Kapitel 4
»Ich habe Martin kein Wort gesagt!« Sue Frankland hob entrüstet die Stimme.
»Woher hat er dann gewusst, wie er mich kontaktieren kann?« Tess schloss für einen kurzen Moment die Augen, drückte die Fingerknöchel auf die Lider. Ihre Augen brannten, weil sie so wenig geschlafen hatte. Sie hatte Oscar in der Schule abgeliefert und befand sich nun wieder auf dem Heimweg, näherte sich dem Stadttor Monk Bar, während sie ihr Handy ans Ohr presste.
Sie hätte damit rechnen müssen, dass ihre Mutter das schwache Glied sein würde.
»Meine Güte, Theresa! Du hast gesagt, dass am anderen Ende der Leitung niemand war. Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt.«
»Um halb vier morgens?«
»Genau. Wieso sollte Martin dich um diese Uhrzeit anrufen und dann schweigen?«
Um mir Angst einzujagen. Mich wissen zu lassen, dass er meinen Aufenthaltsort kennt.
»Ich weiß, dass er es war«, beharrte Tess.
Sie hatte sich ein neues Handy zugelegt. Sie hatte ihre E-Mail-Adresse geändert und ihren Facebook-Account gelöscht. Ihrer Meinung nach hatte sie alles Notwendige getan, um ihre Spuren zu verwischen. Und dennoch war es Martin irgendwie gelungen, nur wenige Stunden nach dem Auszug aus dem Haus ihrer Mutter, Richards Nummer herauszubekommen, sprich, er wusste nicht nur, wie er Kontakt zu ihr aufnehmen konnte, sondern auch, wo sie sich aufhielt.
Wenn er es gewesen war.
Vielleicht war es doch jemand anderes gewesen. Selbst Martin war nicht in der Lage, sich derart schnell Zugriff auf diese Art Information zu verschaffen, oder?
Oder?
»Hast du denn überhaupt mit ihm geredet?«, fragte Tess ihre Mutter, worauf diese zunächst empört schnaubte und die Beleidigte spielte, aber schließlich zugab, dass Martin am Abend zuvor bei ihr angerufen hatte.
»Also weiß er, dass wir immer noch in York sind?«
»Natürlich weiß er das. Das zumindest musste ich ihm sagen.« Ihre Mutter klang verärgert. »Martin ist sehr in Sorge um dich, Theresa, und um Oscar.« Außer Martin war Sue der einzige Mensch, der sie bei ihrem vollen Namen nannte. »Er ist Oscars Vater. Er hat ein Recht darauf zu wissen, wo sein Sohn sich aufhält.«
»Vorhin hast du behauptet, du hättest es ihm nicht gesagt!«
»Du brauchst mich nicht so anzufahren. Ich habe ihm deine Adresse nicht gegeben, da du so ein Theater deswegen gemacht hast, aber, glaube mir, es war mir überaus peinlich. Ich weiß nicht, wieso du es dir in den Kopf gesetzt hast, dass du Martin nicht trauen kannst. Er war die Liebenswürdigkeit in Person, als er gestern anrief, auch wenn ich ihm angemerkt habe, wie enttäuscht er darüber war, nicht mit dir reden zu können.«
»O ja, er kann sehr liebenswürdig sein, wenn er will«, erwiderte Tess resigniert. Nie im Leben würde es ihr gelingen, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass Martin nicht das Beste war, was ihrer Tochter je hätte widerfahren können. Und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. In den ersten Jahren hatte sie es ja selbst geglaubt.
Sue holte tief Luft. »Manchmal verstehe ich dich einfach nicht, beim besten Willen nicht. Du hattest so ein schönes Leben in London. Martin betet dich an.«
»Mum …«
»Es ist aber so. Man merkt es an der Art, wie er über dich spricht.« Die Stimme ihrer Mutter begann vor Kummer zu beben. »Du hattest dieses wunderschöne Haus, alles, was man sich nur wünschen kann … wenn du mich fragst, bist du einfach zu verwöhnt! Und das alles wirfst du jetzt mir nichts, dir nichts weg, weil du dir diese abstruse Idee in den Kopf gesetzt hast, Martin würde dich tyrannisieren.«
Tess bereute inzwischen, ihre Mutter angerufen zu haben, aber es half nichts, sie musste unbedingt wissen, was diese Martin erzählt hatte. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Es ist keine abstruse Idee, Mutter.«
»Dein Problem, Theresa, ist, dass du schon immer eine allzu blühende Fantasie hattest«, fuhr ihre Mutter fort, Tess’ Einwand schlicht ignorierend.
Auch Martin hatte diesen Satz oft und gern verwendet.
Tess fasste sich an den Nasenrücken. »Mum, ich habe Geschichte studiert. Ich beschäftige mich mit Fakten, Belegen. Ich kenne niemanden, der noch weniger Fantasie hat als ich.«
»Du hast dir immer schon alles Mögliche eingebildet«, fuhr Sue beharrlich fort. »Das war mir manchmal sogar schon peinlich. Weißt du noch, damals, als wir mit dir nach Rievaulx Abbey fuhren?«
»Nein.«
»Doch, denk mal nach. Du bist zwischen den Abteiruinen herumgelaufen, hast auf imaginäre Mönche gedeutet und versucht, mit ihnen zu reden.«
Eine blasse Erinnerung regte sich in Tess. Wie sie ihren Vater an der Hand nahm und beiseitezog, damit er den Mönchen nicht im Weg stand, während diese ihren Tätigkeiten nachgingen. Und dass Tess es eher verwunderlich als schockierend empfand, dass offenbar sie die Einzige war, die diese Gestalten sehen konnte.
»Ich war noch ein Kind«, sagte sie unbehaglich. »Ich kann damals nicht viel älter gewesen sein, als Oscar jetzt ist.«
»Dann kam die Zeit, wo du zu schreien anfingst, wenn wir an Micklegate Bar vorbeikamen, weil du dort über dem Stadttor aufgespießte Köpfe gesehen hast.« Ihre Mutter war offenbar fest entschlossen, ihre Behauptung mit allen Mitteln zu untermauern.
