuchtasche, die er sich über die Schulter hängen würde. »Ich erhalte Bescheid, wenn das Boot zum Auslaufen bereit ist, und dann komme ich zu dir und sage Lebwohl.«
Jetzt wünschte Nell sich fast, es wäre bereits so weit. Sie fürchtete sich schon so lange vor diesem Moment. Innerlich war sie gefasst und unbewegt, gefeit für den Augenblick, da sie ihn ziehen lassen musste. Die Worte, die ihnen einst so mühelos von den Lippen gingen, waren jetzt, wo die Zeit des Abschieds immer näher rückte, zu einem zähen Brei erstarrt. Es gab zu viel zu sagen, und doch fehlten ihnen die Worte. Je früher Tom fortging, desto eher würde er zurückkehren, redete Nell sich ein.
Sie dachte, sie hätte sich gewappnet, doch als der Augenblick kam, traf es sie wie ein Schlag in die Magengrube. Es war ein strahlender Aprilmorgen, ein frischer Wind wehte, der Nell Tränen in die Augen trieb, während sie die Teppiche im Innenhof der Harrisons ausklopfte. Sie hatte noch keine Nachricht von der Anlegestelle bekommen, sodass eine weitere Nacht banger Ungewissheit vor ihr lag, in der sie sich fragen würde, ob es das letzte Mal war und sie ihn nun zwei lange Jahre nicht würde sehen, berühren können.
Staub wirbelte durch die Luft, Nell hustete und spuckte, als plötzlich ein kleiner Bub aufgeregt in den Hof gelaufen kam. »Ihr müsst jetzt kommen«, rief er atemlos. »Master Tom muss jetzt gleich aufs Boot. Er sagt, ich soll Euch ausrichten, Ihr sollt Euch sputen.«
Nell nahm sich nicht die Zeit, ihre Schürze abzunehmen. Sie holte nicht die Erlaubnis ihrer Mistress ein. Sie ließ auf der Stelle den Teppichklopfer fallen, raffte ihre Röcke und rannte die Ousegate hinunter, ohne die Bürgersfrauen zu beachten, welche, die Lippen missbilligend geschürzt, an ihren Haustüren saßen, oder die Lehrjungen, die hinter ihr herpfiffen und johlten. Sie lief um die Haufen von Pferdeäpfeln, sprang über Rinnsteine und hätte fast Henry Judd umgerannt, der gerade seinen Verkaufsstand aufbaute. Wütend schaute er ihr nach, schüttelte die Faust, doch Nell blieb nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Eine schreckliche Ahnung, dass sie zu spät kommen würde, hatte sie befallen, die Panik trieb sie unerbittlich voran, hetzte sie über das holprige Pflaster, bis sie endlich bei der Anlegestelle anlangte, außer Atem, die Hand in ihre stechende Seite gepresst.
»Tom!«
Sie luden gerade die letzten Stoffballen auf das Flussschiff, in dessen Bug bereits Toms Segeltuchtasche verstaut war.
Der Matrose des Flussschiffers hisste schon das Segel, das im Wind schlug und knatterte, während der Schiffer selbst, darauf bedacht, den Gezeitenstrom zu nutzen, ungeduldig am Kai auf und ab lief und alle, die mitkommen wollten, drängte, an Bord zu gehen.
»Nell!« Tom zog sie hinter einen Stapel Fässer. »Ich dachte schon, ich müsste fort, ohne dich noch einmal gesehen zu haben! Ralph hat mich den ganzen Vormittag hier festgehalten, und dann hat er ganz unvermittelt entschieden, dass wir den Tidenwechsel nutzen müssen …« Verzweifelt küsste er sie, während sie sich an ihn klammerte. Sie hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein, ihm lächelnd Lebwohl zu sagen, doch jetzt war sie einfach bis ins Mark erschüttert, dass die Zeit des Abschieds wirklich gekommen war und er nun gleich fortmusste.
