Kapitel 5
Sie hatten die vielen Menschen hinter sich gelassen. Von ferne hörte man noch schwach ihr Gejohle und Gelächter, doch es wurde von dem emsigen Gezwitscher der Vögel übertönt. Nell sah hinunter auf den Fluss, der ruhig und träge dahinströmte. Der so anders war als die raue See, die Tom überquert hatte. »York kommt dir jetzt sicher fade vor«, bemerkte sie.
Tom betrachtete seine Umgebung, während er sich die Krümel von den Fingern wischte, dann fiel sein Blick auf Nells Profil. »Manchmal«, gestand er. »Aber es ist meine Heimat. Und du bist hier.«
Nell wurde warm ums Herz. »Ich dachte zuerst, du würdest mir keine Beachtung mehr schenken«, traute sie sich zu sagen.
»Ich war schüchtern«, erwiderte er. »Du bist erwachsen geworden, Nell. Ich habe dich bei meiner Rückkehr fast nicht wiedererkannt.«
Nell atmete erleichtert auf. »Und mir ging es bei deinem Anblick genauso.«
Sie lächelten sich an, und ein Glücksgefühl machte sich in Nells Brust breit, so gewaltig, dass es fast wehtat, ihr die Kehle zusammenschnürte, die Sprache verschlug. »Komm«, sagte Tom und nahm sie an der Hand, wie damals, als sie Kinder waren. »Komm, wir suchen unser altes Versteck.«
Sie gingen am Ufer des Flusses entlang, der mäandernd der Mühle zustrebte. Ihr Versteck war natürlich schon seit Langem verschwunden, aber sie konnten sich lange und ausgiebig darüber streiten, wo genau es gewesen war. Schließlich einigten sie sich auf eine kleine Lichtung, wo hohes, süß duftendes Gras den Boden bedeckte, und ließen sich im lichten Schatten der Holunderbüsche, die dort an der Uferböschung wuchsen, nieder. Es war für sie die natürlichste Sache der Welt, sich ins Gras zu hocken, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die Füße in den Fluss zu hängen. Nell raffte ihre Röcke bis zum Knie und spielte mit den Zehen im kühlen Wasser.
»Das habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gemacht.« Sie drehte den Kopf zu Tom, der, auf seine Hände gestützt, zurückgelehnt dasaß und sie beobachtete. »Ich habe dich vermisst«, sagte sie.
»Ich dich auch«, erwiderte er. Süß hallte die Wahrhaftigkeit ihrer Worte durch die Luft, die jähe, glasklare Erkenntnis dessen, was sie füreinander empfanden und nun endlich in Worte fassen konnten.
Ein Schweigen trat ein, doch es war nicht unbehaglich. Verheißung schimmerte hindurch. Nun musste Nell nicht länger vermeiden, Tom ins Gesicht zu sehen. Nein, sie schaute ihm direkt in seine strahlend blauen Augen und ließ die Vorfreude zu, die sich in ihr regte.
»Als ich auf See war oder später auf den Märkten, dachte ich an dich und wie sehr dich das alles begeistern würde«, fuhr Tom kurz darauf fort, nun ganz unbefangen. »Es würde dir gefallen, die salzige Gischt auf deinen Wangen zu spüren, das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf des Schiffes zu hören. Ich weiß, dass du es mögen würdest. Der Hafen in Hamburg wäre ganz nach deinem Geschmack. Du kannst dort alle möglichen fremden Sprachen hören.«
»Worüber reden die Seeleute?«, erkundigte sich Nell, nicht weil es sie wirklich interessierte, sondern weil sie einfach den Klang von Toms Stimme hören, sich überzeugen wollte, dass er nun wirklich wieder da war und sie vermisst hatte.
»Die Kaufleute prahlen mit ihren guten Geschäften und die Seeleute mit den tollkühnen Fahrten, die sie unternommen haben. Sie behaupten, der Wind sei so heiß gewesen, dass den Männern die Knochen im Leib geschmolzen sind, und berichten von allerlei wundersamen Dingen. Sie sagen, sie wären in den Ländern gewesen, weit im Osten, wo Pfeffer und Gewürznelken wachsen, und auch im Westen, in der Neuen Welt. Oh, sie geben mächtig an! Ich wage zu behaupten, dass nicht einmal der zwanzigste unter ihnen tatsächlich dort war, aber diese Matrosen verstehen sich einfach darauf, Geschichten zu erzählen, und jedes Mal, wenn ich zugehört habe, dachte ich mir, wie gern auch du ihnen lauschen würdest.«
»Und mir hätten die Geschichten noch besser gefallen, wenn du bei mir gewesen wärst«, fügte er hinzu, mit einem dunklen Klang in der Stimme, der Nell wie eine Liebkosung erschien.
Ein vorbeihuschender Wasserläufer hielt inne, als würde er lauschen, wobei seine Füße winzige Dellen auf dem glatten Wasserspiegel hinterließen.
»Ich habe oft an dich gedacht«, gestand Tom. »Ich habe ein Geschenk für dich gekauft.«
»Ein Geschenk?« Nell setzte sich aufrecht hin. »Für mich?«
»Für dich.« Tom drehte sich auf die Seite, damit er in die Börse greifen konnte, die ihm vom Gürtel hing, und zog einen schlichten Goldring mit einem Granatstein heraus, der in dem Halbschatten der Lichtung in einem satten tiefen Rot schimmerte.
Nell holte tief Luft, als sie ihn entgegennahm, und steckte ihn an ihren Finger, dann hob sie ihre Hand ein wenig an, neigte sie nach rechts und links, damit sie die Schönheit des Rings gebührend bewundern konnte, während ein Glücksgefühl sie durchströmte wie Sonnenschein an einem Maienmorgen.
»Gefällt er dir?«, fragte er mit betonter Lässigkeit.
»Oh, Tom …« Ihre Stimme klang belegt. »Ich werde ihn immer tragen«, schwor sie. »Ich verspreche es.« Sie hob den Blick und schaute ihn an. »Ich hatte Angst, du hättest mich vergessen«, gab sie zu.
»Dich vergessen? Wie könnte ich? Kein anderes Mädchen ist wie du, Nell.«
Er lächelte, doch die ungezwungene Vertrautheit zwischen ihnen schwand immer mehr dahin, und Nell bemühte sich, sie schnell zurückzugewinnen. »Wie? Keine grünäugigen Schönheiten aus dem Osten?«, neckte sie ihn.
