Kapitel 3

Einige Tage nachdem ich die Möbel online gestellt hatte, erhielt ich ein Kaufangebot für den Wohnzimmerschrank. Die Käufer, ein älteres Pärchen, verfrachteten ihn gerade mit Hilfe eines weiteren Mannes in einen Anhänger, als mein Handy klingelte. Anni.

»Hey! Du bist aber früh auf«, begrüßte ich sie. »Kann ich dich gleich zurückrufen?«

»Klar, kein Problem«, ertönte ihre fröhliche Stimme aus dem Hörer. Ich legte auf und steckte das Telefon wieder ein.

»Zweihundertfünfzig Euro, bitte schön.« Die Frau reichte mir die Scheine, und ich zählte sie rasch nach.

»Danke, viel Freude mit dem Schrank.« Ich lächelte sie an, hob die Hand zum Gruß und machte mich auf den Weg ins Haus, während die Männer verzweifelt versuchten, das wuchtige Ding im Anhänger unterzubringen. Nichts wie weg, bevor sie beschlossen, dass sie das Monstrum doch nicht wollten.

In der Wohnung erwartete mich Chaos, aber nur, weil ich mich endlich aufgerafft hatte, ernsthaft mit dem Sortieren zu beginnen. Mittlerweile gab es im Wohnzimmer zwei Reihen mit Kartons. Die eine enthielt Dinge, die ich spenden wollte, und in der anderen befanden sich die Sachen, die ich beim Umzug mitnehmen wollte, wo auch immer es hingehen mochte. In dieser Frage war ich nämlich noch nicht weitergekommen. Darüber hinaus stapelte sich im Flur ein Haufen für den Sperrmüll.

In der Küche bestückte ich die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser und holte das Handy raus, damit ich gleich bei einer Tasse Kaffee Anni zurückrufen konnte. Nach dem Abi war sie zum Studieren nach Berlin gegangen und ich nach Stuttgart, aber die Freundschaft war bestehen geblieben. Wir hörten nicht jeden Tag voneinander, trotzdem war sie momentan neben Nadia der einzige Mensch, zu dem ich noch eine Bindung besaß. Aktuell war sie von ihrer Firma nach Palo Alto in den USA geschickt worden, weshalb sie auch nicht zur Beerdigung hatte kommen können. Gerade als ich mich mit dem Kaffee hinsetzte und die Anrufliste aufrief, klingelte es an der Wohnungstür. Seufzend erhob ich mich wieder und öffnete. Vor mir stand die Käuferin des Schrankes.

»Ja?«, fragte ich skeptisch.

»Mein Mann musste den Schrank auseinanderbauen, sonst hätte er nicht in den Anhänger gepasst, und dabei ist dies hier hinter der Rückwand zum Vorschein gekommen.« Sie hielt mir ein kleines Bündel Zettel entgegen. »Ich dachte, die könnten wichtig sein.«

Wie in Trance griff ich danach. »D…danke«, stammelte ich, während das Papier ungemein schwer in meiner Hand wog.

»Wiedersehen.« Die Frau lächelte, ehe sie sich umdrehte und im Treppenhaus verschwand.

»Tschüss«, murmelte ich, den Blick auf die Zettel gesenkt. Langsam schloss ich die Tür und ging zurück in die Küche.

»Sie könnten aus Versehen dahinter gerutscht sein. Es können stinknormale Rechnungen sein. Belanglos«, wisperte ich vor mich hin. Dennoch zitterten meine Finger, als ich das spröde Gummiband von dem Bündel zog. Es gab keine Umschläge, nur lose Blätter. Die Schrift war mir fremd, es war nicht die meiner Mutter, aber die Schreiben waren an sie gerichtet. Mir wurde mulmig zumute. Ich faltete den obersten Zettel auseinander und begann zu lesen.