Tess nahm ihr Handy vom Ohr und schaute es an. Noch ein Vorfall, den sie offenbar aus ihrem Gedächtnis getilgt hatte, doch jetzt, wo ihre Mutter ihn erwähnte, erinnerte sie sich in der Tat an die aufgedunsenen, bereits in Verwesung befindlichen Köpfe, die man über dem Stadttor auf Lanzen aufgespießt hatte, an ihre grauenvollen, von Fliegenschwärmen halb verdeckten Fratzen. Tess wurde schlecht. Kein Wunder, dass sie die Erinnerung speziell an dieses Ereignis gelöscht hatte.
Sie runzelte die Stirn. »Wir hatten bestimmt in der Schule was darüber gehört, dass man früher die Köpfe von hingerichteten Verrätern auf den Stadttoren zur Schau stellte.«
»Genau das meine ich ja!«, rief ihre Mutter triumphierend. »Barbara Jessop hat immer behauptet, du wärst so empfindsam, aber ich glaube, dass du einfach irgendwelche Geschichten, die du irgendwann aufgeschnappt hattest, hergenommen und dann maßlos übertrieben hast.«
Nun, besten Dank für diese vorbehaltlose Unterstützung, Mutter, dachte Tess bei sich. Gut zu wissen, dass die eigene Mutter einen für hysterisch, neurotisch und zwanghaft hält.
»Und jetzt machst du das Gleiche mit Martin«, fuhr Sue ungerührt fort. »Du hast irgendeinen albernen Artikel in einer Frauenzeitschrift gelesen oder wo auch immer und siehst dich plötzlich selbst in einer Opferrolle.«
»Wo bist du gewesen?« Martin packt sie am Handgelenk, schüttelt sie, während sie noch in der Tür steht.
»Ich war nur im Supermarkt.« Sie versucht, sich aus seinem Griff zu befreien, damit sie den Kinderwagen ins Haus befördern kann.
»Weswegen?«
»Ich musste Milch kaufen. Martin, lass mich los. Du tust mir weh.«
Er lässt widerstrebend ihre Hand los. »Wen hast du dort im Laden getroffen?«
»Niemanden.«
»Das glaube ich dir nicht. Du hast dich mit diesem Kerl getroffen, stimmt’s?«
»Welchem Kerl?«
»Der, mit dem du dich letztes Wochenende unterhalten hast. Ich hab euch gesehen. Junger Typ. Ohrring. Pferdeschwanz.« Er spuckt die Beschreibung förmlich aus.
Sie hat das Streiten so satt, aber versucht dennoch, sich mit ihm auseinanderzusetzen. »Martin, er hat die Regale eingeräumt. Ich habe nicht mit ihm geredet. Ich habe ihn gefragt, wo ich den Puderzucker finde.«
»Wage es nicht, mich anzulügen!« Ohne Vorwarnung brüllt er los. »Du hast mit ihm geflirtet. Ich habe gesehen, wie du ihn angelächelt und mit ihm geplaudert hast, während er an deinen Lippen hing!«
Oscar fängt bei dem Geschrei zu wimmern an. Tess ist erschrocken über die Aggression, die plötzlich in der Luft liegt.
»Du machst Oscar Angst!«
»Oscar? Oscar? Und was ist mit mir? Du hast Oscar den ganzen Tag gehabt. Ist es denn zu viel verlangt, dass du daheim bist, wenn ich nach einem harten Tag endlich nach Hause komme? Du hast doch sonst nicht viel zu tun, oder irre ich mich?«
Ihr platzt vor Anspannung fast der Schädel. Sie nimmt das Baby auf den Arm, das inzwischen herzzerreißend weint. Sie weiß nicht, wo ihr der Kopf steht, was sie zuerst tun soll. Sie wählt den einfachsten Ausweg. Sie pflichtet ihm bei. Sie sagt sich, das nächste Mal wird sie sich wehren. Ganz bestimmt.
Es endete stets auf die gleiche Weise. Martin verzog sich in seinen Schmollwinkel, bis sie sein beleidigtes Schweigen nicht mehr aushielt und ihn durch Schmeicheleien wieder daraus hervorlockte. Dann bat er sie um Verzeihung, wobei ihm vor Rührung fast die Stimme versagte.
»Das kommt nur davon, weil ich dich so sehr liebe, Theresa. Das weißt du doch, oder?«
Nach einiger Zeit war es einfacher, nicht mehr das Haus zu verlassen, für den Fall, dass er anrief. Einfacher, seinen Vorschlag, in Zukunft online zu bestellen, zu akzeptieren, sodass sie nicht mehr in den Supermarkt zu gehen brauchte. Einfacher, Oscar bereits im Bett zu haben, wenn er abends heimkam.
Es war auch einfacher, den Kontakt mit ihren Freunden gänzlich aufzugeben, statt sich immer neue Ausreden ausdenken zu müssen, warum Martin keine Lust hatte, sich mit ihnen zu treffen. Ein paarmal hatte sie sich aufgerafft und war ohne ihn ausgegangen, mit dem Ergebnis, dass sie sich den ganzen Abend Gedanken machte, ob sie rechtzeitig wieder zu Hause wäre, und nach Oscars Geburt war klar, dass es über die Maßen egoistisch und unverantwortlich von ihr wäre, wenn sie darauf bestünde auszugehen und Martin mit dem Baby allein zu lassen, wo er doch den ganzen Tag hart gearbeitet hatte.
Es war einfacher, ihr Leben immer mehr zu beschneiden, bis fast nichts mehr davon übrig war.
Tess hatte nie jemandem erzählt, wie ihr Leben mit Martin ausgesehen hatte. Sie schämte sich zu sehr.
»Es ist ja nicht so, als würde Martin dich schlagen oder dir sonst was Schlimmes antun«, fuhr ihre Mutter fort.
»Nein«, pflichtete Tess ihr resigniert bei. »Er hat mich nie geschlagen.«
Er hatte sie in der Tat nie geschlagen. Nicht im körperlichen Sinn. Es hatte keinen Zweck, es ihrer Mutter begreiflich machen zu wollen. Sue sah Martin so, wie alle anderen ihn sahen, wie Tess ihn anfangs gesehen hatte: intelligent, gewandt, erfolgreich, attraktiv, Charme und Selbstbewusstsein ausstrahlend. Wenn er einen anschaute, hatte man das Gefühl, als wäre man der einzige Mensch auf Erden, der zählte, als wäre ihm niemand sonst wichtig.