»Ein paar«, gestand er, »aber ihre Augen waren nicht so grün wie deine.« Er riss einen Grashalm aus und kitzelte sie damit an der Nase, sodass sie wider Willen lachen musste. »Deine Augen sind so grün wie dieses Gras, so grün wie die See, so grün wie … Smaragdsteine!«
»Und ich schätze, sie hatten schönes braunes Haar wie ich, statt auszusehen wie Milch und Honig?«
»Dein Haar ist nicht braun.« Irgendwie war er dazu übergegangen, die Nadeln aus ihrer Haube, aus ihrem Haar zu zupfen, sodass ihre Zöpfe frei über ihren Rücken fielen. Nell tat nichts, um Tom aufzuhalten. Er nestelte an ihren Flechten, löste ihr das Haar und breitete es über ihre Schultern aus, und immer noch protestierte sie nicht. Sie saß mucksmäuschenstill da und beobachtete ihn, während sie ihn gewähren ließ.
»Es ist nicht braun«, wiederholte er. »Es hat die Farben von Haselnüssen und Honig. Und hier sehe ich Gold und Bronze und Kupfer. Ich sehe sonnengereiftes Korn. Ich sehe rotglühende Flammen. Ich sehe kein Braun.« Er hob eine Locke an seine Nase und atmete ihren Duft ein. »Ich rieche Nelken.«
Nell schluckte. »Du bist ein richtiger Poet geworden.«
»Ich wollte, ich fände die Worte, dir zu erklären, welche Gefühle du in mir auslöst, Nell«, sagte er mit leiser Stimme, während er die Haarlocke an ihren Platz zurücklegte. »Früher habe ich nicht über dich nachgedacht. Du warst einfach da. Du warst einfach Nell. Doch als ich zurückkam und dich sah, war mir, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. Du warst dieselbe, und auch wieder nicht. Ich wusste, ich selbst war anders geworden, aber ich hatte nicht erwartet, dass du dich ebenfalls verändern würdest.«
»Du hast mich links liegen lassen.« Bei dieser Erinnerung gab es Nell einen schmerzhaften Stich, der ihr Glücksgefühl einen kurzen Moment trübte.
»Ich war böse auf dich, weil du dich verändert hattest«, erklärte Tom.
Beide schwiegen. Nell spürte im Nacken die Weichheit ihres aufgelösten Haars. In dem Halbschatten herrschte tiefe Stille. »Wir haben uns doch gar nicht so sehr verändert, oder?«, sagte sie schließlich.
Tom lächelte etwas schief, als er wieder eine ihrer Haarlocken nahm und durch seine Finger gleiten ließ. »Ich fürchte, doch, Nell. Wir sind nicht mehr der Junge und das Mädchen von früher.«
Ein Schatten huschte über Nells Gesicht. »Ich will es nicht, dass sich etwas verändert«, versetzte sie trotzig, und sein Lächeln wurde noch etwas schiefer.
»Ich schon«, erwiderte er und rückte ein Stückchen näher. Er befeuchtete mit der Zunge die Spitze seines Zeigefingers und berührte damit ganz behutsam das Dekolleté ihres Unterkleids, wo noch ein Pastetenkrümel hing. Nell holte tief Luft, ihre Augen schimmerten dunkel.
Tom rückte noch näher, bis sein Mund ganz dicht an ihrem war. »Jetzt gibt es kein Halten mehr«, sagte er heiser, und dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Es war aufwühlend, von einer völlig neuen Empfindung ergriffen zu werden und gleichzeitig zu wissen, dass sie für diesen Moment geboren worden war.
Alle Scheu, alles Zögern waren verschwunden. Wenn sie sich anfangs noch etwas unbeholfen anstellten, dann nur, weil es ihnen an Geduld und Erfahrung mangelte. Doch Toms Hände waren geschickt wie eh und je, als er ihr das Mieder aufschnürte, sie Hülle um Hülle entkleidete, bis es nur noch das staunende Erleben von Haut auf Haut gab. Ihre Körper passten wunderbar zusammen. Es war, als hätten seine Hände sie schon unzählige Male gestreichelt; als wäre ihr seine Nacktheit längst vertraut, das wonnige Dahinschmelzen unter seinem drängenden Körper, wenn Lust, Leidenschaft und Inbrunst sich vereinigten. Nell hatte sich oft ausgemalt, wie es wohl sein würde. Sie hatte niemanden fragen wollen, obwohl sie überzeugt war, dass Alice ihr so manches hätte verraten können. Und jetzt wusste sie es.
Und auch danach kam keine Scham zwischen ihnen auf – nur atemloses ungläubiges Lachen, dass es so einfach war.
Und so gut.
Ein schrilles Klingeln drang in ihr Bewusstsein. Es hörte nicht mehr auf, riss sie aus ihrem Traum, bis sie schließlich schlaftrunken nach dem Wecker tastete. Sie wollte nicht aufwachen. Sie wollte mit Tom in dem süß duftenden Gras liegen bleiben, ineinander verschlungen, ihre Hand auf seinem Bauch, spüren, wie sich sein Brustkorb beim Atmen hob und senkte, während ihr Körper förmlich vor Wohlbehagen vibrierte.
Sie wollte nicht, dass es ein Traum war.
Ihre blind tastende Hand stieß eine Tasse um. Ein Schwall kalten Kaffees ergoss sich über den Schreibtisch, während sie sich benommen aufrichtete. Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie auf den umgestürzten Becher, die Pfütze mit der braunen Flüssigkeit und begriff rein gar nichts. Alles sah so fremdartig aus: Die beiden Metallgehäuse mit ihren gespenstisch fließenden Mustern und Farben. Die Stapel aus blendend weißem Papier. Diese unnatürlichen akkuraten Formen und Konturen. Sie nahm einen merkwürdig aussehenden langen schmalen Gegenstand in die Hand.
Kugelschreiber. Ihr Gehirn fabrizierte das Wort, aber sie begriff den Sinn nicht. Das hier sah so anders aus als jeder Schreibstift, den sie je gesehen hatte. Er kam ihr so fremd, ja geradezu abartig vor, dass sie ihn schaudernd auf den Tisch zurückfallen ließ. Ihre Blicke schweiften nach rechts und links. Sie hatte Angst. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Sie hatte geglaubt, aus einem Traum erwacht zu sein, doch sie erkannte den Raum, in dem sie sich befand, nicht wieder. Instinktiv griff sie nach Toms Hand, aber Tom war nicht da, und tiefe Trauer und Einsamkeit überwältigten sie.
Tom war fort.
Ein schlimmer Kopfschmerz regte sich hinter ihren Augen. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Was geschieht hier?«, flüsterte sie. Sie hörte schon wieder dieses Klingeln. War es real, oder bildete sie es sich ein?
