Kapitel 2

Acht Wochen zuvor

Ein Trauergast nach dem anderen trat zu mir und bekundete mir sein Beileid. Mechanisch schüttelte ich die Hände, die mir entgegengestreckt wurden, doch die Gesichter verschwammen zu einer Masse aus traurigen Mienen. Freunde meiner Mutter, Arbeitskollegen von ihr, einige meiner Schulkameraden von früher – zu denen der Kontakt lange abgebrochen war oder höchstens noch alle paar Monate über Social Media erfolgte, die aber meiner Mutter die letzte Ehre erweisen wollten. Tränen flossen keine mehr an meinen Wangen hinab. Stattdessen fühlte ich mich wie eine vom Aussterben bedrohte Spezies, die von allen angegafft wurde. Ich wollte diesen Tag nur noch hinter mich bringen und endlich in Ruhe für mich allein trauern. Gerade einmal sechsundvierzig Jahre alt war Mama geworden. Das war nicht fair.

Da spürte ich, wie sich ein Arm unter meinen schob. »Komm, Aline, ich bringe dich nach Hause.«

Ich wandte den Kopf. Meine Tante Karin, sie hatte mir eben schon ihr Beileid ausgesprochen. Das letzte Mal hatte ich sie vor über elf Jahren gesehen. Damals hatten sie und meine Mutter sich riesig verkracht, und ich war überrascht gewesen, sie hier zu sehen. Ihre Haare trug sie kürzer, die Falten um ihre Augen hatten sich vertieft. Gleich geblieben waren der dick aufgetragene Lippenstift und ihr Duft nach Chanel No. 5.

»Ich bin mit unserer Nachbarin hergekommen«, sagte ich tonlos.

»Verstehe, aber ich würde gern etwas mit dir besprechen.«

»Okay«, erwiderte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Kurz hob ich den Kopf, fand Nadias Blick, nickte in Richtung meiner Tante und hoffte, dass Nadia verstand, was ich ihr damit sagen wollte.

Ich ließ mich von Karin zu einem SUV führen, mit gesenktem Kopf, damit ich nicht noch mehr Hände schütteln musste. Kurz fragte ich mich, ob ihr Mann Erwin gar nicht hier war, doch was spielte das für eine Rolle? Und es war mir auch egal, mit wem ich fuhr. Hauptsache, ich konnte hier weg.

Karin warf ihren schwarzen dünnen Mantel auf die Rückbank und quetschte ihre üppigen Rundungen hinter das Steuer, während ich trotz der frühsommerlichen Temperaturen fror und erschauderte.

»Wo wohnst du?«, fragte Karin.

Überrascht sah ich sie an. »Da, wo wir immer gewohnt haben.«

»Ach so, ich nahm an, du bist inzwischen ausgezogen.«

Ein humorloses Lachen rollte meine Kehle hinauf. »War ich, doch ich bin zurückgekommen, weil sie mich brauchte. Jemanden brauchte.«

»Verstehe«, sagte Karin abermals und ließ sich nicht von mir provozieren. Sie steuerte den Wagen vom Parkplatz. Der Rest der Autofahrt verlief schweigend. Erst als sie vor dem Gebäude hielt, in dem sich unsere Wohnung befand, ergriff sie wieder das Wort.

»Ich nehme an, sie hat es dir endlich gesagt.« Nervös trommelte sie mit ihren Fingern auf das Lenkrad. Ihr Nagellack war von demselben Pinkton wie ihr Lippenstift. Es war keine Frage gewesen, trotzdem sah sie mich abwartend an.

»Mir was gesagt?«, presste ich ungeduldig hervor.

Unbehagen überschattete ihr Gesicht. Eine Minute verstrich in quälend langen Sekunden.

»Dass …« Deutlich hörbar stieß Karin Luft aus. Was auch immer sie loswerden wollte, kam ihr offenbar nicht leicht über die grellen Lippen. »Dass sie sehr wohl wusste, wer dein Vater war. Und dass es nicht in der Italienwoche passiert ist.«

Und bähm – da waren sie: zwei Sätze, die meine Welt endgültig aus den Angeln hoben.

»Wovon redest du?« Meine Stirn kräuselte sich verständnislos.

»Der Streit zwischen Margit und mir, der ging genau darum. Ich fand es falsch, dass sie es dir verschwieg. Aber sie konnte ja so stur sein! Nur sie allein weiß, warum sie das nun sogar mit ins Grab genommen hat.«

Wut sammelte sich in meinem Bauch und breitete sich von dort glühend heiß im ganzen Körper aus, überdeckte für einen Moment die Kälte der Trauer.

»Spinnst du? Du lässt dich elf Jahre nicht blicken, nicht einmal, als es Mama so schlecht ging, und jetzt kommst du hierher und behauptest, sie hätte mich mein Leben lang angelogen? Sie … sie kann sich doch nicht mehr verteidigen!« Dieser Umstand ließ meine Unterlippe zittern, und die letzten Worte kamen nur weinerlich hervor.

