Die Mittagssonne schien brennend auf die Straßen von Bochum herab. Der Asphalt flimmerte, und das Thermometer kletterte wie auch an den letzten Tagen über die Fünfunddreißig-Grad-Marke. Ein Blick auf den Kalender sagte mir, dass heute der 1. August war. In einem anderen Sommer, oder in einem anderen Leben, hätte ich diese Tage an der Ruhr oder im Stadtpark genossen. Doch von der Hitze draußen bekam ich nur durch die Berichte im Fernsehen etwas mit und durch die warme Luft, die durch die gekippten Fenster strömte. Meine Haut war so blass wie noch nie. Trotz meiner roten Haare und des hellen Teints hatte ich sonst immer zumindest eine leichte Bräune, doch in diesem Jahr war alles anders. Der Sommer war bisher an mir vorbeigezogen wie ein Film, bei dem ich nur zusah, aber kein Teil der Handlung war.
Ich klappte die lederne Mappe mit den Dokumenten zu. In den letzten zwei Monaten hatte ich alle Papiere meiner Mutter auf der Suche nach Hinweisen unzählige Male durchgesehen. Hinweise, die ich nicht fand, weil es sie nicht gab, und dennoch hatte ich immer und immer wieder von neuem begonnen. Am häufigsten hatte ich mir meine Geburtsurkunde angesehen. Ein simples DI N -A5-Blatt, leicht vergilbt.
Aline Räuber
Geboren am 28. April 1994 in Bochum
Mutter: Margit Räuber
Vater: unbekannt
Die Daten waren mir natürlich bekannt gewesen. Doch es war das einzige Dokument mit einem Vermerk zu meinem Vater. Und dieses »unbekannt« sagte mir, dass meine Mutter mir die Wahrheit erzählt hatte, während die Worte meiner Tante, die mir noch in den Ohren klangen, etwas anderes behaupteten.
Mittlerweile konnte ich den Stempel und die Unterschrift des Standesbeamten auf der Urkunde mit geschlossenen Augen nachzeichnen. Ich musste damit aufhören. Seufzend legte ich die Mappe mit den Unterlagen in einen Karton mit Dingen, die ich behalten wollte, riss den Blick von dem dunkelbraunen Ledereinband los und schaute mich im Wohnzimmer unserer Dreizimmerwohnung um. Zum Beginn meines Studiums in Stuttgart war ich ausgezogen, aber vor gut eineinhalb Jahren schließlich wieder zurückgekommen. Mit der Hoffnung, gemeinsam würden wir den Kampf gewinnen können.
Die Beerdigung meiner Mutter war nun acht Wochen her, und dennoch lockerte die Trauer ihren Griff um mein Herz nur zögerlich. Es war, als wagte ich stets nur flach zu atmen, aus Angst, beim ersten tiefen Atemzug würde der stechende Schmerz wieder einsetzen. Obwohl ich in den letzten Tagen ihres Lebens begriffen hatte, dass das Sterben für sie nach dem Aufbäumen gegen die zehrende Krankheit eine Erlösung war, machte es das nicht leichter für mich. Meine Mutter war alles, was ich hatte. Bis auf Tante Karin. Wenn ich jedoch an das überraschende Auftauchen der älteren Schwester meiner Mutter bei der Beisetzung dachte, konnte ich nur ungläubig den Kopf schütteln. Trotzdem schweiften meine Gedanken immer wieder dorthin. Nahezu pausenlos.
Mein linker Fuß kribbelte, als ich aufstand. Ich schüttelte ihn aus und versuchte gleichzeitig, die Gedanken loszuwerden. Ziellos begann ich im Anschluss, Schubladen und Schranktüren zu öffnen. Zwei weitere Monate hatte ich Zeit, bis ich aus der Wohnung rausmusste. In den ersten Wochen nach der Beerdigung hatte ich schlichtweg vergessen, sie zeitnah zu kündigen. Es gab so viel zu organisieren und zu bewältigen … Mamas Tod war nicht überraschend gekommen, doch wer alles darüber informiert werden musste, schon. Versicherungen, die Bank und gefühlt ein Dutzend weitere Stellen. Geräuschvoll stieß ich einen Schwall Luft aus.