Telefon. Wie vorhin bei Kugelschreiber, nahm das Wort ohne ihr Zutun in ihrem Kopf Gestalt an, doch diesmal begriff sie. Hastig tasteten ihre Hände über den Tisch und fanden das Telefon, und irgendwie gelang es ihr, die richtige Taste zu drücken.
»Hallo?« Ihre Stimme zitterte. Sie wusste jetzt wieder, wo sie sich befand, wer sie war, doch dieser Übergang von Traum zu Wachsein hatte sie aus der Fassung gebracht, ein Gefühl von Übelkeit in ihr ausgelöst. Außerdem war sie sich immer noch nicht sicher, was denn nun Realität war.
»Hallo«, wiederholte sie, doch sie bekam keine Antwort. Tödliches Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wer ist am Apparat?«, fragte sie in etwas schärferem Ton, doch das Einzige, was sie zu hören bekam, war das gedämpfte Klicken, als der Anrufer auflegte.
Martin?
Tess ließ das Telefon auf den Schreibtisch fallen, als hätte es sie gebissen, und sank auf den Stuhl zurück. Alle Kraft hatte sie verlassen. Sie war wie betäubt, den Tränen nahe. Die endlos kreisenden Bildschirmschoner verschwammen vor ihren Augen. Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte zurückkehren in ihren Traum, zu Tom. Ihr Körper kribbelte und prickelte noch immer von dem Erlebnis, mit ihm geschlafen zu haben, doch gleichzeitig war da schon diese Leere in ihr, diese schmerzliche Empfindung, ihn verloren zu haben. Sie fühlte sich ganz elend. Vielleicht brütete sie etwas aus? Das würde auch die Kopfschmerzen erklären und diese fiebrige Unruhe, als hätte sie etwas verloren und könnte es partout nicht wiederfinden.
Und die Halluzination.
Tess stand mühsam auf und ging ein Küchentuch holen, um die Lache auf dem Tisch aufzuwischen.
Ihre überbordende Fantasie war schuld daran. Was denn sonst?
Irgendwie hatte sie den Traum der vergangenen Nacht und die Namen in den Gerichtsprotokollen miteinander vermengt und zu einer Geschichte verwoben.
Die alten Handschriften mussten eine Art Anfall ausgelöst haben. Sie hatte sich damit beschäftigt, unmittelbar bevor sie weggetreten war. Tess nahm zwei Paracetamol und stand anschließend eine ganze Weile nachdenklich vor dem Schreibtisch, betrachtete ihren Laptop, erinnerte sich, wie ihr beim Anblick dieser Namen und dem Gefühl, sie zu kennen, plötzlich der Kopf geschwirrt hatte; wie sie, nichts Böses ahnend, an ihrem Schreibtisch gesessen hatte und schon im nächsten Moment mit Alice durch das Stadttor marschiert war.
Würde so etwas wieder passieren?
Wollte sie es?
Selbstverständlich nicht. Was für ein abstruser Gedanke. Sie war Historikerin. Es war nicht wirklich passiert.
Tess holte tief Luft und setzte sich. Sie legte die Hand auf die Maus, zögerte einen winzigen Moment, und klickte. Der Bildschirm erwachte zu neuem Leben. Vor ihr erschien das Foto des alten Gerichtsprotokolls, in dem sie vorhin gelesen hatte.
Zögernd las Tess es erneut. Nichts geschah.
Sie rückte den zweiten Laptop zurecht, damit sie gleichzeitig beide Monitore im Blick hatte, und legte zögernd die Finger auf die Tastatur, bereit, sie jederzeit zurückzureißen, sobald etwas Unerwünschtes passierte, doch die Cursors auf beiden Bildschirmen blinkten nur stoisch.
Tess fing an zu schreiben. Nichts passierte.
Sie transkribierte die ganze Seite und rief gerade die nächste auf, als Ashrafar ins Zimmer geschlichen kam. Die Katze sprang auf den Schreibtisch und ließ sich dort häuslich nieder, um sich zu putzen. Sie streckte ein Bein in die Luft, leckte sorgfältig den Zwischenraum zwischen ihren gespreizten Krallen und hob kaum den Kopf, als Tess ihr die Hand auf den Rücken legte. Die Anwesenheit des warmen, lebendigen Wesens hatte eine beruhigende Wirkung auf Tess, ohne dass sie sich dessen bewusst war.
Sie war übermüdet, weiter nichts, redete Tess sich ein. Kein Wunder, bei so wenig Schlaf. Doch noch während sie sich zu beruhigen versuchte, war ihr klar, dass diese Ausrede mit der Zeit allmählich fadenscheinig wurde.
Luke hämmerte im Arbeitszimmer, als Tess am nächsten Tag heimkam, nachdem sie Oscar zur Schule gebracht hatte. Sie streckte kurz den Kopf durch die Tür und wünschte ihm einen guten Morgen, wobei sie sich nur ungern eingestand, wie froh sie war, nicht allein in der Wohnung sein zu müssen.
Tess hatte erneut eine unruhige Nacht gehabt und entgegen ihrer vagen Befürchtungen nicht wieder geträumt. Sie war immer kurz vor dem Einschlafen durch dieses Scharren in der Wand gestört worden, sodass sie sich schließlich ein Kissen über den Kopf gelegt hatte. Außerdem fühlte sie sich durch dieses Telefon beunruhigt, das zu nachtschlafender Zeit klingelte. Doch wenn Tess abnahm, vernahm sie stets nur den Wählton, oder dieses schreckliche ruhige Atmen.
»Bitte hören Sie auf, mich anzurufen«, hatte sie in den Hörer gesprochen und sich dafür gehasst, dass ihre Stimme klang, als würde sie im nächsten Augenblick vor lauter Wut heulen. Schließlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als das Telefon dauerhaft auszustecken.
»Das ist ja schrecklich«, hatte Richard mitfühlend erklärt, nachdem sie ihm davon erzählt hatte. »Natürlich bekommt man ab und zu unerbetene Anrufe, aber wenn Sie sich dadurch belästigt fühlen, habe ich selbstverständlich nichts dagegen, wenn Sie den Festnetzanschluss stilllegen. Die Leute, die für mich wichtig sind, haben ohnehin meine Londoner Nummer. Sie besitzen sicher ein Handy, das Sie stattdessen benutzen können?«
Tess wünschte, sie könnte sich selbst so leicht beruhigen, wie es ihr offenbar Richard gegenüber gelang. Die Vorstellung, dass Martin von London aus ihre Nummer ausfindig gemacht hatte, war beunruhigend. Doch wenn er es war, der bei ihr anrief, dann müssten diese Anrufe nach Stilllegung des Festnetztelefons eigentlich aufhören. Ihre neue Handynummer herauszufinden dürfte Martin einige Schwierigkeiten bereiten.