»Ich liebe dich«, sagte sie mit zittriger Stimme und bedeckte sein Gesicht mit verzweifelten Küssen. »Ich liebe dich.«
Sie konnte es nicht fassen, dass sie ihn nun zwei lange Jahre nicht mehr berühren würde. Nicht mehr ihr Gesicht in die Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter drücken und seinen süßen, vertrauten Geruch einatmen könnte.
»Die Zeit vergeht so schnell«, versuchte Tom sie zu trösten. »Hamburg liegt nicht am Ende der Welt. Derselbe Mond wird auf uns beide herabscheinen, Nell, und egal, wo ich bin, ich werde zu ihm hinaufschauen und an dich denken.«
Dieser Gedanke war tröstlich, und Nell griff danach wie nach dem rettenden Strohhalm. »Und du wirst wissen, dass ich ebenfalls hinaufblicke und von dir träume und auf deine Heimkehr warte.«
Tom nickte, zwang sich zu lächeln. »Der Mond wird unser Bote sein. Jedes Mal, wenn du ihn ansiehst, wird er dich daran erinnern, dass ich dich liebe, dass ich zu dir zurückkommen werde, dass ich dich nicht vergessen habe.«
Nells Lächeln wirkte angestrengt, aber es war da. »Ich werde hinaufsehen«, versprach sie. »Jede Nacht, wenn ich zu Bett gehe, werde ich nach einer Botschaft von dir Ausschau halten.«
»Du wirst dein Versprechen halten?« Tom schaute sie eindringlich an.
»Eher sollen mich wilde Pferde entzweireißen, als dass ich meinen Schwur breche«, erwiderte sie leidenschaftlich. »Ich werde dir treu sein.«
»Die Gezeiten wechseln!«, rief der Schiffer. »Wenn Ihr jetzt nicht kommt, fahre ich ohne Euch.«
»Geh jetzt.« Nell schob Tom von sich, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Er musste fort. Er hätte keine Zukunft vor sich, wenn er seine Lehre nicht beendete, und dazu gehörte eben, dass er ins Ausland ging und lernte, wie sein Master dort sein Geschäft führte. »Geh.«
Also ging er. Er ließ ihre Hand los und machte noch einen verzweifelten Schritt zurück, ehe er zu dem Boot rannte, wo der Schiffer bereits die Laufplanke hochzog. Tom sprang an Bord, gerade als die Matrosen begannen, sich mit ihren langen Stangen vom Kai abzustoßen.
Mit tränenlosen Augen stand Nell da, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, während sich ein Bleigewicht in ihr Herz senkte. Der Wind riss an ihrer Haube, schlug ihr ins Gesicht, doch sie bemerkte es kaum. Sie beobachtete, wie die Männer das zweite Segel hissten, das sich knatternd aufblähte. Das Schiff hatte bereits vom Kai abgelegt.
Am liebsten hätte sie Tom zugerufen, er solle die Matrosen auffordern umzukehren. Sie musste ihm unbedingt begreiflich machen, dass sie die Trennung nicht ertrug. Doch das Boot hatte bereits die Strömung erreicht, entfernte sich zügig, und Tom wurde immer kleiner. Eine Windbö erfasste es, sodass es sich auf die Seite legte, sich kurz darauf aber wieder aufrichtete und weitersegelte, ehe es hinter der sanften Biegung des Flusses verschwand.
Tom war fort.
Steif und schwerfällig wie eine alte Frau drehte Nell sich um und sah sich unvermittelt Ralph Maskewe gegenüber, der sie beobachtet hatte. Seine kieselgrauen Augen schimmerten gefährlich, und obwohl Nell wie benommen war, zuckte sie bei seinem Anblick zusammen.
»Ich bringe dich zu deiner Mistress zurück«, erklärte er.