Anfangs war es schmeichelhaft gewesen. So gebraucht, so geliebt zu werden. Der absolute Mittelpunkt im Leben eines anderen Menschen zu sein. Einsam und von dem Leben in London überwältigt, hatte Tess sich von Martin blenden lassen. Irgendwann im Lauf der Zeit war aus dem Umschmeicheln Tyrannisieren geworden, und Martins Welt, in deren Zentrum sie stand, verwandelte sich in einen Ort, an dem Tess sich immer unwohler fühlte.
Tess atmete tief ein, versuchte, die Kopfschmerzen zurückzudrängen, die sich an ihrer Schläfe bemerkbar machten. »Was genau hast du Martin erzählt, Mum?«
Sue schnaubte beleidigt. »Ich habe ihm gesagt, dass es Oscar gut geht und dass du nur ein bisschen Zeit bräuchtest.«
»Du hast ihm nicht meine neue Adresse oder Telefonnummer gegeben?«
»Nein, und ich habe ihm auch nicht deine neue Handynummer gegeben, weil ich sie nicht habe«, rief Sue ihr ins Gedächtnis. Tess hatte anfangs ihrer Mutter ihre gesamten Kontaktdaten verschweigen wollen, doch ihr Misstrauen Sue gegenüber hatte einen so schlimmen Streit heraufbeschworen, dass sie schweren Herzens nachgegeben hatte und nur die Handynummer geheim hielt. Doch anscheinend reichte dies bereits, um ihre Mutter zu verdrießen. »Zufrieden?«
»Ja. Verzeih, Mum, ich bin nur …« Tess ließ den Satz unbeendet. Es war zwecklos, es ihrer Mutter zu erklären. »Wenn Martin sich das nächste Mal bei dir meldet, kannst du ihm dann bitte ausrichten, er möge sich über meine Anwältin mit mir in Verbindung setzen?«
Als Tess schließlich in die Stonegate einbog, hatte sie das Gefühl, ihr Schädel stecke in einem Schraubstock. Während sie vor ihrem Haus stand und unbeholfen mit dem ungewohnten Türschloss hantierte, stieg ihr der Geruch von frisch gesägtem Holz in die Nase, der aus dem Laden nebenan kam, in dem die Handwerker arbeiteten. Sie musste an das Kabinett von Mr Maskewe denken, den heißen Sommernachmittag, an die neue Holzvertäfelung, über die sie tastend mit der Hand gefahren war, bis ihr schließlich die Truhe ins Auge stach. Sie spürte, wie sich bei der Erinnerung ihr Magen verkrampfte.
Wie war sie nur auf die bescheuerte Idee gekommen, sich darin zu verstecken?
Tess wurde schwindlig, sie presste die Hand an die Stirn und lehnte sich gegen die Wand des Treppenhauses. Das war nicht ihre Erinnerung. Sie erinnerte sich an eine Erinnerung, die sie in einem Traum gehabt hatte. Diese war nicht real.
Tess musste sich unbedingt ein wenig hinlegen.
Irgendwie schaffte sie es die Treppe hinauf, sperrte die Tür auf und betrat ihre Wohnung. Eine seltsame Anspannung überkam sie, eine ungute Ahnung. Diese Stille, die drinnen herrschte, ging ihr auf die Nerven.
Mangelnder Schlaf, nichts weiter.
Am Morgen war sie steif und mit schmerzenden Gliedern an ihrem Schreibtisch sitzend aufgewacht, den Kopf auf der Tischplatte, neben ihrem Laptop. Oscar hatte getrödelt, wollte lieber bei Ashrafar bleiben als in seine neue Schule gehen, und Tess hatte völlig unterschätzt, wie lange sie für den Weg brauchen würden, wenn Oscar sich nur im Schneckentempo fortbewegte. Dann das Telefonat mit ihrer Mutter, bei dem Erinnerungen an Mönche und abgeschlagene Köpfe ausgegraben wurden. Kein Wunder, dass ihr der Schädel brummte.
Sie hörte ihren Pulsschlag im Ohr, was die Kopfschmerzen noch verstärkte. Sie würde sich eine Weile hinlegen, die Augen schließen.
Irgendwann später wachte Tess auf, in Panik, weil sie das Gefühl hatte zu ersticken. Ein großes Gewicht lastete auf ihr, drückte sie nieder. Sie wollte sich aufsetzen, konnte aber nicht, und stellte fest, dass die Katze es sich auf ihrer Brust gemütlich gemacht hatte und sie aus großen gelben Augen anstarrte, entrüstet über die Störung, wie es schien. Schließlich musste Tess das schwere Tier hochheben, ehe sie sich aufsetzen konnte.
Tess fühlte sich besser. Die Kopfschmerzen hatten sich nahezu verflüchtigt, und nachdem sie sich das Gesicht gewaschen und Kaffee gekocht hatte, kam sie sich fast schon wieder normal vor und in der Lage, sich an ihre Arbeit zu machen. Sie setzte sich an den Schreibtisch vor dem Erkerfenster, schaltete beide Computer an, sodass sie die Monitore gleichzeitig im Blick hatte, und rief ein Foto der ersten Seite der alten Handschrift auf. Die vergilbten Seiten waren eng mit den typischen Schriftzeichen des sechzehnten Jahrhunderts beschrieben. Die Tinte war ein wenig verblichen, aber ansonsten befand sich das Manuskript in erstaunlich gutem Zustand.
Diese Fragmente der Protokolle, die zu der damaligen Zeit bei der gerichtlichen Untersuchung von Todesfällen angefertigt wurden, waren erst im Jahr zuvor zufällig im Archiv der Stadt York entdeckt worden und lieferten wichtiges neues Quellenmaterial für Richards wissenschaftliche Studie über das Verbrechen zur Zeit der Tudors. Tess’ Aufgabe war es, diese alten Handschriften akkurat zu transkribieren und, wenn nötig, aus dem Lateinischen zu übersetzen.