»Richard, ist Ihnen je etwas Ungewöhnliches an dem hinteren Schlafzimmer aufgefallen?«, fuhr sie fort.
»Ich habe mich dort eigentlich selten aufgehalten und es nur als Gästezimmer benutzt.«
»Hat denn nie jemand erwähnt, dass er Geräusche oder so was gehört hätte?«
»Geräusche? Was denn für Geräusche?«
»Ein Scharren, manchmal auch ein Klopfen, aber sehr gedämpft. Als wäre da etwas in der Wand.« Bei der Erinnerung spürte sie einen Stich zwischen den Schulterblättern. »Vielleicht sind es Ratten.«
»Um Himmels willen, wie furchtbar!« Richard war entsetzt.
»Sicher irre ich mich«, beschwichtigte Tess ihn sogleich. »Aber vielleicht hat einer Ihrer Gäste mal eine entsprechende Bemerkung darüber gemacht.«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Ich hätte sofort bei der Stadt angerufen, wenn ich glauben würde, dass es dort im Haus Ratten gibt. Sie müssen unbedingt etwas unternehmen.«
»Ja, das werde ich.« Tess hätte Richard auch gern gefragt, ob er, wie sie, das Gefühl hatte, dass die Luft in der Wohnung bisweilen förmlich zu vibrieren schien, dass eine Atmosphäre banger Erwartung herrschte, aber sie traute sich nicht. Richard war ein Historiker von Rang und Namen. Er hatte dicke Wälzer über die Sozialgeschichte der Elisabethanischen Epoche geschrieben. Er studierte mit wissenschaftlicher Sorgfalt sein Quellenmaterial und suchte nach Belegen. Gefühle und Stimmungen interessierten ihn nicht. Für ihn zählten einzig und allein Fakten.
»Es ist eine tolle Wohnung«, sagte sie stattdessen. »Wissen Sie etwas über die Geschichte des Gebäudes?«
»Nur das, was ich im Zusammenhang mit seiner Lage in der Stonegate erfahren habe. Soweit ich weiß, gibt es keinen historischen Nachweis über die Existenz des Hauses, der älter ist als das späte siebzehnte Jahrhundert.« Alles, was jünger war, interessierte Richard nicht. »Warum fragen Sie?«
»Einfach so«, erwiderte sie. »Reine Neugier.«
»Und was gibt es sonst zu berichten? Hat Luke schon mit meinen Bücherregalen angefangen?«
»Ja. Er ist gerade hier.«
Tess hatte geglaubt, ihr Ton wäre vollkommen neutral, doch Richard hakte augenblicklich nach. »Seine Anwesenheit ist doch kein Problem für Sie, hoffe ich? Er schien mir recht sympathisch, als er sich vorstellte, und war mir ausdrücklich empfohlen worden.«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Er ist in Ordnung.« Eilig wechselte Tess das Thema. »Die Arbeit an den Gerichtsprotokollen gefällt mir. Gestern bin ich auf einen Fall von Selbstmord gestoßen.«
»Wirklich?« Sie konnte förmlich sehen, wie Richard sich gespannt aufsetzte. »Das ist sehr interessant.«
»Ich glaube, dass das Blatt versehentlich mit den anderen gebunden wurde. Es weist eine andere Handschrift auf, nur das Datum ist gleich. Ich weiß leider so gut wie nichts über Selbstmorde in dieser Periode«, fuhr sie fort und hoffte, möglichst beiläufig zu klingen. »Was geschah mit dem Leichnam von Selbstmördern? Ist es wahr, dass man sie nicht in geweihter Erde bestatten durfte?«
»Absolut richtig.« Unbewusst verfiel Richard in den Tonfall des dozierenden Professors. »Im sechzehnten Jahrhundert brachte man sehr wenig Mitgefühl auf für diese armen Geschöpfe, die so verzweifelt waren, dass sie sich das Leben nahmen. Selbstmord galt als Todsünde, als Gewaltakt gegen sich selbst, und folglich glaubte man, dass Selbstmörder auf ewig dazu verdammt waren, am Ort ihres Todes zu spuken. Und so verfiel man auf das makabre Ritual, einen Pfahl durch das Herz des Toten zu stoßen, ehe man ihn begrub. Es gibt zahlreiche Belege dafür. Eine interessante Verbindung zu den später gängigen Vampirsagen, finden Sie nicht auch?«
»Sehr interessant«, erwiderte Tess mit schwacher Stimme. Sie zögerte. »Zu der Zeit, als ich noch studierte, haben Sie da je eine Vorlesung über Bestattungsriten oder dergleichen gehalten?«
Richard dachte nach. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Aber es ist durchaus möglich. Ich habe mich immer schon für den Tod interessiert. Rein wissenschaftlich, natürlich.«
Also könnte sie diese Fakten über die Bestattung von Selbstmördern in einer seiner Vorlesungen gehört oder in irgendeiner obskuren Zeitschrift gelesen haben, dachte Tess. Als sie den Hörer auflegte, ging es ihr etwas besser. Sie hatte für ihre Magisterarbeit jede Menge Bücher und Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften eingesehen und offenbar einen gewaltigen Fundus an Wissen gespeichert, den nun ihr Unterbewusstsein angezapft und zu einem Traum verwoben hatte, aus Gründen, die wohl am ehesten ein Psychiater zu deuten vermochte.
Man nannte dieses Phänomen recovered memory. Tess wusste mit Sicherheit, etwas darüber gelesen zu haben. Das Gehirn war nicht in der Lage, die zahllosen Informationen, mit denen es tagtäglich überschwemmt wurde, allesamt zu verarbeiten, und speicherte einen Teil davon irgendwo ab, damit es nicht zu einer Überlastung kam. Deshalb konnte alles, was Tess je über die elisabethanische Zeit gelesen, gesehen oder gehört hatte, Form und Inhalt dieser beiden Träume beeinflusst haben.
Was Nell und Tom und die Szene am Flussufer betraf, nun, so war es wohl nicht allzu weit hergeholt, dies als sexuellen Frust zu interpretieren, den das Wiedersehen mit Luke offenbar bei ihr ausgelöst hatte. Auch wenn ihre Beziehung wahrscheinlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war, da sie und Luke praktisch keinerlei Gemeinsamkeiten besaßen, hatte Tess dennoch nie die starke physische Anziehungskraft zwischen ihnen leugnen können.
Sie hörte, wie Luke im Arbeitszimmer polterte, damit beschäftigt, Richards alte Bücherregale abzubauen, und spürte, wie sich in ihrem Unterleib ein warmes Gefühl ausbreitete. Das Problem dabei war, dass sich ihre Erinnerungen an Luke inzwischen mit jenen an Tom vermischten, was ein ziemliches Kuddelmuddel ergab.