Nell schüttelte stumm den Kopf. Das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte, war Gesellschaft, und am allerwenigsten jene von Toms Bruder. Ralph ließ sich nicht davon abbringen. Er bestand darauf, dass sie seinen Arm nahm, und schließlich gehorchte sie, denn was spielte es für eine Rolle? War denn noch irgendetwas von Bedeutung, jetzt, wo Tom gegangen?
Sie warf einen Blick über die Schulter zu der Stelle, wo ihr Liebster eben noch gestanden hatte, als könnte er wie durch ein Wunder wieder auftauchen, aber das geschah natürlich nicht. Ralph drängte sie vorwärts, die Gasse hinauf, zurück in die Welt, in der es keinen Tom mehr gab.
»Du solltest in dieser Gegend besser nicht allein unterwegs sein«, sagte Ralph. »Heutzutage ist es nicht mehr sicher hier. Hast du es nicht gehört? Gestern in der Früh hat man wieder einen Leichnam gefunden. Ein abgefeimter Schurke, zweifellos, und er treibt sich hier herum auf der Suche nach jungen Mädchen, wie du eins bist.«
Nell war in Gedanken bei Tom, der nun in die Ferne segelte, fort von ihr. Sie raffte sich zu einer Antwort auf. »Nicht wie ich«, erwiderte sie tonlos. »Ich dachte, all diese jungen Mädchen wären Herumtreiberinnen gewesen.«
»Das habe ich auch gehört, aber es könnte ja sein, dass der Geschmack dieses Ungeheuers sich einmal ändert, und schließlich wissen wir alle, wie leichtsinnig du bist, Nell.«
Ihr Name in seinem Mund erweckte in Nell ein ungutes Gefühl. Sie stellte sich vor, wie seine Zunge das Wort gegen seine Zähne schob.
»Eleanor«, sagte sie resolut. Nell war sie nur für Tom und sich selbst. »Ich bin jetzt Eleanor. Und ich danke Euch für Eure Fürsorge, aber Ihr braucht Euch meinetwegen keine Gedanken zu machen. Ich werde von nun an im Haus bleiben.«
Der Wind schlug ihr immer heftiger ins Gesicht. Nein, nicht der Wind, erkannte sie. Jemand klopfte ihr auf die Wangen.
»Tess? Komm schon, Tess, wach auf.«
»Was hat sie? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
»Ich glaube, sie ist einfach ohnmächtig geworden – ah, jetzt kommt sie wieder zu sich … Tess? Hörst du mich?«
Sie kannte die Stimmen nicht. »Tom?« Sie tastete nach seiner Hand, und die Finger, die sie umschlossen, waren hart und schwielig wie die von Tom und beruhigend fest und warm.
»Alles ist gut. Bleib einfach kurz liegen.«
Ihre Lider flatterten und öffneten sich, und sie schaute verständnislos in ein fremdes Gesicht mit stechenden grauen Augen, zerzaustem Haar und den Bartstoppeln eines Schurken. Augenblicklich entriss sie ihm ihre Hand und wich angstvoll zurück. Was, wenn Ralph nun recht gehabt hatte und dies der Schurke war, der schutzlosen jungen Mädchen in der Stadt auflauerte? Wie war sie in seine Fänge geraten?
»Tom?« Die Angst verlieh ihrer Stimme einen hohen, dünnen Klang. Verzweifelt blickte sie um sich, suchte nach ihm, doch sie befand sich in einem kahlen, staubigen Raum, ein paar Männer standen um sie herum und betrachteten sie mit seltsamen Mienen.
»Ich bin Luke«, sagte der Schurke.
Jäh und heftig wie eine Brandungswelle brach die Erinnerung über sie herein und hinterließ in ihrem Sog ein Gefühl von Schwindel und Übelkeit.
»Luke …« Mit zitternden Händen fuhr Tess sich durchs Haar. Ja, nun erinnerte sie sich deutlich. Sie war mit Luke zusammen hergekommen, um mit den Handwerkern zu reden. Sie wusste wieder, dass sie die Treppe hinaufgestiegen war und auf das Knarren der Stufe gewartet hatte. Sie erinnerte sich an dieses beängstigende Gefühl, den Ort zu kennen, während ihr Blick durch die leere Halle geschweift war.