Wozu soll das gut sein?, hörte sie Martins Stimme, die Verachtung, die darin mitschwang. Er hatte kein Verständnis für die Beschäftigung mit alten Handschriften – das soll ein richtiger Job sein? –, und sie hatte sich von ihm einreden lassen, sie habe es nicht nötig, nach ihrer Heirat weiter arbeiten zu gehen. Wir brauchen das Geld nicht. Wenn du mich liebst, willst du für mich da sein. Meine Arbeit ist so anstrengend, ich möchte gern, dass du zu Hause bist.
Entschlossen schob Tess die Erinnerung beiseite. Martin war eine Ablenkung, die sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte.
Sie kam langsam voran, bis ihre Augen sich an die alte Handschrift gewöhnt hatten. Anno regni Elizabeth regne viii mo … 1566. Nun, mit dem Datum ließ sich schon mal was anfangen. Sie bewegte ihre Schultern, nahm eine bequeme Haltung ein.
Ashrafar hatte sich auf einem Fleck niedergelassen, an dem die Sonne auf die Schreibtischplatte fiel, saß da wie eine Sphinx und beobachtete die Touristen unten auf der Straße, die Fotos schossen. Im Sonnenlicht schimmerten die Spitzen ihres schwarzen Fells golden. Hin und wieder streckte Tess den Arm aus und streichelte ihren Rücken, worauf Ashrafar einen Buckel machte und behaglich zu schnurren begann. Sie war eine angenehme, friedfertige Zimmergenossin.
Tess bearbeitete die Seite bis zum Ende, schloss das Bild und rief das nächste auf, und wiederum das nächste. Es fiel ihr leichter, nachdem sie sich an die Eigenheiten des Schreibers gewöhnt hatte, und sie kam bald recht zügig voran. Es war ein gutes Gefühl, die Fertigkeiten, die sie in ihrem Studium erworben hatte, wieder anwenden zu können; und so rief sie voll Selbstvertrauen die vierte Seite auf, als ihr plötzlich der Name Maskewe ins Auge stach. Tess traf fast der Schlag.
Zufall, redete sie sich ein, während sie sich beruhigend auf die Halsgrube klopfte und tief durchatmete.
Sie widmete dem Eintrag ihre ganze Aufmerksamkeit, bearbeitete ihn sorgfältig, transkribierte und übersetzte ihn Wort für Wort. Die Geschworenen waren einberufen worden, um die Todesursache einer gewissen Joan Beck zu untersuchen. Joan, eine Dienstmagd, stand in Diensten eines Mr Henry Maskewe, Kaufmann, und ihr Leichnam wurde am Flussufer bei St George’s Close gefunden.
Joan war ertrunken.
Der feine Flaum in Tess’ Nacken stellte sich auf. Sie holte tief Luft und las die Zeilen ein zweites Mal, prüfte, ob ihr ein Fehler unterlaufen war, doch nein, die Namen waren eindeutig.
Zufall, versuchte sie sich erneut zu beruhigen. Es musste ein Zufall sein. Sie hatte diesen Eintrag zuvor noch nie gelesen. Soweit ihr bekannt war, hatte sich seit dem sechzehnten Jahrhundert niemand damit befasst. Die Protokolle waren im Stadtarchiv irgendwann im Lauf der vergangenen vier Jahrhunderte zwischen die Seiten eines anderen Manuskripts geschoben worden und galten all die Jahre als verschollen.
Doch wie konnte es angesichts dieser Tatsache möglich sein, dass sie sich so überaus deutlich daran erinnerte, im Nebel an der Anlegestelle gestanden und Tom von Joans Tod berichtet zu haben? Wieso sah sie Joan so deutlich vor sich, dieses arme kleine Ding mit den Hasenzähnen und der Angewohnheit, den Kopf einzuziehen, als erwartete sie Schläge?
Sie erinnerte sich nicht, rief Tess sich wieder einmal verzweifelt zur Räson. Es war ein Traum gewesen.
Es musste eine Erklärung geben für die Namensgleichheit. Vielleicht war ihr Blick darauf gefallen, als sie die Fotos in einen Ordner legte, sodass sie unbewusst die Namen registriert hatte. Sie wusste durch ihr Geschichtsstudium genug über das York des sechzehnten Jahrhunderts, um aus ihrem Fundus weitere Details hinzufügen zu können. Tess klammerte sich an diese Idee, weigerte sich, die Einwände zuzulassen, die sich in ihrem Hinterkopf regten. Ja, so musste es sein. Und der Tod der armen Joan war bestimmt ein Unfall gewesen.
Tess versuchte zu ignorieren, dass ihre Hand auf der Maus leicht zitterte, und las weiter. Verschiedene Zeugen sagten aus, Joan sei von anständigem Charakter gewesen, sei jedoch ungefähr eine Woche vor ihrem Tod in tiefe Schwermut verfallen. Eine Nachbarin, Margery Wrightson, die beobachtet hatte, wie Joan am Flussufer entlanggelaufen war, meinte, Joan sei »furchtsam widar der Schand« und habe sich »ihres Daseins leidig vom irdischen Leben befreit«. Das Gericht war zu dem Schluss gekommen, dass Joan sich umgebracht hatte.
Ein merkwürdiges Zittern durchlief Tess’ Körper. Sie fühlte sich schwindlig, leicht, schwerelos, als hätte sie in einen tiefen Abgrund geblickt, und wie durch einen Schleier sah sie, wie Ashrafar die Ohren anlegte und fauchend vom Schreibtisch sprang. Tess hielt sich so verkrampft an der Tischkante fest, dass ihre Finger weiß wurden. In der Kante befand sich eine Kerbe. Tess spürte deutlich die raue Unebenheit. Der Tisch war real; sie, Tess, war real. Tess versuchte, an diesem Gedanken Halt zu finden, doch je stärker sie sich daran klammerte, desto intensiver wurde ihr Gefühl abzudriften. Sie verspürte einen seltsamen Sog in ihrem Kopf, und ehe sie Zeit hatte, richtig Angst zu bekommen, wurde ihr Blick verschwommen, und die Welt schien zu kippen und unter ihr wegzugleiten.