Nur dass es keine Erinnerungen an Tom gab. Er war ein Produkt ihrer Fantasie, weiter nichts.
Und jetzt, wo sie eine Erklärung gefunden hatte für diese unheimlich real wirkenden Halluzinationen, konnte sie anfangen, all ihre anderen Probleme in Angriff zu nehmen. Sie hatte Richard versprochen, sich umgehend um das Rattenproblem zu kümmern, also suchte sie auf der Website der Stadt York die zuständige Stelle für Schädlingsbekämpfung und vereinbarte einen Termin. So ein Besuch von einem Mitarbeiter war mit Kosten verbunden, doch nach zwei schlaflosen Nächten war sie bereit, alles zu tun, damit diese schrecklichen Geräusche aufhörten.
Als jedoch der Mann von der Schädlingsbekämpfung den Raum inspizierte, konnte er weder ein Geräusch hören noch einen Hinweis auf Ratten entdecken. »Nirgendwo Kot, was normalerweise das erste Anzeichen ist, und soweit ich sehe, auch keine Löcher in den Wänden.«
»Aber ich kann sie hören!«, protestierte Tess.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht viel tun. Sie haben einen kleinen Jungen, und es ist sicher in Ihrem Interesse, dass in der Wohnung nicht unnötig Gift eingesetzt wird«, warnte er. »Außerdem haben Sie eine Katze.« Er bückte sich, um Ashrafar zu streicheln, die sich auf dem Bett räkelte. »Sie wird sich gratis dieser Viecher annehmen, falls tatsächlich mal welche in die Wohnung kommen. Wenn sie irgendwo in diesen Wänden leben, werden sie nach einer Weile weiterziehen.«
Tess war frustriert. Bei dieser ganzen Sache war genauso wenig herausgekommen wie bei dem Gespräch mit ihrer Anwältin, als sie sich erkundigt hatte, ob man etwas dagegen unternehmen könne, dass Martin sie mit seinen Anrufen belästigte.
»Kann ich nicht ein Kontaktverbot oder so etwas erwirken?«
»Hat er Sie denn tatsächlich bedroht?«
»Nein, aber ich bin mir sicher, dass er der anonyme Anrufer ist.«
Ihre Anwältin machte ein skeptisches Gesicht. »Können Sie das beweisen?«
»Nein.« Tess hätte daran denken sollen, die 1417 zu wählen, dann hätte sie die Nummer bekommen, wie ihr im Nachhinein klar wurde. »Nein. Aber ich weiß es einfach«, schloss sie lahm.
Die Anwältin bestärkte Tess auch nicht darin, die Scheidung voranzutreiben. »Ich bin verpflichtet, Ihnen vorzuschlagen, dass Sie und Ihr Mann zunächst versuchen sollten, mithilfe eines Mediators zu einer Lösung zu kommen«, erklärte sie. »Sie sollten beide an das Wohl Ihres Kindes denken.«
Tess sah vor ihrem geistigen Auge, wie sich Oscars schmächtige Schultern versteiften, wenn er Martins Wagen auf dem Kies der Einfahrt hörte. »Aber das tu ich ja. Ich denke daran. Martin ist das Wohl des Kindes vollkommen egal.«
»Dennoch hat er Anspruch darauf, sein Kind zu sehen.«
Mit Entsetzen wurde Tess klar, dass Martin den Kontakt zu seinem Sohn erzwingen konnte. Wenn Oscar abgeneigt war, konnte das Treffen im Beisein eines Mitarbeiters des Jugendamts stattfinden, doch beim jetzigen Stand der Dinge hatte Tess keine rechtliche Handhabe, Martin davon abzuhalten, seinen Sohn zu treffen.
Ihre einzige Hoffnung war, dass er bald das Interesse an ihnen beiden verlieren würde. Sie hatte das Festnetztelefon stillgelegt und benutzte ausschließlich ihr Handy. Martin dürfte es nun viel schwieriger finden, sie zu terrorisieren, es sei denn, er käme persönlich nach York.
Falls der anonyme Anrufer überhaupt Martin gewesen war.
Wenigstens hatten sie jetzt besseres Wetter, dachte Tess ein paar Tage später, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufsperrte. Sie war auf dem Rückweg von Oscars Schule in den Supermarkt gegangen und hatte dummerweise mehr eingekauft, als sie bequem tragen konnte. Das Thermometer war deutlich gestiegen, und die Sonne hatte angenehm warm auf ihren Rücken geschienen. Dadurch war Tess auf ihrem Rückweg ziemlich ins Schwitzen geraten und musste, bepackt mit ihren schweren Plastiktüten, immer wieder eine Pause einlegen, um ihren schmerzenden Armen Ruhe zu gönnen.
Geschieht dir recht, warum hast du dir auch eine Wohnung genommen, wo du nirgends parken kannst, hörte sie förmlich Vanessas Stimme.
Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, bückte sie sich, um die Einkaufstüten hochzunehmen, und bewegte dabei nachdenklich die Finger. Merkwürdig, wie oft sie seit einiger Zeit Schmerzen in den Händen hatte. Als wären sie wund und aufgescheuert, dabei sahen sie wie immer aus. Wäre ja noch schöner, wenn sie Arthritis oder so etwas bekäme, nicht in ihrem Alter.
»Soll ich dir helfen?« Luke erschien in der Tür zum Arbeitszimmer, das gegenüber der Eingangstür lag.
Er trug ein ausgewaschenes T-Shirt und Jeans, die am Knie aufgerissen waren. Er hatte Sägespäne im Haar, in der Hand eine Säge, und Tess registrierte bestürzt, dass sich bei seinem Anblick ihr Puls beschleunigte.
Das war Nells Schuld. Ohne diesen überaus lebhaften und erregenden Traum würde ihr jetzt nicht das Blut in den Kopf schießen, sich nicht dieses warme Gefühl in ihrem Bauch ausbreiten.
Sie hatte nicht wieder von Nell geträumt, doch die Erinnerung an diesen Taumel der Lust brachte Tess so aus dem Konzept, dass sie in Lukes Anwesenheit verkrampft und nervös wurde.
Dennoch, es war unsinnig, sein Angebot abzulehnen. »Danke«, erwiderte sie steif. »Das wäre nett.«
In einer fließenden Bewegung bückte Luke sich und hob die Plastiktüten hoch. Dankbar und gleichzeitig genervt, folgte sie ihm in die Küche, wo er den ganzen Einkauf auf der Arbeitsplatte abstellte.
»Danke«, sagte sie noch einmal.