Liebe Margit,

du bist erst heute Morgen abgereist, und ich vermisse dich jetzt schon schrecklich. Das war der Sommer meines Lebens, und ich wünschte, er wäre nie zu Ende gegangen. Aber es wird ja noch weitere geben, und wir machen jeden zu dem Sommer unseres Lebens! Und wenn du deine Ausbildung beendet hast, kommst du für immer her, ja? Bitte sag mir, dass wir es so machen, wie wir es uns auf den Ochseninseln geschworen haben. Ich bin eigentlich kein großer Briefeschreiber und würde außerdem viel lieber deine Stimme hören. Wir können über das Festnetz telefonieren, wenn deine Pflegeeltern schlafen.

Das ist die Nummer, unter der ich zu erreichen bin: 0461 – 220923

Ich vermisse dich!

In Liebe, J

Ich starrte auf das Datum: Juli 93 – ungefähr ein Dreivierteljahr vor meiner Geburt. Mir wurde flau im Magen, und ich schaute wie gebannt auf das Schriftstück – den lange gesuchten Anhaltspunkt dafür, dass an Karins Worten etwas dran war. Aber warum hätte meine Mutter mich achtundzwanzig Jahre lang anlügen sollen? Wir hatten uns doch immer alles erzählt.

Im nächsten Brief standen wieder zahlreiche kitschige Liebesbekundungen, die mich zum Kichern gebracht hätten, wenn nicht tausend ernste Fragen in meinem Kopf herumgeschwirrt wären. Der letzte Brief hatte einen anderen Ton – er war vier Monate nach dem ersten datiert. Ich schmunzelte beim Anblick der Anrede. Räuberin – so hatte meine Mutter mich auch oft genannt, und manchmal hatte sie dabei seltsam gelächelt, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Ich hatte angenommen, sie schwelgte dabei in Erinnerungen an meine frühe Kindheit. Aber womöglich hatte sie dabei nicht an mich, sondern an diesen J gedacht …

Meine liebe Räuberin,

ich habe seit Wochen nichts von dir gehört. Und ich weiß, ich sollte nicht bei euch anrufen, aber ich musste es tun! Deine Pflegemutter hat mich nur unwirsch abgewimmelt. Du musst mir sagen, was los ist! Egal was es ist, ich werde dir helfen. Bitte schreib mir oder rufe mich an.

In Liebe, J

Eine ganze Weile saß ich in der Küche und versuchte zu begreifen, dass Karin recht haben könnte. Es ist nicht in Italien passiert – ihre Worte hallten in meinem Kopf. Obwohl das hier noch kein Beweis war. Bestenfalls ein Indiz. Womöglich hatte meine Mutter, kurz nachdem sie sich mit diesem Mann getroffen hatte, meinen Erzeuger kennengelernt und eine Nacht mit ihm verbracht. Das könnte auch der Grund sein, warum sie diesen J fortan ignoriert hatte. Ich rief mir das Bild meiner Mutter in Erinnerung. Gesund und jünger, die Augen rehbraun wie meine, die Haare dunkler als meine, und sie trug sie in einem Kurzhaarschnitt, der frech ihr herzförmiges Gesicht umrandete. Ihre Haut war genauso hell wie meine und ließ sie aussehen wie Schneewittchen. Meine Mitschüler hatten mich häufig um meine junge Mutter beneidet.

»Wir waren doch ein Team! Warum hast du mir nichts von diesem J erzählt? War er nicht wichtig für unsere Geschichte?«, murmelte ich.

Mein Blick glitt zur Arbeitsplatte, wo ich Karins Visitenkarte achtlos hingeschleudert hatte. Ich verspürte den Drang, sie anzurufen und zu fragen, was sie noch über den Sommer vor meiner Geburt wusste, wo es passiert war, wenn nicht in Italien. Meine Mutter und Karin waren bei Pflegeeltern aufgewachsen. Ihre leibliche Mutter hatte sie stark vernachlässigt, und der Vater hatte sie verlassen, eine neue Familie gegründet, in der kein Platz für Karin und Margit war. Mit der Pflegefamilie war Mama im Sommer vor meiner Geburt eine Woche auf einem Campingplatz in Italien gewesen, dort hatte sie Laurence getroffen, der auf demselben Campingplatz seinen Urlaub verbrachte. Karin war die Ältere und befand sich zu der Zeit schon in einer Ausbildung.