»Tut mir leid, Aline.« Drückendes Schweigen breitete sich im Auto aus. Karins Schultern sackten nach vorn. »Ich wusste nicht, dass sie krank war. Ich mache mir selbst Vorwürfe, mich nicht eher gemeldet zu haben.«

Meine Finger hatten sich bereits um den Türöffner gelegt, doch irgendwas ließ mich auf dem unbequemen Ledersitz verharren.

Karin schaute durch die Frontscheibe auf ein kleines Mädchen, das auf einem Roller vorbeifuhr. »Bestimmt hatte sie ihre Gründe. Sie hat sie mir nur nicht verraten. Dennoch finde ich, du hast ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob du ihn kennenlernen willst oder nicht. Das habe ich ihr damals schon gesagt.«

Ihre Worte wuselten in meinem Kopf umher, und mir wurde schwindelig. Ich brachte kein einziges Wort mehr über die Lippen. Doch Karin schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben, um sich endlich alles von der Seele reden zu können.

»Ich wusste es lange selbst nicht, doch an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, du warst gerade siebzehn geworden, hatten wir zu viel Sekt getrunken, und sie hat etwas gesagt, das mich aufhorchen ließ. Etwas in der Art von: Wie konnte er das nur alles verpassen? Da habe ich nachgebohrt. Und irgendwann hat sie zugegeben, dass sie mehr über deinen Vater weiß, als sie all die Jahre behauptet hat, aber dass es so besser für dich sei.«

Ich versuchte, mir vorzustellen, dass diese Geschichte der Wahrheit entsprach, dass Mama mir das mein Leben lang verschwiegen hatte. Heftig schüttelte ich den Kopf. Ein Schmerz pulsierte an meinen Schläfen.

»Ich glaube dir nicht. Mein Vater war ein One-Night-Stand im Italienurlaub. Nur ein Vorname – Laurence aus Frankreich – mehr nicht«, fasste ich die wahren Ereignisse knapp zusammen, als ob sie dadurch Karins Worte ungesagt machen könnten.

Ein trauriges Lächeln erschien auf den geschminkten Lippen meiner Tante. »Es ist nicht in Italien passiert.« Sie schaute mich so mitleidig an, dass ich ihr am liebsten den grellen Lippenstift aus dem Gesicht poliert hätte. Gnadenlos fuhr sie fort: »Nach diesem Tag habe ich immer wieder versucht, mit ihr darüber zu sprechen, ihr ins Gewissen zu reden. Bis wir darüber so sehr in den Streit gerieten, dass der Kontakt abbrach.«

»Sie war deine Schwester, wie konntest du … wie konntet ihr das zulassen?« Wenn ich eine Schwester oder einen Bruder hätte – niemals hätte ich zugelassen, dass uns ein Streit derart entzweit! Im letzten Jahr hatte ich meine Mutter einige Male darauf angesprochen, ob sie sich nicht mit Karin versöhnen wollte. Vorgeschlagen, dass ich sie anrufe, doch meine Mutter hatte das alles abgeblockt. In diesem Punkt schienen die Schwestern sich ähnlich. Das machte mich traurig – für sie beide.

»Ich verstehe, dass es ein Schock ist. Ich wollte nur, dass du es weißt. Was du daraus machst, ist ganz allein deine Entscheidung. Womöglich hat sie dir irgendwo einen Brief hinterlassen, den du noch nicht gefunden hast. Aber wenn du Hilfe brauchst, ich und Erwin sind jederzeit für dich da. Hier ist meine Nummer.« Sie drückte mir eine Karte in die Hand, um die ich wütend die Finger zu einer Faust verschloss, ehe ich ungehalten schnaubte: »Die letzten Monate, die letzten zwei Jahre seit dieser verschissenen Diagnose, da hätte ich Hilfe gebraucht!«

»Wir wussten es nicht«, wiederholte Karin und streckte ihre Hand nach meiner aus. Ich zuckte zurück und öffnete die Tür. Sprang hinaus und schlug sie hinter mir zu, ehe sie noch mehr sagen konnte. Karin ließ das Fenster herunter, und ich funkelte sie aufgebracht an.

»Ich will nicht, dass du dich nochmal meldest!«, war das Letzte, was ich zu ihr sagte, ehe ich zum Hauseingang eilte.

In der Wohnung lief ich geradewegs zum Wohnzimmerschrank, in dem meine Mutter alle Papiere aufbewahrte, und begann zu suchen. »Das ist eine Lüge, Karin kann nicht die Wahrheit sagen – das hätte Mama mir nicht verschwiegen«, sagte ich dabei laut. Wir waren mehr als Mutter und Tochter gewesen, wir waren Freundinnen.

Obwohl ich an diesem Tag nichts fand, ließ es mich nicht mehr los. Seit Karin mit dieser Behauptung um die Ecke gekommen war, hatte ich das stete Gefühl, mir fehlte ein Puzzleteil zu meinem Leben. Etwas, das ich zuvor nie verspürt hatte.