Seine Gegenwart schien den ganzen Raum auszufüllen, sodass Tess das Gefühl hatte, in der kleinen Küche keine Luft zu bekommen. Überdeutlich nahm sie das Schweigen zwischen ihnen wahr. »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie schließlich, ohne ihn anzusehen, ganz damit beschäftigt, ihre Tüten auszupacken. Sie wünschte, er würde endlich gehen, damit sie wieder frei atmen könnte.
»Kaffee wär nicht schlecht«, erwiderte er lapidar. »Schwarz, zwei Stück Zucker. Aber vielleicht weißt du das ja auch noch.«
Natürlich wusste sie es noch, aber Tess war zu nervös und verlegen, um sein Lächeln zu erwidern.
»Ich bring ihn dir in fünf Minuten rüber«, erklärte sie kurz angebunden.
Während Tess darauf wartete, dass das Wasser im Kessel heiß wurde, fing das Handy in der Tasche ihrer Jeans zu klingeln an. Vanessa. Sie zog es heraus und nahm den Anruf entgegen, ohne auf das Display zu achten. »Hi«, sagte sie. Vanessa war die Einzige, der sie diese Nummer gegeben hatte. »Vanessa?«, wiederholte sie nach ein paar Sekunden. Manchmal dauerte es ein bisschen, bis die Verbindung zustande kam.
Als sie immer noch keine Antwort erhielt, nahm sie das Handy vom Ohr, schaute auf das Display und erstarrte vor Schreck. Bei dem Anrufer handelte es sich nicht um Vanessa. Wer es war, hatte seine Nummer unterdrückt.
Sie schaltete das Handy aus, blieb neben dem Wasserkessel stehen, nagte beunruhigt an ihrem Fingerknöchel. Martin konnte doch unmöglich die Nummer herausbekommen haben, oder? Es musste sich jemand verwählt haben. Wie leicht passierte es, dass man beim Eingeben der Zahlen auf die falsche Taste drückte. Natürlich war es schlicht ein Versehen.
Doch als sie Luke den Kaffee brachte, war immer noch eine steile Falte über ihrer Nasenwurzel zu sehen.
Im Arbeitszimmer herrschte nach wie vor geordnetes Chaos. Richards zu Stapeln aufgeschichtete Bücher waren mit Staubtüchern bedeckt, die alten Bücherregale abgebaut und die Teile an die Wand gelehnt. Vor dem geöffneten Fenster hatte Luke einen Sägebock aufgestellt, und der Geruch nach frisch bearbeitetem Holz, der durch die warme Luft im Raum noch intensiviert wurde, schlug Tess beim Eintreten heftig entgegen.
Das Kabinett.
Die Truhe.
Tess taumelte, als die Erinnerung jäh über sie hereinbrach. Für einen entsetzlichen Moment glaubte sie sogar zu spüren, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte.
»He.« Luke stand bereits neben ihr, als sie mit unsicheren Bewegungen versuchte, schnell den Kaffee irgendwohin zu stellen. Er nahm ihr den Becher aus der Hand und führte sie zu einem der Bücherstapel. »Setz dich da mal kurz hin. Nimm deinen Kopf zwischen die Knie.«
Er ließ seine Hand auf ihrem Nacken liegen, während sie den Kopf gebeugt hielt und tief ein- und ausatmete. Verwirrt registrierte sie, dass seine Berührung ihr guttat.
Nach einer Weile legte sich das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen. Tess’ Kopf wurde wieder klarer, und sie konnte sich aufrecht hinsetzen. »Danke«, sagte sie zu Luke, der neben ihr kauerte, die Augenbrauen besorgt zusammengezogen. »Es geht schon wieder.«
»Du siehst beschissen aus«, erklärte er unverblümt.
»Charmant wie eh und je«, sagte Tess, auch wenn es sie etwas Anstrengung kostete.
Er richtete sich auf, betrachtete stirnrunzelnd ihr kreidebleiches Gesicht. »Im Ernst. Du siehst nicht gut aus.«
»Ich bin nur übermüdet«, brachte sie als Erklärung heraus. »Ich schlafe in letzter Zeit so schlecht.«
»Schwierige Zeiten?«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich hab schon schlimmere durchgemacht«, erwiderte sie. »Es geht mir wieder besser. Ehrlich.«
Sie brachte ein Lächeln zustande, aber offenbar wirkte es auf Luke alles andere als überzeugend, denn er blieb weiter neben ihr stehen und blickte sie forschend an, wobei seine besorgte Miene nicht recht zu seinem scharf geschnittenen Gesicht passte. Tess schloss daraus etwas peinlich berührt, dass sie anscheinend genauso mies aussah, wie sie sich fühlte.
»Hier, trink einen Schluck«, sagte er schließlich. »Der Zucker wird dir guttun.« Er reichte ihr den Kaffee, den sie für ihn gekocht hatte. Sie schlang ihre Hände um den Becher, genoss die Wärme. Ihr war immer noch schwindlig und etwas übel. Ihre Zähne schlugen an den Becherrand, als sie einen kleinen Schluck nahm, woraufhin Luke sie alarmiert ansah. Er hatte sich auf einen Stapel Lexika gehockt, nah bei ihr, damit er sie, wenn nötig, auffangen konnte. Tess wusste nicht, ob sie über seine Besorgnis gerührt oder genervt sein sollte.
Ihr widerstrebte der Gedanke, Luke könne sie für ein armes bedauernswertes Ding halten. Sie hatte es so satt, als eine Frau behandelt zu werden, die unfähig war, eigene Entscheidungen zu treffen und die der Fürsorge eines Mannes bedurfte. Doch wenn sie so entschlossen war zu beweisen, dass sie ihr Leben allein meistern konnte, sollte sie sich etwas Besseres einfallen lassen, als praktisch vor Lukes Augen in Ohnmacht zu fallen, oder? Sie musste sich jetzt wirklich am Riemen reißen, musste endlich mehr Beherztheit an den Tag legen.
Tess nahm noch einen Schluck Kaffee, straffte die Schultern, lächelte. »Danke, jetzt geht’s wieder.« Sie hielt ihm den Becher hin, wollte ihm seinen Kaffee zurückgeben.
»Trink du ihn«, sagte er. »Du brauchst ihn dringender als ich.« Er lehnte sich etwas vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und schaute sie wieder an, während Tess sich innerlich wand unter seinem forschenden Blick. Sie wollte ihm ruhig und gefasst begegnen, doch ihre Augen taten ihr den Gefallen nicht. Immer wieder glitten sie hinunter zu seinem kantigen Kinn, wanderten von der Linie seiner Wange zu dem kühnen Schwung seiner Lippen und zurück.