Margit musste im Zelt schlafen, während der Rest der Familie im Wohnwagen übernachtete. Aber wenn meine Mutter mir die Geschichte erzählte, lächelte sie trotzdem. Es schien keine Rolle gespielt zu haben. Dann sprach sie von dem gut aussehenden jungen Kerl, mit dem sie abends im Meer schwamm, heimlich süßen Likör trank und noch viel heimlicher eine Nacht verbrachte.

Kurzerhand setzte ich mich an den Laptop, die Briefe neben mir ausgebreitet. Ich gab »Ochseninseln« ein, den Ort, an dem meine Mutter und J sich ewige Liebe geschworen hatten. Und ich wettete, der lag nicht in Italien. Ich starrte auf die Karte, verkleinerte den Maßstab. Die winzigen Inseln befanden sich vor Dänemark in der Ostsee, nahe der deutschen Grenze. Ich las ein wenig in der Infobox. Die Inseln waren offenbar nicht mehr bewohnt. Auf der einen gab es oder hatte es mal ein Schullandheim gegeben, aber ganz schlau wurde ich aus den Angaben im Internet nicht. Es schien der dänischen Schulbehörde zu gehören. »Rückwärtssuche!«, rief ich dann, und meine Stimme hallte merkwürdig in der ansonsten stillen Wohnung.

Hastig gab ich die Telefonnummer in die Suchleiste des Onlinetelefonbuchs ein. Wie wahrscheinlich war es, dass jemand heute noch dieselbe Nummer hatte wie vor knapp drei Jahrzehnten? Sehr unwahrscheinlich. Es sei denn … es handelte sich um eine … Brauerei?

Flensburger Biermanufaktur

Brauereistraße 2

24939 Flensburg

Hektisch rief ich die Website auf und klickte sofort auf das Impressum. Dort leuchteten zwei Wörter förmlich auf: Jens Martens.

Ich keuchte unterdrückt und rückte vor Schreck ein Stück zurück, als könnte dieser Name mich gleich anspringen. Das … das konnte Zufall sein. J war kein seltener Anfangsbuchstabe bei den Vornamen jener Generation. Jürgen, Johann, Jasper, Joachim …

Jetzt nicht durchdrehen, Aline. Zunächst musste ich rausfinden, wie lange es die Brauerei schon gab. Ich ging zurück auf die Startseite, wo mich ein junger Typ mit dunklen Haaren und leuchtend grünen Augen anlächelte. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er an einer roten Backsteinmauer. Er war höchstens ein paar Jahre älter als ich. Sein Lächeln zog mich kurz in den Bann. Der Mann war attraktiv. Dann schoss ein fürchterlicher Gedanke durch meinen Kopf: Was, wenn das der Sohn von Jens Martens war? Dann war es womöglich mein Halbbruder. Prompt wurde mir übel. Hatte ich unter Umständen gerade meinen Bruder angeschmachtet?

Hastig öffnete ich eine Seite im Untermenü, wo die Geschichte der Brauerei nachzulesen war. Holger Martens, der Vater von Jens Martens, hatte die Brauerei Anfang der 1970er gegründet. Es gab auch ein Foto von Jens und Holger Martens. Ich beugte mich vor und inspizierte die Gesichter der Männer. Holger hatte schneeweißes Haar und schaute eher verdrießlich. Jens Martens lächelte, er war blond und hatte blaue Augen. Vielleicht hatte die Form unserer Augen Ähnlichkeit miteinander? Angespannt las ich weiter.

Mit der Einstellung und Ernennung zum Teilhaber von Braumeister Tom Nielsen, der Biozertifizierung einiger Sorten sowie der Umstrukturierung der angegliederten Gastronomie geht die Flensburger Biermanufaktur neue Wege.