Sie trat aus der kühlen Dunkelheit der Barbakane, des Wehrbaus, der dem eigentlichen Stadttor vorgelagert war, ins Sonnenlicht und befand sich plötzlich inmitten einer Traube von Bettlern und Vaganten. »Einen Penny, gute Frau!«, flehten sie mit wildem Blick, starrend vor Schmutz und Verzweiflung. »Gott wird es Euch lohnen!«
»Beachte sie nicht«, warnte Alice, doch Nell fischte bereits in der Börse, die ihr vom Gürtel hing, nach einer Münze. Sie konnte diese Leute nicht einfach ignorieren. Es waren zu viele, sie waren zu laut, rückten ihr zu dicht auf den Leib. Nell fing den Blick eines Mädchens auf, das etwa in ihrem Alter war. Es hatte ein ausgemergeltes Gesicht, einen verbitterten Blick; zwei kleine Buben klammerten sich an seine Röcke. Nell warf diesem Mädchen ihre Münze zu. Es fing sie geschickt in der Luft auf und sauste mit den kleinen Kindern davon, ehe die anderen Landstreicher sie wie eine Meute zähnefletschender Hunde einkreisen konnten.
Nell sah ihr nach. »Armes Ding. Diese Buben können nicht viel älter gewesen sein als Harry und Peter. Ich frage mich, wie es mir erginge, wenn ich für meine Brüder sorgen müsste? Wenn ich um einen Kanten Brot betteln müsste, damit sie nicht hungers sterben?«
»Um Himmels willen, Nell.« Alice schnalzte ärgerlich mit der Zunge und fasste Nell am Arm. »Jetzt werden sie alle was von uns wollen. Komm, lass uns schnell das Weite suchen.«
»Hast du gehört, dass sie schon wieder ein junges Mädchen unten am Fluss gefunden haben?« Nell fröstelte, obwohl ihr die Sonne warm auf die Schultern schien. »Die Leute sagen, sie wurde so brutal zugerichtet, dass keiner weiß, wer sie ist oder wie sie aussah. Damit sind es jetzt schon vier.«
»Vier was?«
»Vier Landstreicherinnen, die im Verlauf des letzten Jahres ermordet wurden. Niemand scheint es zu bekümmern.«
Alice zuckte die Schultern. »Es ist nutzloses, zwielichtes Gesindel«, erklärte sie. »Diese Weiber machen nur Ärger. Niemand schert sich drum.«
»Aber wer tut denn so etwas?«
»Nell, es ist nicht deine Aufgabe, dir darüber Gedanken zu machen«, sagte Alice und verdrehte die Augen gen Himmel. »Heute ist Feiertag. Kannst du nicht an etwas Erfreulicheres denken?«
Nell kaute auf ihrer Unterlippe. Es störte sie, dass niemand beunruhigt war wegen dieser Mädchen, deren Körper brutal misshandelt und anschließend wie Unrat weggeworfen worden waren. Alle in der Nachbarschaft zuckten nur die Achseln, genau wie Alice. Es war abscheulich, gewiss, aber niemand verlangte lautstark nach einer gerichtlichen Untersuchung. Diese Mädchen waren Dirnen und Landstreicherinnen – faules, freches Pack. Es spielte keine Rolle, ob sie tot waren oder draußen vor den Stadttoren um Almosen bettelten oder in den stinkenden Gassen hinter den Wirtshäusern ihre Beine breitmachten.
Draußen vor dem Stadttor wurde die Straße breiter, viele Menschen waren heute unterwegs. Es war Pfingstsonntag, und die Lehrlinge, Dienstmägde und Knechte, ein jeder in seinem besten Gewand, schoben sich durch das Nadelöhr der Barbakane hinaus aus der Stadt. Außerhalb der Stadtmauern ging es nicht so streng zu, man wurde nicht ständig beobachtet, konnte sich verabreden, abgeschiedene Plätzchen für ein Schäferstündchen finden.
An diesem Pfingstfest fanden keine Mysterienspiele statt. Normalerweise hätte Nell am Straßenrand gestanden und die Wagen mit den Schauspielern an sich vorbeiziehen lassen, welche die religiösen Szenen darstellten. Oder sie hätte sich durch die Zuschauermenge nach vorn gedrängt, um den ans Kreuz genagelten Herrn Jesus zu sehen. Doch damit war es nun vorbei. Der Glaube war zu einer riskanten Angelegenheit geworden. Master und Mistress Harrison, in deren Diensten Nell stand, gingen jeden Sonntag zum Gottesdienst, aber wer wusste schon, was sie tief in ihrem Herzen glaubten? Ein Ratsherr wie Mr Harrison musste natürlich Protestant sein. Es war ein Gebot der Vernunft. Doch Mr Maskewe war ebenfalls Ratsherr. Nell musste an das Priesterloch denken, das sich, wie Tom ihr anvertraut hatte, verborgen im Kabinett seines Vaters befand, und sie fragte sich, ob es je benutzt wurde.
Nell ließ zu, dass Alice sie eilig von dem Gesindel vor dem Stadttor wegbugsierte, und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie hatten in letzter Zeit, weiß Gott, wenig davon zu sehen bekommen, und es tat gut, der Enge der Häuserzeilen in der Stadt zu entfliehen. Sie und Alice hatten am Morgen den Gottesdienst besucht und nun den restlichen Festtag zu ihrer freien Verfügung.
In früheren Jahren hätte Nell ihn mit Tom verbracht. Etwas anderes wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Als Kinder waren sie oft durch das hintere Tor aus der Stadt geschlüpft, hinaus nach Paynley’s Crofts, und hatten in den Obstgärten Äpfel stibitzt oder Himbeeren genascht, die dort in den Hecken wuchsen; hatten sich die köstlichen Früchte in den Mund gestopft, bis ihre Hände und Lippen rot und klebrig von dem Saft waren. Sie jagten einander auf den Feldwegen, liefen hinaus bis zur Gemeindeflur, wo sie sich über den Holzzaun der Koppel lehnten und einander herausforderten, dem Bullen übers Fell zu streichen. Oder sie waren zur Foss gelaufen, hatten an den überhängenden Ästen geschaukelt oder am flachen Flussufer geplantscht. Nell konnte sich immer noch an das Gefühl erinnern, wie der feuchte Schlamm zwischen ihren Zehen hervorgequollen war.