»Bist du krank, Tess?«, fragte er ganz direkt.
»Nein!« Aufgebracht stellte sie den Becher auf den Boden und schlang in einer unbewusst defensiven Geste die Arme um den Oberkörper. »Mir fehlt nichts!«
»Du bist wirklich sehr blass und viel zu dünn … Ich habe dich zuerst fast nicht wiedererkannt. Und was, zum Teufel, ist mit deinem Haar passiert?«
»Ich habe es abschneiden lassen.«
»Du hattest so schönes Haar«, bemerkte er missmutig. »Mir hat es lang immer gefallen.«
Martin auch. Der Besuch beim Friseur, das Schnippen der Schere, hatte sich wie ein Akt der Befreiung angefühlt. Tess war immer noch ein wenig schwindlig bei der Erinnerung, dass sie sich das getraut hatte. Jedes Mal, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, war sie überrascht und begeistert von ihrem Wagemut. Sie sah so anders aus. Älter. Nicht mehr so mädchenhaft. Mehr wie die Frau, die sie sein wollte.
Sie reckte das Kinn und legte eine Hand an ihr Haar. Das heißt, was davon noch übrig war. »Mir gefällt es so«, antwortete sie trotzig, und diesmal gelang es ihr auch, Lukes Blick standzuhalten.
Anerkennung spiegelte sich in seiner Miene, und er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Na gut«, lenkte er ein. Er schaute hinunter auf seine Hände und dann wieder in ihr Gesicht – wie hatte sie vergessen können, dass diese verwirrend hellen Augen so durchdringend blicken konnten –, und sein Ton veränderte sich.
»Verdammt, was ist mit dir passiert, Tess?«, fragte er leise.
Tess stand auf. »Nichts«, antwortete sie. Was wollte er hören – die ganze traurige, armselige Geschichte? »Ich bin nicht krank. Mir geht es gut.« Die Arme um den Oberkörper geschlungen, stand sie da und schaute mit verkniffener Miene auf ihn hinunter. »Ich weiß, dass ich schon besser ausgesehen habe, aber wie ich bereits sagte, kommt es nur daher, weil ich so schlecht schlafe, seit ich hier eingezogen bin. Die neue Umgebung, das fremde Bett. All diese Sachen, die mir im Kopf rumgehen. Und dieser Lärm – es ist schrecklich.« Lukes Blick ruhte lange auf ihr, ehe er nickte und woandershin guckte. »Ich schätze, die Altstadt ist nicht gerade eine der ruhigsten Wohngegenden«, bemerkte er und stand ebenfalls auf.
»Die Pubs stören mich nicht. In meinem Schlafzimmer, das nach hinten geht, bekomme ich ohnehin nichts davon mit.« Dankbar, dass er den Themenwechsel akzeptiert, entspannte sich Tess. »Die Ratten sind es, die mir zu schaffen machen.«
Luke, der sich gerade bückte, um seinen Kaffeebecher hochzuheben, hielt mitten in der Bewegung inne. »Ratten?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Ja, oder was Ähnliches. Mäuse vielleicht.« Tess wünschte, er wäre nicht aufgestanden. Er war zu groß, stand zu dicht vor ihr. Er nahm ihr die Luft zum Atmen.
Nervös bewegte sie sich ein paar Schritte weg, hob ein Staubtuch an, tat so, als interessierte sie sich für den Bücherstapel darunter. »Vor ein paar Tagen hatte ich einen Mann von der Schädlingsbekämpfung hier. Er sagt, da ist nichts, aber das stimmt nicht. Ich höre es doch! Es klingt, als würde etwas aus der Wand rauswollen. Es macht mich wahnsinnig!«
Bei der Erinnerung an diese frustrierende Begegnung wurde ihre Stimme schrill, und Luke hob beruhigend die Hände, eine Geste, die sie ärgerte. »Willst du, dass ich es mir mal ansehe?«, fragte er.
Tess hatte den Eindruck, dass er sie besänftigen wollte, aber insgeheim nicht ernst nahm. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Es ging nicht an, dass Luke Hutton sie als hysterisches Weibsbild abschrieb. Niemand durfte ihr irgendeinen Stempel aufdrücken.
Tess musste daran denken, wie er sie zum ersten Mal auf seinem Motorrad mitgenommen hatte. Sie waren ans Meer gefahren, hatten sich in den Dünen ein geschütztes Fleckchen gesucht.
Ich wünschte, ich könnte so sein wie du, hatte sie gesagt. Du bist so cool, so souverän. Dir ist egal, was die anderen denken. Im Gegensatz zu ihm war Tess gehemmt und schüchtern, verbarg ihre Unsicherheit und die Trauer um ihren verstorbenen Vater hinter einer Maske der Unnahbarkeit, von der sich einzig Luke nicht abschrecken ließ.
Luke hatte den Kopf zu ihr gedreht und sie angeschaut. Tess sah noch genau den Schwung seiner Lippen vor sich, den Ernst in seinen Augen, spürte förmlich, wie ihr damals das Herz geklopft hatte.
Mir ist nicht egal, was du denkst, hatte er ihr geantwortet. Ich will nicht, dass du cool bist. Ich will, dass du so bist, wie du bist.
Tess wollte wieder sie selbst sein, und die Tess, die sie sein wollte, war eine Frau, die sich nie mehr auf andere verlassen, sich nie mehr von anderen abhängig machen würde.
Sie holte tief Luft, zwang sich zu einem gelassenen Ton. »Das ist nett von dir, Luke«, erwiderte sie. »Aber das ist nicht nötig. Ich habe nur versucht, dir zu erklären, warum ich so mies aussehe.«
»Wenn du sicher …«
Tess’ Handy begann zu klingeln, ehe er seinen Satz beenden konnte. Sie spürte es in ihrer Tasche vibrieren und sah, wie Luke sich im Zimmer umblickte und sich vergewisserte, dass es nicht seins war. Tess wusste plötzlich todsicher, dass der Anrufer nicht Vanessa war. Sie würde wieder dieses leise Atmen hören, und Erschöpfung machten sich in ihr breit. Sie wollte den Anruf nicht entgegennehmen, wollte nicht darüber nachdenken, wer der Anrufer war und was er von ihr wollte.
Sie bemühte sich ja nach Kräften, sie selbst zu sein, doch bei diesem Vorsatz hatte sie nicht mit anonymen Anrufen und schlaflosen Nächten gerechnet, nicht damit, dass ihre Welt aus den Fugen geraten oder eine unerklärliche dunkle Vorahnung sie quälen würde.