Puh, Tom Nielsen – okay, es handelte sich offensichtlich nicht um einen vermeintlichen Bruder, vorausgesetzt Jens Martens war überhaupt mein Vater. Aber das war doch absurd! Dennoch stöberte ich weiter durch das Menü der Website, doch es fand sich wenig Persönliches über die Familie Martens. Also suchte ich bei Facebook und Instagram nach Jens Martens, jedoch ohne Erfolg.

Als ich zurück auf die Seite der Brauerei ging, um mir den Standort genau anzusehen, fiel mein Auge auf den Menüunterpunkt »Jobs«. Womöglich war es die pure Neugierde, die mich draufklicken ließ. Vielleicht auch Verzweiflung.

Wir suchen Servicekräfte für die laufende Saison!

– Erfahrung in der Gastronomie wünschenswert

– Teilzeit/Vollzeit/Minijob-Basis

– 15 €/Stunde plus Trinkgeld

Minutenlang starrte ich auf das Stellengesuch. Während des Studiums hatte ich in einem Café gejobbt … ich könnte also … nur für einige Wochen … Nein, das war verrückt! Was hatte ich schon in der Hand? Den Anfangsbuchstaben eines Vornamens und eine Telefonnummer. Das war dürftig. Aber – es passte zusammen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit für einen Zufall?

Ich klappte den Laptop zu und stand auf. Ich sollte lieber meinen Etsy-Shop wiederbeleben. Um mich abzulenken, machte ich in meinem Zimmer eine Bestandsaufnahme. Ich verkaufte in dem Shop vor allem selbst entworfene und gefertigte Linoleumdrucke. Mit verschiedenen Werkzeugen stellte ich die Druckplatten aus weichen Linoleumplatten her – erstaunlicherweise hatte ich damit weniger Probleme, als wenn ich einen Stift in der Hand hielt. Mit Hilfe einer Presse druckte ich dann die Motive auf Papier. Teilweise bestanden die fertigen Bilder aus mehreren Farbschichten, und keines glich je zu hundert Prozent dem anderen. Sternzeichen liefen besonders gut. Anfänglich hatte es mich überrascht, wie viel die Leute für echte Handarbeit auszugeben bereit waren. Dennoch reichte es nicht, um von dem Shop zu leben, und eigentlich wollte ich auch lieber wieder als Illustratorin arbeiten.

Später setzte ich mich an den Laptop, um in meinem Etsy-Shop einige Artikel auf »lieferbar« zu setzen. Doch als der Bildschirm zum Leben erwachte, lächelte mich immer noch Tom Nielsen an und schien mir herausfordernd zuzuflüstern: Was hast du schon zu verlieren?

»Nichts«, flüsterte ich zurück.

Dennoch wechselte ich zunächst zu Etsy und entstaubte dort meine virtuellen Regale. Jetzt, wo ich mehr Zeit hatte, als mir lieb war, konnte ich neue Motive entwerfen und einstellen, oder ich konnte an meinem alten Traum arbeiten, ein eigenes Kinderbuch zu schreiben und zu illustrieren. Oder zumindest wieder die Ideen anderer Autoren umsetzen. Denn das war schließlich mein Job, dafür hatte ich studiert. Doch was, wenn einem allein der Gedanke daran ein Engegefühl in der Brust bescherte?

Ich loggte mich bei Etsy aus, und als ich die Seite schloss, grinste mich erneut Tom Nielsen an.

»Du bist ganz schön penetrant«, sagte ich zu ihm. »Aber recht hast du. Ich habe nichts zu verlieren. Nur eventuell einen Vater zu gewinnen.« Die Chance dafür war wahrscheinlich so hoch wie ein Lottogewinn. Aber wer nicht spielte, konnte auch nicht gewinnen.

Kurzerhand – bevor ich es mir anders überlegte – stellte ich meine Bewerbungsunterlagen zusammen und sog mir für das Anschreiben irgendwas aus den Fingern – dass ich aufgrund einer Familienangelegenheit für längere Zeit nach Flensburg musste und deswegen dort vorübergehend nach einem Job suchte. Dann schickte ich das Ganze per Mail an die Brauerei.