Es war lange her, seit sie unbekümmert ihre Strümpfe ausziehen und barfuß laufen konnte. Sie war mittlerweile sechzehn und trug jetzt ein richtiges Kleid, ihr bestes heute, das blaue, weil Festtag war, und eine samtene Haube. Sie hatte ihr dichtes langes Haar, so gut sie es vermochte, zu Zöpfen geflochten und unter die Haube geschoben, doch immer wieder lugten einzelne Strähnen daraus hervor. Nell war jetzt kein lebhaftes ungebärdiges Gör mehr, kein flachbrüstiger Wildfang. Ihr Busen war gewachsen, und trotz ihrer Anstrengungen, sich aufrecht und gemessenen Schrittes fortzubewegen, wiegten sich beim Gehen, ohne dass sie es beabsichtigte, ihre Hüften. Sie spürte die Blicke der Männer, die ihr auf der Straße nachsahen, und fühlte sich unbehaglich. Nell hatte zwar, wie verlangt, aufgehört, sich wie ein Kind zu benehmen, aber, weiß Gott, es fiel ihr schwer.
Und sie vermisste Tom.
Vor einem Jahr hatte Mr Todd, sein Lehrherr, verkündet, er wolle Tom mit nach Hamburg nehmen, um dort seine Ausbildung als Kaufmann zu vervollständigen.
Tom hatte den Tag der Abreise kaum erwarten können, und Nell hatte versucht, sich seinetwillen zu freuen, doch ihr Gefühl, zurückgelassen zu werden, ließ sich nicht so ohne Weiteres unterdrücken. Es war geplant, dass er für fast ein halbes Jahr fortbleiben würde. Sie hatte ihn all die Monate schrecklich vermisst und sehnsüchtig auf seine Rückkehr gewartet. Doch als er dann wiederkehrte, war nichts mehr so wie früher.
Zunächst einmal hatte er sich äußerlich verändert. Er war größer, seine Schultern waren breiter geworden. Sein Nacken wirkte kräftiger, und er strahlte eine neue Selbstsicherheit aus, die Nell im Umgang mit ihm auf einmal schüchtern werden ließ. Sie wollte ihren alten Tom wiederhaben, jenen Knaben von einst, der sie an den Haaren gezogen und geneckt hatte. Sie hatte sich auf die Heimkehr des Jungen gefreut, den sie kannte, doch er war als richtiger Mann zurückgekommen. Ein junger Mann, der Nell mied, wo er konnte, der sie mit seinem Schweigen verletzte.
Wenn sie sich jetzt über den Weg liefen, war ihre Unterhaltung verkrampft und gehemmt, als würden die Worte auf ihren Zungen kleben bleiben. Wo sie früher miteinander gezankt, gebalgt und gelacht hatten, stand nun verlegenes Schweigen zwischen ihnen. Und statt ihm unbekümmert einen Schubs zu geben, war Nell sich nun seiner flinken Hände allzu sehr bewusst. Sie wagte es nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen.
Sie kannte ihn so gut, und dennoch kam er ihr wie ein Fremder vor. Die Form seiner Schultern war ihr vertraut, seine Art, blitzschnell den Kopf zu drehen, dennoch war ihr, als hätte sie nie wirklich den Schwung seiner Lippen wahrgenommen, die Linie seiner Wangen, seines Kinns. Als würde sie erst jetzt bemerken, wie forsch und selbstbewusst er auftrat. Wie oft hatte er früher gelächelt? Wieso bekam sie jetzt auf einmal Herzklopfen, blieb ihr die Luft weg, hörte sie das Blut in den Ohren rauschen, immer wenn seine Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen?
Verletzt durch die Art, wie er neuerdings ihrem Blick auswich, tat Nell so, als hätte sie sich ebenfalls verändert. Wenn er in der Nähe war, lachte sie und warf den anderen jungen Männern unter halb gesenkten Lidern Blicke zu, wie sie es Alice abgeschaut hatte. Sie warf den Kopf zurück, setzte ihr schönstes Lächeln auf. Doch kaum kreuzte Tom auf, trat alles andere in den Hintergrund. Und wenn sie noch so entschlossen ihr Augenmerk auf einen anderen richtete, noch so angeregt mit ihm plauderte, so genügte doch ein Blick aus Toms strahlend blauen Augen, und schon fing ihre Haut zu prickeln an, und ein Gefühl überkam sie, als hätte sie einen Kloß im Hals. Es war anstrengend. Sie musste ständig auf der Hut sein, damit Tom sie nicht dabei ertappte, wie sie einsam und verloren dreinschaute, denn genauso fühlte sie sich.
Und so war Nell an diesem Festtag, statt wie üblich nach Tom Ausschau zu halten, mit Alice zusammen, die ebenfalls als Dienstmagd bei den Harrisons arbeitete. Sie war ein keckes junges Ding, ein, zwei Jahre älter als Nell, und verliebt in William Carter. William war der Geselle eines Klingenschmieds, und Nell war nicht besonders angetan von ihm. Er stolzierte herum wie ein Pfau, und Nell mochte das angeberische Grinsen nicht, das ständig um seine Mundwinkel zuckte. Aber William sah gut aus, ja, das musste auch Nell zugeben.
Alice war entschlossen, ihn in der Menschenmenge ausfindig zu machen. William würde nicht irgendwo in einer stillen Ecke hocken, sondern dort, wo sich ein Menschenauflauf gebildet hatte, zu finden sein, umgeben von kichernden jungen Mädchen und sehr von sich selbst überzeugten jungen Männern.
Also zerrte Alice Nell hinter sich her zu dem Kirchhof von St Maurice, wo sich ein Kreis johlender Zuschauer um zwei Ringkämpfer gebildet hatte. Es wurden zahlreiche Wetten abgeschlossen, wobei dem Transfer der Münzen von einer Hand in die andere die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwurde wie den beiden Männern, die verbissen versuchten, sich gegenseitig niederzuringen.