Nach den Kosten für die Beerdigung reichte der Rest der kleinen Lebensversicherung meiner Mutter gerade so, um die noch anstehenden Mietzahlungen abzudecken. Das gab mir ein wenig Zeit, bis ich entscheiden musste, wie es für mich weiterging. In der Wohnung bleiben wollte ich nicht. Sie war zu groß und zu teuer, und der Geruch nach Krankheit, Leid und Traurigkeit würde immer zwischen den Wänden wabern. Als ich im vorletzten Herbst die Entscheidung traf zurückzukommen, um meiner Mutter beizustehen, lebte ich schon einige Jahre in Stuttgart. Durch das Studium hatte ich dort einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut und war nach dem Abschluss einfach dortgeblieben. In meinem Job – ich war Illustratorin – musste man nicht zwangsläufig in derselben Stadt leben wie die Auftraggeber. Daher hatte ich zuerst auch gedacht, von hier aus weiterarbeiten zu können, aber statt ein wenig Unterstützung benötigte meine Mutter schon bald mehr und mehr Hilfe, und meinen letzten Auftrag, die Illustrationen eines Kinderbuchs, brach ich schließlich sogar ab. Was für den Verlag eine Verschiebung des Erscheinungstermins bedeutete – noch heute war mir das unangenehm. Doch es gab Wichtigeres im Leben als verpatzte Jobs. Und wie sollte man Kinderbuchfiguren zum Leben erwecken, während man sich die ganze Zeit fragte, wie lange die eigene Mutter noch leben würde? Ich konnte das nicht.
Ich schob die Utensilien für meinen Shop beiseite, die im Wohnzimmer herumstanden. Aus der Not hatte ich vor einem Jahr einen Etsy-Shop eröffnet, in dem ich Linoleumdrucke verkaufte. In der Zeit der Pandemie hatten noch mehr Leute als üblich online gekauft, und es war ganz gut gelaufen. Aber auch dort fegten seit Wochen die Wollmäuse durch die virtuellen Regale, weil ich den Shop in letzter Zeit vernachlässigt hatte.
Ich presste die Lippen aufeinander. Ich hatte das Gefühl, je mehr ich sortierte, desto größer wurde das Chaos. Wie sollte ich das ganze Leben meiner Mutter sortieren – quasi auflösen?
Als Nächstes lief ich in den kleinen Wohnungsflur und schaute in die Schublade der Kommode, in der die bunten Kopftücher meiner Mutter, die sie nach der Chemotherapie getragen hatte, zusammengefaltet übereinanderlagen. Die könnte ich dem Krankenhaus spenden . Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, ich schluckte und blinzelte. Es war schlimm genug gewesen, ihre Sachen zu durchwühlen auf der Suche nach Anhaltspunkten, dass an Karins Story etwas dran war. Nun zu entscheiden, was ich behalten sollte und was nicht, war noch deutlich härter.
Es klopfte an der Tür, und ich schob die Schublade wieder zu. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich mir über die Wangen und öffnete anschließend. Nadia, die nur wenige Jahre älter war als ich und in der Wohnung über uns wohnte, stand mit ihrer Tochter Bea an der Hand im Flur. Ihr Bauch wölbte sich unter dem lockeren T-Shirt und verriet, dass Bea im Herbst ein Geschwisterchen bekommen würde.
»Hallo, ihr zwei«, sagte ich bemüht fröhlich. Meine Stimme fühlte sich rau an und klang eingerostet. In den Tagen nach Mamas Tod hatte ich zu viel reden müssen, doch seitdem zu wenig. Nadia und ich waren, kurz nachdem ich bei meiner Mutter eingezogen war, im Hausflur ins Quatschen gekommen. In den vergangenen Monaten war sie mit meiner Sandkastenfreundin Anni einer der letzten sozialen Kontakte, die mir geblieben waren. Meine Freunde aus Stuttgart hatten sich immer seltener gemeldet, und zur Beerdigung waren nur Karten gekommen. Irgendwie verstand ich, dass sie nicht wussten, wie sie mit meiner Situation umgehen sollten. Doch das wusste ich auch nicht, allerdings blieb mir keine Wahl. Nadia hingegen hatte als Altenpflegerin keine Berührungsängste mit Krankheiten und dem Tod, und sie hatte hin und wieder vorbeigeschaut, meistens mit Keksen oder Kuchen. Sie hatte mir so manches Mal geholfen und mir gute Tipps gegeben, als ich völlig überfordert war.
