Kapitel 8

Wir standen erneut vor dem Maischetank.

»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Tom und fuhr sich mit den langen Fingern durchs Haar. Automatisch folgte ich der Bewegung. »Hatten wir schon filtriert?«

»Was? Äh, nein.«

»Okay, also fangen wir einfach nochmal von vorn an. In diesem Tank wird Wasser mit Gerste vermischt …« Tom redete etwas von Aufspaltung und Molekülen, von dem ich bereits die Hälfte wieder vergessen hatte, wenn der Satz zu Ende war. Seine Begeisterung sprang dennoch auf mich über. Bei jedem Wort war zu spüren, dass das Bierbrauen nicht nur sein Beruf war, sondern seine Leidenschaft. Mein Blick wechselte hin und her zwischen seinen Lippen und den Tanks, über die er sprach. Am liebsten hätte ich ihn einfach die ganze Zeit angesehen, denn ja, verdammt – er war einfach schön anzusehen.

»Fünfundachtzig Prozent der Malze beziehen wir regional aus einer Mälzerei in Dänemark. Und diesen Sommer hat sogar ein Landwirt auf der Halbinsel Holnis Braugerste für uns angebaut, die wird bald geerntet.«

»Und wie kommt die Gerste da rein – mit Keimling?«

»Nein, wenn im Korn der Keimling entsteht, wird das Wasser wieder abgelassen, nach circa achtundvierzig Stunden. Bevor der Blattkeim aus dem Korn sprießt, muss der Prozess unterbrochen werden, und das Korn wird getrocknet. Danach wird der Sud in den nächsten Tank weitergeleitet, durch ein Sieb. Was übrig bleibt, ist der Treber. Der wird als Viehfutter an die Landwirte gegeben. Die gefilterte Flüssigkeit wird erhitzt, und der Hopfen kommt hinzu. Der ist wichtig für das Aroma. Früher wurde bei der Hopfenzüchtung nie Wert auf Vielfalt gelegt, das ist erst mit der Craftbier-Szene gekommen. Nun gibt es immens viele Hopfenzüchtungen mit klangvollen Namen wie Callista oder Mandarina Bavaria, die dann für ein Zitrusaroma sorgen. Das ist mein Steckenpferd, ich liebe es, neue Sorten zu kreieren und mich auszuprobieren.« Toms Augen funkelten weiterhin vor Begeisterung, und ich erinnerte mich daran, wie auch ich vor einiger Zeit noch für meinen Beruf gebrannt hatte. Ob ich das wohl jemals wieder so spüren würde?

»Wie wird man eigentlich Bierbrauer?«, fragte ich.

»Es gibt eine dreijährige Ausbildung, und danach kann man den Meister machen oder ein Aufbaustudium mit Bachelor und Master.«

»Und deine Ausbildung hast du hier bei Jens Martens gemacht?« Endlich eine Gelegenheit, mehr über diesen Mann zu erfahren, der bisher nicht viel mehr als ein Phantom war.

»Nein, ich habe in der Flensburger Brauerei gelernt. Die kennst du sicherlich.«

Hilflos zuckte ich mit den Schultern.

»Die mit dem Plop. Das flenst …?«

»Ach ja, doch, die Werbung im Fernsehen.«

Während Tom mich von Tank zu Tank führte, mir Begriffe wie Whirlpool und Gärtank erklärte, schlürfte ich meinen Bananen-Smoothie. Als wir bei der Abfüllanlage standen, war das Glas leer, und mein Strohhalm saugte lautstark Luft.

»Was trinkst du da überhaupt?«, erkundigte sich Tom.

»Einen Smoothie.«

Verständnislos schaute er mich an. »Na, dann wird es jetzt Zeit für eine Verkostung. Sollen wir rüber in die Bar oder hierbleiben?« Er sah sich um, bis sein Blick an dem Tisch mit drei Stühlen hängenblieb, der in einer Ecke neben einem Spind stand und bestimmt als Pausenplatz diente.