Noch bevor ich die Mitteilung »Ihre Nachricht wurde gesendet« erhielt, wünschte ich mir, es gäbe die Funktion, E-Mails wieder zurückzuholen. Obwohl – gab es die nicht neuerdings? Nur wusste ich leider auf die Schnelle nicht, wie das funktionierte. Aber wer war denn bitte so verrückt, sich undercover in eine Brauerei einzuschleusen? Einfacher wäre es wohl gewesen, zum Telefonhörer zu greifen und diesen Jens Martens zu fragen. Aber dann hätte alles in seiner Hand gelegen. Ich wollte ihn lieber erst mal abchecken und mehr über ihn herausfinden. Außerdem brauchte ich richtige Beweise, schließlich hätte er auch schlichtweg behaupten können, er kenne meine Mutter nicht.

Mein Handy klingelte, und kurz befürchtete ich, es könnte schon die Brauerei sein. Dementsprechend erleichtert nahm ich den Anruf meiner Freundin Anni an.

»Aline, du hast gar nicht zurückgerufen«, sagte sie besorgt.

»Das habe ich ganz vergessen, tut mir leid!«, erwiderte ich zerknirscht. Anni war mir in den letzten Monaten eine große Stütze gewesen, obwohl sie sich die meiste Zeit auf einem anderen Kontinent befunden hatte.

Meine Freundin lachte. »Ist ja nicht schlimm, Hauptsache, du bist okay! Wie geht’s dir?«

»So lala«, antwortete ich ehrlich. »Ich vermisse sie einfach sehr – die Wohnung, mein Leben, das alles ist leer ohne sie. Aber langsam geht es aufwärts.«

Warum ergriffen einen ausgesprochene Worte mehr, als wenn man sie nur dachte? Ich drückte mir mit den Fingern auf die inneren Augenwinkel, um aufkommende Tränen zu verhindern.

»Ich kann nur erahnen, wie du dich fühlst. Ach, Aline, ich wünschte, ich könnte dich jetzt in den Arm nehmen!«

»Ich bin froh, dass es dich gibt, Anni.«

»Weißt du, ich habe nachgedacht und mir was überlegt …«

»Bevor du weitersprichst: Geld für einen Flug in die USA habe ich nicht.«

»Nein, ich komme doch eh nächsten Monat zurück und hätte hier auch leider kaum Zeit, um etwas mit dir zu unternehmen. Aber du meintest doch kürzlich, du möchtest nicht mehr nach Stuttgart, und falls du auch nicht in Bochum bleiben möchtest, was hältst du denn davon, nach Berlin zu kommen?«

»Nach Berlin?«, fragte ich etwas überrascht.

»Ja! Dann könnten wir uns viel öfter sehen, und als Illustratorin findest du dort bestimmt ganz schnell Aufträge. Die Wohnung von Ronny und mir ist leider zu klein für eine Mitbewohnerin, aber ich habe dir schon einige W G -Zimmer rausgesucht.«

Ich dachte an das Gefühl, das in mir hochgestiegen war, als ich das Pony für Bea skizziert hatte, und verspürte einen Druck in der Kehle. Ich räusperte mich.

»W G -Zimmer?«

»Vorübergehend. Die Mietpreise sind zurzeit astronomisch hoch in Berlin … weil es so eine schöne Stadt ist und jeder dort leben möchte.«

Die Mietpreise waren überall hoch. Das hatte ich auch schon festgestellt, als ich in den letzten Tagen nach Wohnungen in Bochum geschaut hatte. Ich schmunzelte über Annis Bemühungen, mir Berlin schmackhaft zu machen.

»Ich werde mal drüber nachdenken. Es ist nur so, gerade ist etwas passiert und …«

»Was ist passiert?« Sofort klang ihre Stimme wieder alarmiert.