»Wir haben dir Kuchen gebacken«, verkündete Bea auch heute stolz und entlockte mir damit ein aufrichtiges Lächeln.
»Kuchen für mich? Das ist aber lieb.«
Die Kleine nickte eifrig. »Weil deine Mama jetzt im Himmel ist und du sie vermisst.«
»Bea«, sagte Nadia und lächelte mich entschuldigend an.
»Das stimmt. Ich vermisse sie sehr.«
»Kuchen macht mich glücklich. Dich bestimmt auch. Oder schaukeln, das hilft genauso.«
Nadia überreichte mir das Gebackene. »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
Ich wog den Kopf hin und her und zog die Nase kraus. »Vielleicht sollte ich das mit dem Schaukeln mal ausprobieren.«
»Verstehe«, sagte Nadia daraufhin.
»Möchtet ihr reinkommen und mit mir ein Stück vom Kuchen essen?«
»Jaa!«, rief Bea und zog ihre Mutter an mir vorbei in unsere Wohnung. Als ich ihnen in die Küche folgte, fiel mein Blick auf die geschlossene Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter. Diesen Raum hatte ich seit ihrem Tod möglichst gemieden, und auch jetzt genügte der Anblick der Tür, dass sich ein bleischweres Gefühl in meinem Magen breitmachte.
In der Küche verdrängte Beas Geplapper die drückende Stille, die sonst über den Räumen lag.
»Malst du mir ein Pony?«, fragte sie.
»Ähm …«, sagte ich, während mein Herz zu hämmern begann. Als ich frisch hergezogen war, hatte ich Bea manchmal Tiere skizziert, die sie dann ausmalen konnte. Als Illustratorin eigentlich keine große Sache. Doch ich hatte seit vielen Monaten nichts mehr gezeichnet. Mit jedem Tag, den es meiner Mutter schlechter ging, hatte sich zunehmend etwas in mir blockiert.
Doch nun sahen mich Beas dunkelbraune Augen so erwartungsvoll an, dass ich nicht nein sagen konnte.
»Wir haben doch darüber geredet, Bea«, sagte Nadia sanft, die von meinen Schwierigkeiten wusste.
»Nein, nein, schon gut.« Entschlossen holte ich einen Notizblock, der eigentlich für Einkaufslisten gedacht war, und einen Kugelschreiber. Meine Hand verkrampfte sich, als ich die Mine auf das Papier setzte. Mit einem nervösen Lächeln schaute ich auf. In Nadias Augen las ich Sorge, in Beas nur Vorfreude.
Der Anblick der beiden rief Kindheitserinnerungen wach. Wie oft hatten meine Mutter und ich zusammen in dieser kleinen Küche gesessen! Sie hatte mir auch immer Tiere skizziert, die ich dann eifrig ausmalte, bis ich selbst welche zeichnen konnte. Ich senkte den Blick und zwang mich, den Stift zu bewegen. Die Linien wurden etwas unruhig, und ich war mir sicher, selbst im Alter von zwölf schon bessere Ponys zu Papier gebracht zu haben. Aber Bea schien zufrieden mit meiner Leistung, als ich ihr den Block rüberschob und ihr ein Mäppchen mit Buntstiften dazugab.
»Danke«, formte Nadia lautlos mit den Lippen, und ich lächelte flüchtig. »Ist deine Freundin Anni noch in den USA ?«
Ich nickte. »Ja, sie bleibt noch ungefähr einen Monat. Dann war sie insgesamt drei Monate in der dortigen Geschäftsstelle.«
»Was macht sie nochmal?«
»Sie ist Programmiererin.«
»Uh, stimmt, sie ist ein Nerd.«
Ich lachte auf. »Das ist sie.« Kurz schauten wir Bea beim Ausmalen zu, ehe ich fragte: »Wie geht es dir denn? In welcher Woche bist du jetzt?« Nadias und Beas Besuche waren in den vergangenen Monaten wie ein Ausflug ins normale Leben gewesen. Wie eine Erinnerung daran, dass es da draußen noch Glück gab. Und ich glaubte, Nadia war durchaus bewusst, dass ich diese Dosis Normalität von ihr brauchte.
»In der dreißigsten. Ich sag dir, ich habe schon jetzt keine Lust mehr. Bei dem Wetter sind meine Füße aufs Doppelte angeschwollen, und ich schwitze, sobald ich nur daran denke, mich zu bewegen.«
Bea schaute auf. »Das kommt von dem Baby in Mamas Bauch.« Genervt verzog sie den Mund.