»Wir können gern hierbleiben«, entgegnete ich, denn ich war mir nicht sicher, wie es bei den anderen Angestellten ankam, wenn ich es mir mit dem Chef nach dem Feierabend im Lokal gemütlich machte – auch wenn gewiss alle neuen Angestellten diese Führung durch die Brauerei erhielten.

»Dann setz dich schon mal, ich bin gleich wieder da.«

Ich nahm auf einem der Stühle Platz, während Tom loszog, um das Bier zu holen. Unter dem Tisch stand ein Zeitschriftenkorb, den ich erst bemerkte, als ich mit dem Fuß dagegenstieß. Ich inspizierte den Inhalt. Zwischen Tageszeitungen und einem Asterix-und-Obelix-Comic steckte eine Broschüre der Brauerei. Es musste sich um eine alte handeln, sie war an den Ecken zerfleddert, und das Logo war ein anderes. Auf dem Titelblatt prangten die zwei großen Kupfertanks, die nur wenige Meter von mir entfernt in der Halle standen.

Ich zog die Broschüre hervor und schlug die erste Seite auf, von der mich gleich Jens Martens anlächelte. Sekundenlang starrte ich in sein Gesicht, auf der Suche nach einer Ähnlichkeit, nach etwas Vertrautem, doch er blieb ein Fremder.

»So, weiter geht’s.« Tom stellte ein längliches Tablett mit fünf kleinen Gläsern vor mich.

»Kann ich mir die ausborgen?«, erkundigte ich mich und deutete auf die Broschüre. »Ich finde es spannend, wie die Brauerei sich entwickelt hat.«

»Klar, leg sie einfach wieder in den Korb, wenn du sie nicht mehr brauchst.«

»Wie ist denn dieser Jens Martens so?« Damit die Frage nicht komisch rüberkam, schob ich hinterher: »Hast du erst für ihn gearbeitet, und dann hat er dich zum Teilhaber gemacht?«

Tom ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Seine langen Beine streckte er unter den Tisch, wodurch sie meine kurz berührten. Er zog sie sofort zurück und schob ein »Sorry« hinterher. Ich winkte ab.

»Also, Jens …«, besann er sich auf meine Frage, »der ist wirklich schwer in Ordnung, du lernst ihn ja vermutlich noch kennen. Ich habe in der Tat erst einige Zeit als Angestellter hier gearbeitet.« Tom zögerte, strich sich erneut durch sein Haar, und ich bemerkte, dass ich feuchte Handflächen bekam bei der Vorstellung, Jens bald kennenzulernen.

Tom fuhr fort: »Ohne ihn wäre ich wohl nicht zur Meisterschule gegangen oder hätte überhaupt die Ausbildung gemacht. Offiziell Teilhaber bin ich noch nicht so lange. Jens hat mich allerdings schon vorher viel entscheiden und das neue Branding entwickeln lassen. Aber nun zurück zum Bier.« Er zeigte auf das erste Glas. »Das ist unser Haustrunk. Ursprünglich wurde ein Haustrunk für die Angestellten gebraut, aber wir haben daraus einfach eine Marke gemacht. Ein schnörkelloses Bier. Einfach, gut, aber nicht jedermanns oder jedefraus Geschmack.«

Ich griff zum Glas, auch wenn ich lieber weiter über Jens Martens geredet hätte, und probierte, konnte dabei leider nicht verhindern, dass sich meine Nase kräuselte.

Tom verzog entsetzt das Gesicht. Nur seine Augen funkelten amüsiert, als er sich mit beiden Händen an die Brust fasste, um zu untermauern, wie sehr ihn meine Reaktion entsetzte.

»Ich bin einfach keine Biertrinkerin, aber ich werde es ganz fabelhaft verkaufen können. Versprochen.«

»Na ja, das ist keine Voraussetzung für den Job. Es trifft mich nur persönlich.«

»Tut mir leid«, sagte ich in entschuldigendem Tonfall.

»War nur Spaß. Hier, probiere das, das könntest du mögen – unser Goldenes.«

»Das habe ich heute auf jeden Fall häufig gezapft.« Ich trank einen Schluck. Dieses Bier war weniger kräftig.