»Es gab einen Grund, warum ich vergessen habe zurückzurufen …«

»Ein Mann? Hattest du etwa ein Date?«

»Nein, kein Date.« Date – das Wort war irgendwann im letzten Jahr aus meinem Wortschatz verschwunden. »Aber mit einem Mann hat es schon zu tun. Ich habe dir doch erzählt, was meine Tante bei der Beerdigung zu mir gesagt hat …«

»Ja! Und ich bin immer noch fassungslos, wie sie so etwas behaupten konnte.«

»Nun ja, heute haben Leute den Wohnzimmerschrank abgeholt, und beim Auseinanderbauen kamen Briefe zum Vorschein.«

Ich erzählte Anni alles und spürte, wie gut es tat, mit jemandem darüber zu reden und es nicht nur mit mir allein auszumachen.

»Oh. Mein. Gott. Wie geht’s dir damit?«

»Das … das weiß ich gar nicht.«

»Und hast du vor, etwas zu unternehmen?«

»Ehrlich gesagt habe ich das schon – ich habe mich in der Brauerei beworben, als Servicekraft.«

»Du hast was ? Aline!« Ungläubig lachte sie auf.

»Ich weiß, es ist verrückt. Aber ich will diesen Mann kennenlernen, bevor ich ihn mit dem Verdacht konfrontiere. Ich wüsste auch nicht mal, wie ich es anders angehen sollte.«

»Aber meinst du denn, es wird leichter, wenn du dich in seine Firma einschleust? Du kannst später wohl nur schwer behaupten, das sei ein Zufall gewesen. Alternativ könntest du doch einen Anwalt beauftragen und einen Vaterschaftstest erbitten.«

»Abgesehen davon, dass ich mir momentan keinen Anwalt leisten kann, will ich zunächst mal rausfinden, ob überhaupt was dran sein könnte. Vielleicht spinnt Karin ja auch, und diese Briefe haben überhaupt nichts mit meinem Vater zu tun.«

»Okay. Ansonsten … Wie gesagt, ich habe dir ein paar Wohnungsanzeigen rausgesucht.«

»Das ist lieb von dir, schicke sie mir gern rüber.«

In Wahrheit war ich mir alles andere als sicher, ob ich nach Berlin wollte. In dem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich heute Abend einen Termin für meine erste Wohnungsbesichtigung hier in Bochum hatte. Den durfte ich auf keinen Fall verpassen. Es war besser, wenn ich mir alle Wege offenhielt.

Bevor wir uns verabschiedeten, versprach ich Anni, sie auf dem Laufenden zu halten. Wahllos griff ich nach einem frischen Shirt, bürstete mir über die Haare und jagte mit meinem klapprigen Auto los.

Eine halbe Stunde später schritt ich durch die frisch renovierte Einzimmerwohnung, nicht einmal die Küche war in einem extra Raum untergebracht. Aber das war okay. Daher lächelte ich die Maklerin an. »Die Wohnung gefällt mir. Wie viel Kaution wäre fällig?«

»Zwei Kaltmieten. Einkommensnachweise sind ebenfalls zu erbringen oder eine Bescheinigung vom Amt.«

»Ich bin selbstständig«, entgegnete ich und hoffte, dabei souverän rüberzukommen.

»Ach so? Dann bräuchten wir die Einkommensteuerbescheide der letzten beiden Jahre.«

Möglichst unauffällig stieß ich einen Schwall Luft aus. Wenn ich die vorweisen musste, würde ich die Wohnung definitiv nicht bekommen. Ich hatte die Steuererklärung vom letzten Jahr noch nicht einmal gemacht. »Wissen Sie, die letzten eineinhalb Jahre habe ich mich um meine Mutter gekümmert …« Ich schluckte. »Sie hatte Krebs, und ich habe sie gepflegt. Vor einem Monat ist sie gestorben.«

Die Maklerin verstand, worauf ich hinauswollte. »Das tut mir sehr leid, aber mir sind die Hände gebunden. Ich handele nur nach Vorgaben. Versuchen Sie doch mal, einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen.«

»Ja, mal sehen«, erwiderte ich, als die Maklerin schon langsam zur Wohnungstür strebte. Für sie war die Sache klar, ich kam nicht als Mieterin in Frage.