»Da ist er!« Alice kniff Nell aufgeregt in den Arm, als sie William Carter in der Menge der Zuschauer erspähte. »Gehen wir da hinüber, wo er uns sehen kann.«
Nell zuckte zusammen, als ihr ein Bauerntölpel auf den Fuß trat und sie von einem anderen einen Stoß mit dem Ellbogen abbekam. Doch den beiden Mädchen gelang es, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Als sie schließlich die vordere Reihe erreicht hatten, war Nell zerzaust und erhitzt, und ihre Haube war verrutscht, Alice hingegen sah aus, als wäre sie eben eine ruhige Straße entlangspaziert. Ihre Haube saß ordentlich, ihre Röcke fielen adrett, und auf ihrem Gesicht lag ein züchtiges Lächeln.
Die Zuschauer johlten und pfiffen und stießen Buhrufe aus, während die beiden Männer keuchten und stöhnten. Sie rangen verbissen miteinander, wobei ihre Oberkörper nackt waren, und Alice, durch diesen Anblick einen Moment von William Carter abgelenkt, stieß Nell aufgeregt in die Seite. Beide Ringer waren jung, muskulös und kräftig, und obwohl der eine viel leichter als der andere wirkte, waren sie einander so ebenbürtig, dass der Kampf kaum voranging.
Doch plötzlich warf der schmalere Kämpfer seinen Gegner auf den Rücken, so elegant, dass kaum einer der Zuschauer mitbekam, wie er es angestellt hatte. Tosender Beifall brandete auf, und der Sieger reckte triumphierend die Faust in die Luft. Er drehte sich in Richtung der Zuschauer, um mit einem strahlenden Lächeln ihren Applaus entgegenzunehmen, und Nell stockte schier der Atem.
Es war Tom, aber ein Tom, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Ihr Mund wurde trocken.
Er hatte eine aufgeplatzte Lippe und einen Bluterguss auf der Wange, doch sein Körper war glatt und geschmeidig, muskulös und schweißglänzend. Wo war das magere Kerlchen geblieben, mit dem sie gespielt hatte? Statt seiner stand nun ein Mann vor ihr, ein Fremder. Ein Fremder, bei dessen Anblick sie heftiges Herzklopfen bekam.
Alice war Nells Blick gefolgt. »Das ist doch nicht etwa Tom?«
»Doch«, erwiderte Nell, der offenbar die Luft weggeblieben war, denn ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Als hätte er sie gehört, drehte Tom sich in ihre Richtung, und als ihre Blicke sich trafen, verflüchtigte sich seine triumphierende Miene, und damit sein Lächeln, und machte einem Ausdruck Platz, den Nell nicht zu deuten wusste, der ihr jedoch das Herz zusammenkrampfen ließ. Sie wollte wegschauen und konnte es nicht. Sie wollte ihm unbekümmert zuwinken, sich wieder Alice zuwenden, so tun, als interessierte er sie nicht weiter, doch stattdessen blieb sie einfach wie festgenagelt stehen und schaute Tom in die Augen, ungeachtet der johlenden Menge, die begierig auf den nächsten Kampf wartete.
Alice’ Blick ging von Nell zu Tom und wieder zurück. Sie lächelte wissend. »Oho! So ist das also«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
»Was? Nein! Was soll sein?« Verlegen riss sich Nell von Toms Anblick los, doch Alice grinste nur.
»Ich gehe jetzt rüber zu William«, sagte sie und deutete in Richtung Kirchhof. »Ich warte auf dich an der Pforte, wenn die Glocke der Kathedrale sieben Uhr schlägt. Wir können dann zusammen zum Haus zurückgehen.« Sie streckte den Arm aus und rückte Nells Haube gerade. »Sei ein braves Mädchen!«, sagte sie zum Abschied.
»Warte, Alice …«, rief Nell, doch Alice schlenderte bereits mit schwingenden Hüften auf William Carter zu, und Nell blieb nichts anderes übrig, als ergeben auf Tom zu warten. Er hatte sein Hemd vom Boden aufgehoben und zog es über den Kopf, während er sich zu ihr durchkämpfte und dabei anerkennendes Schulterklopfen der Zuschauer erntete. Und mit einem Mal stand er vor ihr, tupfte sich mit der Fingerspitze das Blut von der aufgesprungenen Lippe.
»Nell«, sagte er nur, und als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte, begann etwas in ihrem Innern zu bröckeln. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
»Tom«, sagte sie, merkte, dass sie keinen Ton hervorgebracht hatte, räusperte sich und versuchte es erneut. »Guten Tag, Tom.«
Zwei andere Kämpfer waren in den Kreis getreten, und aufs Neue erschallten die Pfiffe und Rufe der Zuschauer, doch Nell nahm sie kaum wahr. Es war, als hätte sich die johlende Menge hinter eine unsichtbare Nebelwand zurückgezogen, zwar noch anwesend, aber nicht wirklich da, während sie und Tom entrückt auf einem sonnenbeschienenen Eiland weilten, wo alle ihre Sinne geschärft waren. Sein Haar war schweißnass. Der Blick aus seinen blauen Augen ließ ihr Herz schneller schlagen. Der Geruch des zertretenen Grases unter ihren Füßen stieg ihr in die Nase, sie spürte auf der Haut das Kitzeln ihrer leinenen Halskrause, das Gewicht des Polsterrings um ihre Hüften.
Langsam atmete sie wieder aus, löste sich von seinem Anblick.
»Wo hast du Ringen gelernt?«, fragte sie schließlich.
Ein Grinsen ging über Toms Gesicht, während er seinen Hut wieder aufsetzte. »Einer der Matrosen auf der Little George hat mir auf der Überfahrt von Hull ein paar Tricks beigebracht. Er meinte, die würde ich brauchen, wenn ich in den Häfen überleben wolle, und er hatte recht. Es sind keine Orte für weiche Knaben, die sich ihrer Haut nicht wehren können.«
»Und hier in York kommen sie dir auch zupass«, sagte sie, froh, dass ihr Atem sich beruhigt hatte, ihre Stimme wieder fester geworden war. Sie deutete mit dem Kopf auf den Hammel, der mit einem Strick an einen Pfahl gebunden war und böse dreinschaute, während er darauf wartete, dass er dem Sieger des Ringkampfes als Trophäe überreicht werden würde. »Bleibst du noch, um für den ersten Preis zu kämpfen?«
»Was sollte ich mit einem Hammel anfangen?«
»Du könntest ihn verkaufen.«
»Stimmt, aber wo würde ich ihn unterbringen, bis ich einen guten Preis für ihn ausgehandelt hätte? Vergiss nicht, ich bin Kaufmann«, rief er ihr augenzwinkernd ins Gedächtnis. »Ich kann ihn nicht demjenigen verkaufen, der das erste Angebot macht. Ich muss einen guten Gewinn erzielen und dabei meine Ausgaben für Futter und Unterbringung einkalkulieren, und heute ist ein zu schöner Tag, um sich mit derlei Dingen zu beschäftigen. Hast du Hunger?«
»Hunger?« Nell war überrumpelt durch den abrupten Themenwechsel.