»Ich weiß, dein Bruder, nicht wahr? Freust du dich schon auf ihn?«
Ihr kleines Gesicht verdunkelte sich zusehends. »Nein. Ich wollte eine Schwester, und außerdem hat meine Freundin Emilia auch einen Babybruder, und der schreit jede Nacht.«
Ich schmunzelte. »Das wird bestimmt ganz toll mit ihm, auch wenn er manchmal weint.« Was hätte ich darum gegeben, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, egal wie nervig! Ich drängte den Gedanken beiseite, und während ich mit der Gabel ein Stück von dem Zitronenkuchen abtrennte, fragte ich Nadia, ob sie sich bereits für einen Namen entschieden hatten.
Als die beiden eine halbe Stunde später gingen, nahmen sie auch die unbeschwerte Stimmung mit, und über der Wohnung hing wieder eine dunkle und drückende Wolke.
Erneut stand ich etwas ratlos im Flur. Die letzten Monate mit meiner Mutter hatten mein ganzes Leben eingenommen, sodass ich gar nicht mehr wusste, was ich ohne sie und den Kampf gegen den Krebs tun sollte. Alles, was ich davor getan hatte, schien nicht mehr zu diesem Leben zu gehören. Ich konnte mir nicht vorstellen, nach Stuttgart zurückzukehren. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, rieb ich mir mit der anderen über die Augen. Meine Finger stießen dabei an die Ponyfransen, die viel zu lang waren. Genervt pustete ich sie nach oben.
»Na schön, fangen wir mit den Möbeln an«, sagte ich schließlich in die Stille hinein. Bevor ich wieder in meiner Trübsal versank, zückte ich mein Handy und knipste den monströsen Wohnzimmerschrank aus verschiedenen Winkeln. Den würde ich über Ebay-Kleinanzeigen verkaufen. Mein Blick huschte zu den Utensilien für den Etsy-Shop. Schon vor Wochen hatte ich alle Artikel auf »nicht verfügbar« gesetzt. Etwas, das ich dringend ändern sollte, um zumindest etwas Geld zu verdienen. Aber zuerst der Schrank. Ich legte eine Anzeige an und stellte sie kurze Zeit später online.
Das war doch leichter gewesen als gedacht. Genauso verfuhr ich mit der großen Couch.
Im Anschluss ging ich zum Zimmer meiner Mutter. Meine Hand lag auf der Klinke. Ich war am Tag der Beerdigung hier drin gewesen, nachdem Karin diese ungeheuerliche Behauptung geäußert hatte, und hatte alles durchgesehen, doch danach hatte ich mich schrecklich gefühlt und war nicht noch einmal hineingegangen.
»Mann, Aline, es sind acht Wochen vergangen, es muss jetzt irgendwie weitergehen.« Mit einem tiefen Atemzug stieß ich die Tür auf. Abgestandene Luft schlug mir entgegen. Es roch nach Krankheit, nach Verlust, aber unter all diesen Gerüchen, mit denen ich nichts Gutes verband, glaubte ich, auch den meiner Mutter wahrzunehmen.
Das Bett war noch bezogen – hatte darauf gewartet, dass sie aus dem Krankenhaus zurückkam. Bis zum letzten Tag hatte ich gehofft, wo es doch eigentlich nichts mehr zu hoffen gab. Die Pflege meiner Mutter, der Krebs – das alles hatte unsere Beziehung umgekehrt. Plötzlich war ich es gewesen, die sich kümmerte, die die Verantwortung trug. Doch jetzt, in diesem Moment, überkam mich eine riesige Welle Sehnsucht nach meiner Mama. Nach ihrem Rat, einer wohligen Umarmung, ihrem liebevollen Lächeln und der Versicherung, dass ich das schon schaffen würde.
Ich legte mich rücklings aufs Bett, zog mir ein Kissen über den Kopf, atmete tief ein und versuchte, die verbliebenen Spuren von ihr hier auf dieser Erde festzuhalten. Nach einer Weile wanderten meine Gedanken zurück zu den letzten gemeinsamen Tagen, dem letzten Moment. Doch es war zu schmerzhaft, und ich drängte das Gedankenkarussell weiter – bis es wieder bei Tante Karin und unserer Begegnung bei der Beerdigung anhielt.