Ich hatte ganz vergessen, wie kompliziert es sein konnte, eine Wohnung zu mieten.

In meinem VW Polo, der fast so alt war wie ich, starrte ich eine Weile aufs Lenkrad und überlegte, zu Karin zu fahren, um sie nach dem Sommer vor meiner Geburt auszufragen. Aber ich hatte ihr an den Kopf geworfen, ich wolle sie nie wiedersehen, und so entschied ich mich, lieber die Person zu fragen, die es am allerbesten wusste. Nur würde Mama mir keine Antwort mehr geben können.

Ich stellte mein Auto auf dem Friedhofsparkplatz ab. Unterwegs hatte ich frische Blumen besorgt. Als ich nun vor ihrem Urnengrab stand, erfasste mich wieder eine enorme Welle Sehnsucht. Meine Mutter hatte so viele Jahre hart geschuftet, um uns über Wasser zu halten. Hatte stets zuerst meine Wünsche erfüllt, bevor sie an ihre dachte. Sie hätte es einfach verdient gehabt, die zweite Lebenshälfte damit zu verbringen, sich selbst ihre Träume und Wünsche zu erfüllen.

»Das hätte ich dir so gewünscht, Mama«, flüsterte ich. »Weißt du, Karin war bei deiner Beerdigung und hat etwas Heftiges behauptet.« Ich seufzte. »Aber warum hättest du mir das vorenthalten sollen? Es ist nicht wahr, oder?«

Nur die Vögel mit ihrem Gezwitscher und die Geräusche der angrenzenden Straße antworteten mir auf diese Frage. Eine Weile stand ich dort, hing meinen Gedanken nach. Gerade als ich mich umdrehte, piepte mein Telefon.

Eine Mail – von der Brauerei. Eilig öffnete ich sie noch auf dem Weg zum Auto.

Moin Frau Räuber,

vielen Dank für Ihre Bewerbungsunterlagen. Gern würden wir mit Ihnen ein Vorstellungsgespräch per Videocall führen. Oder sind Sie bereits in Flensburg?

Würde es Ihnen spontan morgen um 10:00 Uhr passen?

Frische Grüße von der Flensburger Förde
Tom Nielsen

Zunächst wusste ich gar nicht, was ich beim Lesen der Mail fühlte. Freude? Angst? Enttäuschung, weil nicht Jens Martens, sondern dieser Tom Nielsen mir geschrieben hatte?

Aber womöglich war das besser so. Wenn ich ein Gespräch mit meinem vermeintlichen Vater führen musste und mich dabei unablässig fragen würde, ob er es nun war oder nicht, hätte ich mit Sicherheit keinen vernünftigen Satz herausgebracht. Aber wollte ich das überhaupt generell? Oder sollte ich diese Tür lieber nicht öffnen und nach Berlin zu Anni ziehen? Als hätte Karin nie etwas gesagt und als hätten diese Briefe keine Bedeutung?

Beim Anschnallen wurde mir klar, dass ich mir nichts vormachen konnte – nun, da es diesen Hinweis auf meinen Vater gab, wollte ich es auch wissen. Obwohl mir bereits mehr als einmal der Gedanke gekommen war, dass es einen Grund haben musste, wenn meine Mutter mich tatsächlich angelogen hatte.

»Finden wir es heraus«, murmelte ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte, und tippte noch im Auto auf dem Parkplatz des Friedhofes eine Antwort.

Hallo Herr Nielsen,

ich freue mich, von Ihnen zu hören. Ich bin noch nicht in Flensburg und daher gern zu einem Vorstellungsgespräch per Videocall bereit. Morgen um 10:00 Uhr passt es gut.

Bis dahin, ich freue mich auf das Gespräch.
Aline Räuber

Ich drückte auf »Senden«, dann drehte ich den Schlüssel im Schloss und fuhr zurück zur Wohnung.