Nachdem Luke sich überzeugt hatte, dass das Klingeln nicht von seinem Handy kam, drehte er sich zu ihr um und hob fragend die Augenbrauen. Widerstrebend zog Tess ihr Handy heraus, als könnte das Gerät sie gleich anspucken, und warf einen Blick auf das Display. Bitte lass es Vanessa sein, flehte sie innerlich.
Die Nummer war unterdrückt.
»Willst du telefonieren?« Luke deutete mit einer Geste an, ob er derweil aus dem Zimmer gehen solle, doch Tess schüttelte den Kopf.
»Nein.« Dann legte sie kurz entschlossen das Handy auf das Staubtuch über dem Bücherstapel. »Vielleicht könntest du doch mal einen Blick auf diese Wand werfen?«, bat sie Luke mit einem knappen, unverbindlichen Lächeln. »Ich lass den Anrufer auf die Mailbox sprechen.«
Hörte sich der Klingelton immer so schrecklich höhnisch an? Tess gab sich alle Mühe, das Handy zu ignorieren, das im Arbeitszimmer weiter beharrlich klingelte, während sie Luke voran durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer ging. Luke enthielt sich eines Kommentars, dennoch war es wie eine Erlösung, als das Gerät endlich verstummte, auch wenn dadurch die Stille in dem Schlafzimmer noch deutlicher zutage trat.
Tess ließ ihre Blicke schweifen, versuchte, den Raum mit Lukes Augen zu sehen. Das Bett. Die Kommode in der Nische des ehemaligen offenen Kamins. Die Bücher, die ihr beim ersten Mal so heimelig und einladend vorgekommen waren, doch jetzt den Eindruck in ihr erweckten, sie würden Tess arglistig beobachten. Würde Luke etwas auffallen? Würde er das unterschwellige Böse in dem Zimmer wahrnehmen, würde ihn die gleiche dunkle Ahnung überkommen, die Tess die ganze Zeit vage verspürte?
Die Luft im Raum war kalt, wie erstarrt, die Morgensonne hatte noch einen weiten Weg vor sich, ehe sie das Fenster erreichen würde. Tess war sich Lukes Anwesenheit überdeutlich bewusst. Er wirkte so stabil und unerschütterlich, war so wunderbar real, und sie musste sich zurückhalten, um den Abstand zu wahren.
»Ein bisschen düster ist es hier, findest du nicht?«, meinte er.
Tess fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. »Ja, schon.«
Luke hob den Arm und stupste an die Deckenleuchte, woraufhin der Lichtschein über die Wände wanderte. »Ein gescheites Licht und ein Heizofen, und schon würde das Ganze viel wohnlicher wirken.«
Von dem hin und her schwingenden Licht wurde Tess schwindlig. Sie blinzelte und fuhr erschrocken zusammen, als mit einem Mal wieder dieses beklemmende Schaben und Scharren in der Wand anfing und jäh die Stille unterbrach.
»Von wo genau, glaubst du, kommen die Geräusche?«, erkundigte sich Luke.
Tess’ Gesicht leuchtete erleichtert auf. Es hatte ihr widerstrebt, den Gedanken zuzulassen, dass sie sich die Geräusche womöglich nur eingebildet hatte. »Du meinst, du hörst sie also auch?«
»Nein.« Er schaute sie an und zog die Augenbrauen zusammen, als er sah, wie ihre Miene vor Enttäuschung förmlich entgleiste. »Du?«
Sie hörte es so deutlich.
Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Tess wich Lukes Blick aus. »Nein«, log sie. »Im Moment nicht.«
»Vielleicht sind es doch Ratten.« Nach einem weiteren prüfenden Blick ging Luke hinüber zu der Wand und klopfte daran herum. »Das hier ist keine tragende Wand. Möglicherweise gibt es darin Hohlräume.«
Tess hörte ein heftiges Rauschen im Ohr. Sie wich einen Schritt zurück, tastete mit der Hand nach der Bettkante, während das Licht sich veränderte und das ganze Zimmer ins Gleiten geriet. Für einen kurzen Moment schienen alle Formen in Bewegung, doch dann setzte auf einmal hinter der Wand das schrille Geräusch einer Schlagbohrmaschine ein, und wie auf ein Kommando hin kehrte alles in seinen ursprünglichen Zustand zurück.
»Meine Fresse, was für ein Krach«, kommentierte Luke. »Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst, wenn die das Ding da laufen lassen.«
Tess holte vorsichtig Luft, atmete nur flach. Der Raum war wieder zur Ruhe gekommen.
»Der Laden nebenan wird gerade renoviert. Nachts arbeiten sie dort aber nicht.« Die Worte fühlten sich sperrig an Tess’ Gaumen an. Sie musste vorsichtig die Zunge um sie herumbewegen, als hätte sie Kieselsteine im Mund, doch Luke schien es nicht zu bemerken.
»Vielleicht ist durch den Lärm was aufgescheucht worden. Gehen wir doch mal rüber und schauen wir uns das Ganze an.«
Ein mit Bauschutt beladener Container stand vor dem Haus, ragte halb in die Straße, und die große Scheibe des Schaufensters war mit Wirbeln aus weißer Farbe bemalt. An der offen stehenden Ladentür klebte ein Zettel. Wir stellen ein: Koch. Thekenpersonal (Berufserfahrung Voraussetzung). Bedienungen, auch Teilzeit möglich.
»Sieht so aus, als würde hier demnächst ein Lokal oder so was aufmachen«, kommentierte Luke, klopfte mit dem Fingerknöchel gegen die Tür und marschierte schnurstracks hinein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. »Das wird Richard aber nicht gefallen.«
Tess schwieg. Sie hatte den Laden noch nie betreten – dessen war sie sich ganz sicher –, dennoch beschlich sie ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, bedrängte sie, wie das Gesindel draußen vor dem Stadttor Monk Bar sie bedrängt hatte. Sie war so überzeugt, dass es hier etwas gab, was sie tun, was sie wissen sollte, sodass es ihr förmlich die Kehle zuschnürte.
»Hallo?«, rief Luke laut.
Oben im ersten Stock plärrte in voller Lautstärke ein Radio, das auf einen Lokalsender eingestellt war, dennoch konnte es nicht die Stimme eines Mannes übertönen, der von einem Streit mit seiner Freundin erzählte. »Also sag ich zu ihr: ›Du gemeines Miststück‹, und plötzlich geht dieses verrückte Weib auf mich los«, berichtete er in gekränktem Ton, wobei sein unerquicklicher Bericht durch Hämmern und Bohrgeräusche rhythmisch untermalt wurde.
Luke erklomm die ersten Stufen der schmalen Eisentreppe. »Hallo?«, rief er wieder. Er blickte über die Schulter zurück zu Tess. »Kommst du?«