»Schon besser «, bestätigte ich, woraufhin Tom die Augen verdrehte.

»Schon besser«, imitierte er mich. »Okay, dann kann nur noch dieses hier meine Bierbrauerehre retten.« Er hielt mir ein weiteres Glas hin. »Das ist eines unserer Bio-Biere, es ist meine ganz eigene Rezeptur mit einer der eben erwähnten neuen Hopfensorten.«

Ich trank wieder einen Schluck. Es war leichter, frisch. »Hm, das schmeckt gut, und da ist keine zusätzliche Zitrone drin?«

Tom lehnte sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sein Shirt rutschte dabei ein wenig hoch und gab ein Stück seines Bauches frei. Seine Haut war dort genauso gebräunt wie im Gesicht, und wenn mich nicht alles täuschte, blitzte ein Streifen eines Sixpacks hervor. Ich zwang mich, in seine Augen zu sehen. In meinem Magen befanden sich lediglich die Waffel und der Smoothie, da stiegen mir wohl selbst die wenigen Schlucke Bier zu Kopf.

»Nope, lediglich Zitronenhopfen.«

»Also das, was du als Drittes hinzufügst?«

»Hey, du hast aufgepasst. Genau.«

»Wo wächst Hopfen eigentlich? An einem Strauch oder an Halmen wie Getreide?«

»Warte, ich zeige es dir. Die meisten Hopfengärten befinden sich in Bayern. Falls du da schon mal warst, hast du bestimmt welche gesehen und wusstest nur nicht, was es ist.«

Tom holte sein Handy hervor und hielt es mir kurz darauf hin. Ich betrachtete das Bild. Lange dünne Ranken schlängelten sich meterhoch. »Sieht ein bisschen aus wie die Weinranken an Häusern.«

Tom nahm das Handy wieder an sich und schaltete dabei den Sperrbildschirm ein. Ein Foto von ihm auf einem Surfbrett wurde sichtbar.

»Du surfst?« Ich deutete auf sein Telefon.

»Ja, surfen, kiten – alles, was mit Wasser zu tun hat. Aline, tut mir leid, ich würde gern noch länger mit dir hier sitzen, aber gleich habe ich noch eine Führung durch die Brauerei.«

Ich erhob mich, nahm mein leeres Smoothie-Glas und die Broschüre. »Kein Problem, vielen Dank für die Einführung ins Bierbrauen.«

Tom erhob sich ebenfalls und griff nach dem Tablett. »Es war mir ein Vergnügen.«

»Ist das nicht ganz schön viel, wenn du tagsüber Bier braust und abends Führungen gibst?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass in seinem Gesicht durchaus Zeichen von Erschöpfung zu erkennen waren, in den Momenten, wenn er nicht dieses sorglose Lachen aufgelegt hatte.

»Schon, obwohl ich es gern mache. Aber wenn Jens da ist, übernimmt der für gewöhnlich die Führungen. Das kann er sowieso besser als ich.«

»Mir hat deine Führung gefallen.«

Wir gingen durch die Halle bis zu der Tür, die zur Treppe in den ersten Stock führte. Für einige Sekunden standen wir uns gegenüber. »Nochmals danke, und dir noch einen schönen Abend«, sagte ich schließlich.

»Dir auch, Aline.« Kurz wirkte es, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann wandte er sich ab und ging in die Bar.

Erst als ich nach einer Dusche erschöpft im Bett lag und dem Regen lauschte, der mittlerweile auf das Dach prasselte, merkte ich, wie sehr mich der Tag angestrengt hatte. Ich war es nicht mehr gewohnt, den ganzen Tag unter Menschen zu sein. Auch wenn alle nett gewesen waren, durfte ich meinen Fokus nicht aus den Augen verlieren. Ich blickte zum Foto meiner Mutter. »Wenn ich dich doch nur fragen könnte, was in dem Sommer vor meiner Geburt passiert ist …«