»Früher warst du ständig hungrig.«
Sie reckte trotzig das Kinn, betroffen, weil er sie offenbar noch als Kind betrachtete. »Vielleicht habe ich mich verändert.«
»Ja«, sagte er trocken. »Das habe ich bemerkt.«
Ohne es zu wollen, schaute sie ihn schon wieder an. Ihre Umgebung verschwand, während ihre Blicke sich begegneten und sich nicht mehr voneinander lösen konnten. Nells Herz schlug wieder gleichmäßig und ruhig, aber so laut, dass es ihr in den Ohren dröhnte wie der Trommelschlag der Stadtmusikanten. Das kurze Schweigen, das zwischen ihnen entstanden war, dehnte sich, wurde alarmierend lang.
Nell schluckte und fingerte an ihrer Börse, die ihr vom Gürtel hing. Sei nicht albern, schalt sie sich innerlich. Es ist nur Tom.
»Aber es ist schon lange her, seit ich etwas in den Magen bekommen habe«, lenkte sie schließlich ein. »Ich bin in der Tat ziemlich hungrig.«
»Dann kaufe ich dir jetzt eine Fleischpastete«, sagte Tom. »Komm.« Er fasste sie am Ellbogen, um sie wegzuführen, und Nell spürte seine Finger durch den feinen Wollstoff ihres Ärmels, durch ihr leinenes Unterkleid.
Der Pastetenverkäufer hob sein Tablett vom Kopf, als er die beiden auf sich zukommen sah, und hängte es sich um den Hals, damit sie ihre Auswahl treffen konnten. Nell stieg der Duft von brauner Butter und Fleischsauce in die Nase. »Frisch aus dem Ofen«, pries der Verkäufer seine Ware an, und in der Tat waren die Pasteten glühend heiß. Nell und Tom verbrannten sich fast die Finger, bis sie so weit abgekühlt waren, dass sie sie essen konnten.
Nell biss schließlich herzhaft hinein, ohne sich darum zu kümmern, dass ihr die Krümel aufs Mieder fielen, musste jedoch sogleich feststellen, dass die Füllung noch viel zu heiß war und man sich die Zunge daran verbrannte. »Oh … oh … heiß!«, keuchte sie und lachte dabei, und das half, die Spannung zwischen ihnen aufzulösen.
»Geschieht dir ganz recht, wenn du so gierig bist«, bemerkte Tom schmunzelnd.
»Hm, schmeckt aber gut«, sagte sie mit vollem Mund.
»Komm, gehen wir woandershin, wo es ruhiger ist.«
Während sie ihre Pasteten verzehrten, schlenderten sie die Monkgate hinauf in Richtung der Brücke. Der Weg war breit und staubig und gesäumt von einem Geländer, das die Häuser von der Straße trennte. Ein Schwein wühlte mit der Schnauze im Unrat des Rinnsteins. Der Misthaufen vor Mr Mays Haus stank in der Hitze, doch Nell bemerkte es kaum. Der widerliche Geruch wurde durch das frische Grün des jungen Grases wieder wettgemacht, das üppig am Wegesrand wucherte, und durch die blühenden Obstbäume in den Gärten. Die Weißdornbüsche waren über und über mit Blüten bedeckt und sahen aus, als hätte man weiße Tücher über sie ausgebreitet, um sie in der Sonne zu trocknen.
Endlich, dachte Nell bei sich, endlich können Tom und ich uns wieder unbefangen unterhalten. Jetzt, wo sie nebeneinander den Weg entlangschlenderten und mit ihren Pasteten beschäftigt waren, fiel es ihnen leichter, miteinander umzugehen. »Sieht es in Hamburg so aus wie hier?«, wollte sie von ihm wissen.
Er schmunzelte. »York ist ein Provinznest, verglichen mit den großen Hansestädten«, erwiderte er.
Er erzählte ihr von seinem Leben dort, alles, was er gesehen und gelernt hatte. Als er ihr seine Überfahrt schilderte, das Knattern und Schlagen der Segel, wenn sie sich im Wind aufblähten, das Ächzen der Planken, das Stöhnen der Taue, leuchtete sein Gesicht auf. Wie er erzählte, war manchen Männern speiübel geworden, kaum dass sie einen Fuß an Bord gesetzt hatten, doch Tom war, wie es schien, der geborene Seemann. Er genoss es, wenn das Schiff sich gegen die Wellen stemmte, das Deck unter seinen Füßen sich hob und senkte.
»Ich wünschte, ich könnte einmal das Meer sehen«, seufzte Nell sehnsüchtig, als sie auf die Brücke traten und hinunter auf die Foss schauten. Sie warf den letzten Bissen Pastete in den Fluss, und wie auf Kommando schwammen die Schwäne herbei und brachen in ein lautes Gezeter um die Krümel aus.
Die Foss war kein schöner Fluss. Das Wasser roch modrig und war grün wie Gänsekot, das Ufer mit Buschwerk fast zugewachsen. Doch Nell hatte den Fluss immer gemocht. Sie konnte sich noch genau an das Versteck erinnern, das sie und Tom als Kinder am Ufer gebaut hatten. Es bestand im Grunde nur aus ein paar aufeinandergeschichteten Ästen und Zweigen, aber es hatte ihnen beiden allein gehört. Doch diese Tage waren vorbei, wie Nell sich innerlich ermahnte. Ihr Versteck war längst verrottet. Tom war auf dem Fluss nach Hull gefahren, hatte das Meer überquert und sie allein gelassen.
Doch jetzt war er zurückgekehrt, und sie waren wieder zusammen. Sie beide, allein.