»Tut mir leid, ich … was ist passiert?«
»Du hast dort gestanden, und plötzlich bist du umgekippt. Du hast uns einen ziemlichen Schreck eingejagt, das kannst du mir glauben!« Tess rappelte sich mit Lukes Hilfe hoch. »Bist du sicher, dass du schon wieder aufstehen willst?«, fragte er besorgt.
Sie musste sich an seinen Arm klammern, denn die Beine gaben unter ihr nach. »Wie … wie lang war ich … so?«
»Ein paar Minuten, vielleicht. Jedenfalls lang genug, um mir Angst zu machen.«
Ein paar Minuten nur. Doch als Nell hatte sie einen ganzen Winter durchlebt. Schmerz machte sich hinter ihren Augen bemerkbar, und die Kehle wurde ihr eng von nicht geweinten Tränen.
»Ich … verstehe«, brachte sie heraus, doch sie verstand nichts. Rein gar nichts. Die Recovered-Memory-Theorie war ihr als eine schlüssige Erklärung für ihre Träume von Nell erschienen, doch wie konnte ein Traum so real sein, so echt?
Einer der Handwerker holte von irgendwo einen Schemel herbei. »Sicher, dass Sie sich nicht kurz hinsetzen wollen, junge Frau?« Die anderen beäugten sie misstrauisch, als befürchteten sie, Tess könnte sich jeden Moment übergeben oder in Tränen ausbrechen. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Ihr war nach beidem zumute, doch sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Es geht mir wieder gut, ehrlich. Tut mir leid wegen der ganzen Aufregung.«
Luke, immer noch besorgt, blickte grimmig drein. »Ich denke, ich bringe dich lieber ins Krankenhaus.«
»Nein!«, rief Tess abwehrend aus. Im Krankenhaus würde man sie untersuchen und wissen wollen, was passiert sei. Und was sollte sie dann antworten? Oh, ich war nur ein Weilchen im sechzehnten Jahrhundert?
Wenn Martin Wind davon bekäme … Eisiges Entsetzen kroch Tess die Wirbelsäule hoch. »Ich meine, nein, das ist wirklich nicht nötig«, erwiderte sie in gemäßigterem Ton. »Ehrlich. Ich gehe jetzt einfach nach Hause und ruh mich ein bisschen aus.«
Sie hatte Lukes Hand schließlich losgelassen, doch ihre Hände zitterten, und sie taten richtig weh. Sie sah, wie Lukes Blick darauf fiel, und vergrub hastig ihre Finger in den Taschen ihrer Jeans.
»Ich komme mit«, sagte er. »Das Rattenproblem vertagen wir auf später.«
Tess bestand zwar zunächst darauf, es allein zu schaffen, doch am Ende war sie froh über seine Hilfe. Luke, den Tess’ Beteuerungen, es gehe ihr wieder gut, offensichtlich gänzlich unbeeindruckt ließen, brachte sie hinunter auf die Straße und dann nebenan wieder die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Er dirigierte sie ins Wohnzimmer, drückte sie auf das Sofa, holte ein Glas Wasser und reichte es ihr. »Hier«, sagte er brüsk.
Das Wasser rann wunderbar kühl durch ihre ausgedörrte Kehle. »Danke.«
Luke zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, drehte ihn und setzte sich verkehrt herum darauf. »Willst du nicht lieber einen Arzt konsultieren? Das ist jetzt heute schon das zweite Mal, dass du praktisch vor meinen Augen umkippst.«
»Es ist nichts«, erwiderte Tess und umklammerte ihr Glas Wasser. »Ich bin nicht krank, falls du das meinst.«
Seine Augen verengten sich. »Irgendwas stimmt nicht mit dir. Das merke ich doch. Sag mir um Himmels willen endlich, was mit dir los ist, Tess.«